PARADISE LOST

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Neue Sichtweisen

Wie viele andere Bands aktuell haben auch PARADISE LOST während der Pandemie ein Streaming-Konzert gespielt. Dieses erscheint nun unter dem Namen „At The Mill“ nachträglich auch in physischer Form. Wir sprechen mit Gitarrist Greg Mackintosh über die Eindrücke, die dieses Projekt bei der englischen Band hinterlassen hat.

Anfangen würde ich gerne mit dem letzten Album „Obsidian“. Das habt ihr mitten in der Pandemie herausgebracht. Wie wurde es angenommen? Eine Publikumsreaktion gab es ja nur über das Internet.

Das war eine komische Erfahrung. Niemand hatte bisher ein Album in solch einer Situation veröffentlicht. Normalerweise sehen wir live immer, wie etwas ankommt. Interessanterweise bekamen wir dieses Mal aber so viel Feedback wie nie zuvor. Jeder hat sich online ausgelassen. Wir konnten alles sehen. Aus meiner Sicht war es seit Jahren das erste Album, das so groß besprochen wurde. Es gab Unmengen an schriftlichen Reviews, aber auch in Video-Form. Man kam fast nicht mehr hinterher. Und die Reaktionen waren alle super positiv, was uns natürlich gefreut hat. Aber es ist tatsächlich komisch. Wir haben noch nicht einmal unsere Release-Show, die wir laut Vertrag spielen müssen, veranstaltet. Die wird nächsten Februar stattfinden, anderthalb Jahre nach Albumveröffentlichung.

Um die Brücke zu „At The Mill“ zu schlagen: Dabei habt ihr die ersten drei Singles gespielt. Warum habt ihr genau diese gewählt? Einfach, weil das die drei bekanntesten Stücke des Albums waren?
Genau, das ist offensichtlich. Zu diesen Liedern hatten wir vor der Veröffentlichung Videos gedreht. Außerdem repräsentieren die drei Nummern gut die verschiedenen Aspekte des Albums. Die Gothic-angehauchten Midtempo-Lieder, die doomigen und entspannteren. Sie haben sich darüber hinaus sehr gut ins Set eingefügt. Das Ganze war jedoch nervenaufreibend. Wir hatten die Idee, die Aufnahmen in einer Art Lounge-Umgebung stattfinden zu lassen. Wir wollten nicht so tun, als gäbe es ein Publikum. Das hat es jedoch schwieriger gemacht. Bis auf Kamera – und Soundmann waren wir die einzigen Personen im Raum.

Hat es sich also wie eine aufgenommene Probe angefühlt?
Ja, könnte man so sagen. Der einzige Unterschied war, dass wir vorher schon ein paar Drinks zu uns genommen hatten. Das machen wir normal nicht vor Proben. Wir wollten es relativ relaxt angehen lassen, haben uns vorher um Video-Einstellungen und den Sound gekümmert, so dass sich das Ergebnis qualitativ hochwertig anfühlt.

„At The Mill“ klingt sehr direkt und hart. War das von vornherein so beabsichtigt?
Wir haben in unserem gewohnten Umfeld aufgenommen. Wir wollten nicht, dass es sich überproduziert anfühlt. Es haben sich zum Beispiel ein paar Leute über den Klang der Snare beschwert. Uns war aber klar, dass es nicht perfekt klingen wird. Es ist eben eine Proberaumsituation, da benutzen wir keine Samples oder Trigger. Die Aufnahmen wurden von unserem Live-Soundmann betreut, es sollte nicht aufpoliert wirken. Die Zwischentöne, das Pfeifen und Rauschen sollten zu hören sein. Deshalb haben wir es so gemacht.

Die Setlist des Gigs scheint mir nicht die übliche von PARADISE LOST. Wie habt ihr die Nummern ausgewählt?
Aus unserer Sicht mussten wir keine Crowdpleaser spielen, weil eben kein Publikum da war. Wir konnten ein Set spielen, das sich mehr bewegt. Songs, die vielleicht wesentlich härter, und dann aber auch welche, die ruhiger sind, als die die wir normal auf einem Festival aufführen würden. Durch das Format konnten wir uns hier ein bisschen austoben, wir mussten nicht dieser oder jener Gruppe im Publikum gefallen. Es fühlte sich so an, als könnten wir einfach die besten Lieder unserer Karriere auswählen.

Habt ihr daraus etwas gelernt? Ich persönlich brauche zum Beispiel kein „Just say words“ in eurer Setlist.
Verstehe ich. Es hat mich sehr überrascht, dass das Feedback auf die Setlist so gut war. Alle haben die Auswahl gelobt und wollten, dass wir diese Zusammenstellung auch live bringen. Hätten wir gewusst, dass das so einen Anklang findet, hätten wir es natürlich schon vorher gebracht. Es war also eine Art Augenöffner. Live kann man sich immer nur nach den Reaktionen des anwesenden Publikums richten.

Um ehrlich zu sein, verstehe ich manche Menschen auch nicht, die auf einem PARADISE LOST-Konzert rhythmisch klatschen oder springen möchten. Ihr seid nicht COLDPLAY oder U2 ...
Genau! Auch unser Sänger Nick meinte einige Zeit später, dass wir die Songs einfach zukünftig aus der Setlist rauslassen sollten. Wir alle waren seit vielen Jahren der Meinung, aber es war wie eine unausgesprochene Abmachung, dass du diese Nummern spielen musst. Es hat ein Event wie dieses benötigt, um festzustellen, dass wir es auch anders handhaben können.

War es gleich klar, dass ihr den Stream später noch einmal recyclet und als physisches Produkt veröffentlicht?
Nein, darüber haben wir damals gar nicht gesprochen. Zumindest nicht innerhalb der Band – ich weiß natürlich nicht, über was sich Plattenfirmen und Management so unterhalten. Hätte ich davon gewusst, wäre ich wahrscheinlich noch viel nervöser gewesen. Aber ich glaube, die Idee kam erst danach. Im letzten Jahr mussten sich Bands darüber Gedanken machen, wie sie in diesen Zeiten mit ihren Fans in Verbindung bleiben. Es gab nur Feedback aus dem Internet. Nachdem wir die Show gestreamt hatten, gab es vermehrt Anfragen, ob wir sie nachträglich noch veröffentlichen würden. Es fühlte sich an wie früher, als nach Live-Tapes gefragt wurde.