RAWSIDE

Foto© by Lars Eggers

Die Therapiestunde ist vorbei

„Menschenfresser“ heißt das neue Album von RAWSIDE. Fünf Jahre nach dem wahrscheinlich persönlichsten Album „Your Life Gets Crushed“ gibt es neue Songs der Hardcore-Punks aus Coburg. Songs, die wieder politischer, wütender und angriffslustiger sind. Das liegt vor allem daran, dass die Zeiten sind, wie sie sind, und dass Sänger Michael „Henne“ Henneberger einen Riesenhaufen persönlicher Probleme aus dem Weg geräumt hat. Vor zehn Jahren war der RAWSIDE-Frontmann mit einer nicht geringen Menge Methamphetamin festgenommen und zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Den Knast hat Henne längst hinter sich und auch die jahrelange Drogensucht überwunden. Deshalb haben RAWSIDE jetzt wieder die politischen Gegner und die Probleme unserer Zeit ins Visier genommen, wie uns Henne und sein Sohn Justin erzählen.

Vergangenes Jahr stand für RAWSIDE das dreißigjährige Bühnenjubiläum an. Habt ihr das gefeiert?

Henne: Nicht wirklich. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen, weil wir mit unserem neuen Album ziemlich viel zu tun hatten. Zum anderen ist es eigentlich nur ein dreißigjähriges Bühnenjubiläum für mich. Justin, unser Schlagzeuger, ist gerade mal 23 Jahre alt. Unser Gitarrist Ehrl ist einer, der früher schon mit mir auf der Bühne stand. Simon und Schorsch überhaupt nicht. Deshalb wäre es auch komisch gewesen, dieses Jubiläum mit der kompletten Band zu feiern, wie das viele andere Bands machen. Dreißig Jahre ist mich natürlich schon ein Meilenstein, aber es gab auch immer wieder Breaks. Ich kann nicht behaupten, dass ich dreißig Jahre lang durchgehend am Start war, deshalb haben wir dieses Jubiläum für uns als nicht so wichtig erachtet.

Fünf Jahre sind seit dem letzten Album „Your Life Gets Crushed“ vergangen. Was ist seitdem passiert?
Henne: „Your Life Gets Crushed“ war vor allem eine Aufarbeitung meiner ganz persönlichen Erlebnisse. Knast, Therapie und so weiter Nach der Scheibe haben wir uns erst mal Gedanken gemacht, wo die Reise hingehen soll. Wir haben uns keinen konkreten Plan gemacht, vielmehr sind die Songs aus dem Bauch herausgesprudelt. Auf den Punkt gebracht: Die Therapiestunde ist vorbei. Die neue Platte behandelt zwar auch wieder sehr persönliche Themen, lässt aber auch wieder mehr die Wut raus und verarbeitet Eindrücke, die auf mich einprasseln. All die Spalterei, aber auch was szeneintern so passiert. Welche konfusen Gedanken Menschen in unserem Umfeld haben, von denen man früher gedacht hat, man wäre auf einer Wellenlänge. Da hat sich für mich sehr viel Erschreckendes aufgetan. In der Corona-Zeit habe ich in einem Pflegeheim gearbeitet, mache ich auch immer noch, da habe ich auch einiges erlebt. Aber wie sich die Szene von Jahr zu Jahr entwickelt, da komme ich bei manchen Gedankensprüngen nicht mehr mit. Ich bin ein Mensch, der gerne diskutiert, aber bei manchen Sätzen, die da fallen, wird es wirklich schwierig.

Diese Erfahrung hat, denke ich, jeder gemacht. Also dass man in der Corona-Zeit Leute aus seinem Freundeskreis entfernen musste.
Henne: Die meisten Leute haben sich selbst entfernt. Das ist auch schon ein Statement. Irgendwas ist in dieser Zeit kaputtgegangen. Manchmal habe ich mich gefühlt wie ein Elefant im Porzellanladen. Man konnte die Scherben gar nicht so schnell aufkehren, da gab es schon wieder neue Bruchstücke. Da waren Leute aus meinem näheren Umfeld dabei, bei denen ich gedacht habe: Oh nein, ich muss gleich wieder mit voller Schutzmontur arbeiten, ich habe auf deine Sprüche überhaupt keine Lust. Ihr dürft alle eure Meinung sagen, vielleicht werdet ihr es irgendwann einsehen, aber ich habe für solche Gedanken einfach keine Zeit. Das hat sich nach Corona mal kurz gebessert, würde ich sagen. Aber auch nur kurz, weil es da draußen so viele Spielplätze gibt. Scheinbar ist es für viele schon eine Art Battle, sich den dreckigsten Spielplatz zu suchen. Da wird dann gespielt, solange es geht. So kommt es mir manchmal vor.

„Menschenfresser“ heißt euer neues Album, wie der bekannte Song von Rio Reiser. Wen meint ihr mit Menschenfressern?
Henne: Nicht den Kannibalismus zwischen Mensch und Mensch. Uns geht es eher um emotionalen Kannibalismus. Um den psychischen Druck, der ausgeübt wird. Wie sich Menschen verhalten, wenn sie versuchen, sich ihren eigenen Vorteil zu verschaffen. Oder Menschen, die denken, sie wären der Mittelpunkt der Welt. Wenn nur noch die Ellbogen ausgepackt werden. Das ist die Definition von Menschenfresser, die wir meinen. Hier ist die Szene leider auch wieder ein Spiegel der Gesellschaft. Da gibt es das alles auch. Wir tun immer so, als wären wir etwas Besonderes. Als ob wir besser wären als all die Spießer da draußen. Da bin ich skeptisch.

Ihr kommt aus Coburg. Gleich im Nachbarlandkreis Sonneberg regiert die AfD. Seit August 2024 ist Robert Sesselmann als Landrat im Amt. Hat sich seitdem etwas verändert?
Henne: Bei uns im Pflegeheim arbeiten auch Kollegen aus Sonneberg und Umgebung. Die Grundstimmung, die diese Menschen nach Coburg mitbringen, ist schon eine andere. Wobei es in Coburg ähnlich ist. Wenn wir ehrlich sind, ist das nicht nur ein Problem von Sonneberg, und wir in Coburg sind alle cool. Ganz im Gegenteil: Ich war bei der Demo in Sonneberg, als Sesselmann gewählt wurde, und da hat eine Grüne aus Thüringen gesprochen. Da ist mir fast die Pizza aus dem Gesicht gefallen. Sie meinte: „Schaut doch mal nach Coburg. Dort wird man überall freundlich begrüßt. Hier in Thüringen haben wir keine Willkommenskultur. Die Menschen kommen zu uns und wir sind immer schlecht gelaunt, egal, wo sie herkommen.“ Diese Aussage fand ich sehr diskutabel. Ich habe festgestellt, dass sich die Radikalisierung des rechten Gedankenguts immer weiter ausbreitet. Das endet aber nicht an der Landkreisgrenze zwischen Sonneberg und Coburg. Das gibt es genauso bei uns auch. Hör dir mal an, wie die Leute hier zum Teil miteinander reden.
Justin: Ich arbeite als Tätowierer und erlebe das immer wieder. Neulich war ein junges Pärchen bei mir, denen habe ich ein kleines Tattoo gestochen. Mit denen habe ich mich gut verstanden, danach habe ich aber einen Kommentar von denen auf Instagram gelesen, in dem sie ein AfD-Verbot vehement ablehnen. Damit hätte ich nie gerechnet. In Coburg hört man ganz oft Sprüche wie: „Die AfD würde ich normalerweise nicht wählen, aber irgendwas muss jetzt schon passieren.“

Ist das auch im Alltag spürbar? Hat sich da etwas verändert?
Henne: Ich höre viele Leute, die Dinge sagen wie: „Es ist genug, die müssen jetzt weg. Die AfD packt das eben an.“ Oder: „Ich traue mich gar nicht mehr in den Bus, weil da sitzen schon fünf oder sechs von denen.“ Solche Sprüche hört man immer öfter. Viele nehmen inzwischen kein Blatt mehr vor den Mund und fühlen sich von der AfD in ihrer Meinung bestärkt. Die fühlen sich jetzt auch dazu berechtigt, solche Äußerungen zu tätigen, ohne sich dafür schämen zu müssen. Die schlucken ihre Nazi-Sprüche eben nicht mehr herunter. Das hat sich in meinen Augen schon verändert. Außerdem kommt jetzt noch die Krise im Nahen Osten zwischen Israel und Palästina dazu, das liefert noch mal mehr Zündstoff. Dadurch kommen jetzt auch noch antisemitische Sprüche dazu.

Lasst uns mal über den Sound reden. Mit dem letzten Album habt ihr RAWSIDE ein Update verpasst. Fast schon in Richtung Metalcore. Kommen inzwischen mehr Metalheads zu euren Shows?
Henne: Wir hatten früher schon viele Metalheads im Publikum, als wir noch puren Hardcore-Punk gemacht haben. Es kommt seit „Your Life Gets Crushed“ immer häufiger vor, dass sich Leute zu unseren Shows verirren, die früher nicht gekommen wären, weil wir ihnen zu punkig waren. Das ist aber von uns nicht so geplant. Wir sind das neue Album angegangen wie immer. Wir sind in den Proberaum gegangen und hatten einfach Bock zu spielen. Dann hat sich Musik entwickelt, zu der ich oder Justin etwas getextet haben, und irgendwann waren die Songs fertig. Es steckt kein Masterplan dahinter. Wir machen uns keine Gedanken darüber, ob wir mehr nach Metal, Hardcore oder Punk klingen. Wir haben auch keinen Produzenten, der uns eine Richtung vorgibt. Das kommt alles aus dem Bauch heraus. Ich verstehe auch Leute, denen unser Sound inzwischen zu Metal-lastig ist. Das ist auch okay für mich. Ich finde aktuell eben diesen Sound geil und das ist das Wichtigste an Musik. Wir müssen unseren Sound doch selbst geil finden, wie soll ich sonst damit auf die Bühne gehen? Es wäre abgesehen davon auch Wahnsinn, die gleiche Musik wie 1996 bei „Police Terror“ oder 2004 bei „Outlaw“ zu machen. Darauf hätte ich keine Lust. Wenn sich ein Song für uns gut anfühlt und Spaß macht, wird er so veröffentlicht.

Die Geschichte von RAWSIDE ist auch eine von unzähligen Besetzungswechseln. Seit dem letzten Album hat sich aber nichts mehr verändert. Habt ihr jetzt eine stabile Formation gefunden?
Henne: RAWSIDE sind zum Glück keine One-Man-Show. Das waren wir nie und wollen wir auch nicht sein. Ich bin auch musikalisch, abgesehen vom Singen, echt scheiße. Ich kann weder Gitarre noch Schlagzeug spielen. Ich bin also auf die Musiker in meiner Band angewiesen. Das macht mir auch riesigen Spaß, denn die unterschiedlichen Musiker bringen auch immer wieder unterschiedliche Einflüsse mit in die Band. Justin hört zum Beispiel völlig andere Sachen als ich und spielt einen sehr jugendlichen Stil. Das gibt RAWSIDE noch mal einen ganz anderen Anstrich. Das macht einfach Bock. Die Jahre seit der Neugründung nach dem Knast möchte ich nicht missen. In meinen Drogenjahren hätte ich manche Dinge bestimmt nicht mitgemacht. Damals hätte ich ganz anders darauf reagiert. Und jetzt bin ich jemand, der reflektiert, sich selbst einbremsen und sagen kann: Wir haben verschiedene Meinungen, aber wir finden einen Kompromiss. Der rote Faden bei uns ist RAWSIDE. Der musste sich allerdings auch erst zu einem stabilen Faden zusammenzwirbeln. Anfangs war die Formation auch noch ein dünnes Fädchen, weil nicht mal ich wusste, ob ich das überhaupt leisten kann. Ich musste Musik erst wieder neu lernen und mich intensiv auf neue Leute einlassen. Dieses Zusammenspiel ist aber inzwischen zu einer guten Einheit geworden.

„Menschenfresser“ erscheint bei Fettfleck Records, dem bandeigenen Label von LOIKAEMIE, und nicht mehr bei Aggressive Punk Produktionen. Warum der Wechsel?
Henne: Das war ein lange und gut überlegter Wechsel. Für uns war das Angebot von Fettfleck eine Chance, die wir als Musiker nicht noch einmal bekommen. Für uns war es ein Schritt in Richtung Selbstverantwortung. Nichts gegen Aggropunk, aber wir haben bei Matze unser Tape abgegeben und hatten ab dem Tag relativ wenig mit der Scheibe zu tun. Bei Fettfleck sind wir jetzt in alle Prozesse eingebunden. Und das ist doch die Idee, die hinter dem ganzen Punk- und Hardcore-Gedanken steckt. Das ist die Philosophie, die wir leben wollen, auch wenn wir jetzt alte Säcke sind. Bis auf Justin vielleicht, haha. Sachen selbst zu verantworten und dafür auch den Arsch hinhalten zu müssen, ist genau der Grund für den Wechsel zu Fettfleck. Deshalb ist dieses Label für uns genau der richtige Partner. Ich betrachte das als Riesenchance und ich bin sehr dankbar, dass ich das noch erleben darf. Das ist eine total verrückte Reise und gibt uns unheimlich viel. Wir freuen uns, wir ärgern uns, wir lieben es, wir hassen es. Es ist ein totales Wechselspiel der Gefühle, aber es ist unser Baby. Geile Geschichte einfach.

Ein Teil der Songs hat deutsche Texte, andere Songs sind auf Englisch. Wie entscheidet ihr, welche Sprache ihr wählt?
Justin: Ich habe die meisten englischen Texte geschrieben und Henne die meisten deutschen Songs. Wir hatten beide ein Päckchen mit Texten in der Tasche, die wir dann an die Songs angepasst haben. Teilweise haben wir das noch geändert oder hin- und hergeschoben. Es gab also auch da keinen Masterplan, welcher Song deutsch und welcher Song englisch werden soll. Wir haben das so gemacht, wie es eben gepasst hat.
Henne: Wenn ich die Musik höre, bastle ich mir ein Bild im Kopf zusammen, wohin die Reise geht. Ob der Song dann englisch oder deutsch wird, ist immer eine Gefühlssache. Und meistens war die Entscheidung dann auch die Richtige.

Der Text von „Verboten in Deutschland“ deckt sich mit dem rechtem Narrativ von der grünen Verbotspartei. Habt ihr keine Angst vor Applaus von den falschen Leuten? Das ist TON STEINE SCHERBEN auch passiert.
Henne: Angst habe ich nicht davor, ich werde diesen Leuten meine Antwort einfach ins Gesicht brüllen. Dass ich ihren Applaus weder will noch ihnen zustimme. Es ist der älteste Song auf dem Album. Der ist sogar noch vor Corona entstanden, also noch vor der Ampelregierung. Der Text ist so aus mir herausgesprudelt. Mir ging es darum, wie man Deutschland vom Ausland aus betrachtet. Da geht es vor allem um die Schilderwut und die unzähligen Verhaltensregeln im Alltag. Das hat mich damals aufgewühlt. Ich gehe manchmal mit offenen Augen durch die Stadt und denke mir: Da ist schon wieder ein Schild. Das gibt’s doch gar nicht. Natürlich muss man aufpassen, wen man mit seinen Texten anspricht, aber ich glaube, wir können uns ganz gut dagegen wehren. Wer uns kennt, weiß, dass wir nicht auf so einen Zug aufspringen und so eine Klientel bedienen wollen. Das ist eher ein Text, der aus unserem jugendlichen Leichtsinn heraus entstanden ist.

Das Elend von Bootsflüchtlingen greift ihr im Song „Auf der Flucht“ auf. Habt ihr einen persönlichen Bezug dazu?
Henne: Es gibt unzählige Probleme auf der Welt. Nur weil es jetzt viele neue Probleme gibt, heißt das nicht, dass wir dieses Problem vergessen dürfen. Wir haben inzwischen fast alle selbst Kinder. Stell dir mal vor, dein Kind ertrinkt bei der Flucht im Mittelmeer und wird am Strand angespült. Das ist schon ein Thema, das mich als Mensch berührt. Da muss ich nicht lange nachdenken und dieser Song ist auch durch das Bild des dreijährigen Ailan aus Syrien entstanden, der am Strand des türkischen Badeorts Bodrum tot angeschwemmt wurde. Ich habe mit Justin auch schon viel mitgemacht, aber so eine Situation kann sich keiner vorstellen. Was das mit dir als Vater oder Mutter macht. Das reißt dich in zwei Hälften. Einen Song darüber zu schreiben, war für mich die einzige Möglichkeit, mir da ein Ventil zu verschaffen. Es ist einfach wichtig, Organisationen zu unterstützen, die Menschen auf der Flucht helfen. Vereine wie Sea Punks e.V. Jeder, der nur ein bisschen Herz im Leib hat, sollte mithelfen, dass keiner zurückgelassen wird. Man darf Menschen einfach nicht ertrinken lassen.

Ähnlich persönlich ist der Song „Zu Grabe getragen“. Da geht es um den Verlust von Freunden oder Verwandten, oder?
Henne: Wir sind inzwischen in dem Alter, in dem auch die eine oder andere unvorhergesehene Krankheit zuschlägt oder der körperliche Zustand seinen Tribut fordert. Dazu kommen auch Fälle von Suizid. Das habe ich in meinem engsten Umfeld alles schon erlebt. Dass Menschen allein dastehen und sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als sich selbst von dieser Last zu befreien. Mir ist es wichtig zu betonen, dass niemand eine Last ist. Auch wenn er noch so schwer erkrankt ist oder keinen einfachen Lebensweg hatte. Man sollte zumindest zuhören, das kann manchmal schon viel Kraft geben. Es ist ein sehr persönliches Thema, weil ich inzwischen häufiger Beerdigungen besuche als Hochzeiten. Das ist leider so. Das musste ich mit dem Song einfach aufarbeiten.

Soziale Medien stehen in „Medioten“ im Fokus. Da stecken wir alle in einem Dilemma. Wir schimpfen darüber, nutzen sie aber selbst.
Henne: Das stimmt. Mir geht es darum, dass es da eine Grenze gibt. In meinem Alter hält man diese Grenze gerade noch ein, die jüngere Generation schafft das nicht mehr. Ich kenne viele Leute, die Dinge posten, die nicht okay sind. Darum geht es mir. Seine eigene Beliebtheit auf Kosten des Leids von anderen zu steigern, finde ich widerlich. Es gibt Menschen da draußen, die Fotos von Unfällen machen und die dann in den sozialen Medien posten. Das ist sogar oft noch nicht mal eine Frage des Alters.