Der 1953 in Florida geborene, aber in Cleveland, Ohio aufgewachsene David Thomas, – seit Mitte der Achtziger lebt er in England –, ist eine dieser legendären Musikergestalten des Undergrounds der Siebziger, von denen es inzwischen nicht mehr viele gibt. Nach der kurzlebigen Proto-Punk-Band ROCKET FROM THE TOMBS gründete Thomas Mitte der Siebziger die Avantgarderock-Band PERE UBU, deren Sound bis heute ziemlich unvergleichlich geblieben ist und die 2017 mit „20 Years In A Montana Missile Silo“ ein neues Album veröffentlichten. Im Folgenden lässt Thomas fünf für ihn essentielle Ubu-Veröffentlichungen Revue passieren.
„The Hearpen Singles“
(4 x 7“, Tim/Kerr Records, 1995)
Das ist eine Zusammenstellung von vier Singles, die wir zwischen 1975 und 1977 aufgenommen haben. Sie erhält die Bezeichnung „essentiell“ – noch vor den beiden Alben „The Modern Dance“ und „Dub Housing“ aus dem Jahr 1978 –, weil sie der Ausgangspunkt für alles weitere ist. Jede der Singles deutet eine einzigartige und spezifische Richtung an, die die Band hätte einschlagen können. Die Botschaft lautete, dass die Band weder stilistisch gebunden war, noch sich auf irgendeine Weise limitieren würde. Alle Stücke wurden innerhalb von drei Stunden aufgenommen, denn Studiozeit war damals teuer. Wir arbeiteten in einem hochmodernen Studio mit dem besten Toningenieur in diesem Bereich – einem mehrfach mit goldenen Schallplatten ausgezeichneten Typen namens Ken Hamann. Wir hatten keinerlei Studioerfahrung und zweifelten oft selbst an unseren Fähigkeiten. Waren Melodie und Takt der Stücke wirklich in Einklang? War die Aufnahme gut genug? Waren wir als Musiker gut genug? „Das Einzige, worauf es ankommt“, sagte Hamann uns damals, „ist, ob die Aufnahme Leidenschaft und Weitblick besitzt. Und das tut sie. Also pfuscht nicht daran herum.“ Das war entweder der beste Rat, den wir jemals bekommen haben, oder der schlechteste.
„New Picnic Time“
(LP, Chrysalis, 1979)
Obwohl „The Modern Dance“ und „Dub Housing“ als unsere Meisterwerke aus dieser Zeit gelten und wohl auch eine größere Bedeutung besitzen, ist dies Ubus unwiderstehlichstes Album. Dafür, dass es in Amerika nie veröffentlicht wurde und von der Plattenfirma und einigen Kritikern als zu seltsam, zu pseudokünstlerisch oder zu schwierig abgelehnt wurde, hat es sich bemerkenswert gut gehalten. Für die vor kurzem erschienene Neuveröffentlichung von Fire Records übertrugen Tontechniker Paul Hamann (Ken Hamanns Sohn) und ich die ursprünglichen 2-Spur-Aufnahmen mit der höchstmöglichen Klangqualität, die uns zur Verfügung stand, und restaurierten den Sound. Der Regieraum des damaligen Tonstudios war seinerzeit gerade erst umgebaut worden und es gab Verzerrungen, die die ursprüngliche Abmischung des Sounds ruinierten. Das konnten wir korrigieren. Es war ein Moment der Ehrenrettung, nachdem ich jahrelang die Bürde des vermeintlichen Scheiterns mit mir herumgeschleppt hatte. Es ist immer noch ein schwieriges Album, aber es sollte auch ein schwieriges Album werden. Es ist auf eine Art und Weise erfolgreich, an die unsere „zugänglicheren“ Alben nicht heranreichen.
„Cloudland“
(LP, Fontana, 1989)
Auch hier handelt es sich um ein Album, das nicht jedem Ubu-Fan gefallen wird, aber das essentiell ist, um zu verstehen, dass PERE UBU eigentlich eine Pop-Band sind, fest in der Pop-Geschichte verankert und bestens mit ihr vertraut. Wir mögen Garagerock und wir mögen abstrakte Song-Konstruktionen gleichermaßen. Mit diesem Album hatten wir die Möglichkeit, in High-End-Digitalstudios zu arbeiten und hatten dabei verschwenderisch viel Zeit zur Verfügung. Unter der Leitung von äußerst erfolgreichen Popmusik-Produzenten, die in ihrer Jugend bereits große Ubu-Fans waren. Tatsächlich hatten diese Jungs wahnsinnige Angst davor, es zu vermasseln und dafür verantwortlich gemacht zu werden, dass sie PERE UBU „ruiniert“ hätten. Ich habe es jedenfalls genossen, mir die Band auf eine andere Art und Weise vorzustellen. Und zudem gibt es viele gute Songs auf dem Album.
„Ray Gun Suitcase“
(CD, Tim/Kerr Records, 1995)
Die drei Alben aus dieser Zeit – „Ray Gun Suitcase“, „Pennsylvania“ und „St. Arkansas“ – wurden als ein erweiterter Liedzyklus konzipiert. Wenn ich mich für das essentielle Album dieses Trios entscheiden müsste, dann wäre es zweifellos „Ray Gun Suitcase“, wegen seiner erfolgreich umgesetzten ehrgeizigen Ziele. Nach dem Ende unserer Erfahrung mit Fontana befand sich die Band in einem gespaltenen Zustand. Selbstzweifel frassen fast jeden auf. Ich hatte viele Gespräche, in denen ich die Leute erst einmal beruhigen musste. Jedes Gespräch beendete ich mit: „Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue.“ Wenn mich jemand gefragt hätte, was der Plan sei – was aber niemand tat –, hätte ich zugeben müssen: „Ich denke mir was aus, während wir weitermachen.“ Dies ist das erste Album, bei dem ich die Produktion übernommen habe. Es ist der Beginn einer jahrzehntelangen Suche nach einer anderen Produktionsmethode für jedes neue Album. Paul Hamann und ich haben eine Zeitlang darüber geredet. Er machte sich dann daran, eine Vielzahl von Geräten für eine extrem natürliche Aufnahmetechnik zu entwerfen und zu bauen, die herkömmliche Mikrofone ersetzen sollten. Wir haben sogar versucht, aus einer Tür ein Mikrofon zu machen, aber das hat nicht so gut geklappt.
„20 Years In A Montana Missile Silo“
(CD, Cherry Red, 2017)
Bei Ubu ist das neueste Album immer unverzichtbar. Bei Ubu gibt es kein festes Ziel, alles befindet sich in einem unfertigen Zustand. Es ist keine schrittweise Verfeinerung eines festgeschriebenen Wunschbildes. Wie schon ein Bandmitglied sagte: „Sobald es für uns zu gemütlich wird, beschert uns David eine unangenehme Überraschung.“ Für dieses Album wurde der sogenannte Dark Room eingeführt. Die Idee dabei ist, eine Gruppe von Musikern in einen stockdunklen Raum zu stecken und ihnen zu sagen, dass sie ein Objekt durch Berührung beschreiben sollen, aber nur einen bestimmten Teil davon. Dem Ganzen liegt das Gleichnis „Die blinden Männer und der Elefant“ zugrunde. Jeder untersucht einen anderen Körperteil, einer den Rumpf, ein anderer den Schwanz, ein anderer das Ohr usw. Jeder entwickelt eine Vorstellung davon, was das Lied oder der Klang bedeutet – und diese Ideen stehen oft im Widerspruch. Nur ich kenne das Gesamtbild, und es ist meine Aufgabe, alles zu dirigieren und oft uneinheitliche Ansichten zu einem schlüssigen Ganzen und einer zusammenhängenden Erzählung zu verweben.
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