Ende Juni postete Nathan Gray, Sänger von BOYSETSFIRE, der momentan mit seiner Band THE IRON ROSES sehr aktiv ist, eine Social Media-Story in drei Teilen und outete sich darin als bi/pansexuell. Dieses „offizielle“ Coming-out war das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kampfes mit sich selbst. In unserem langen und sehr offenen Interview erzählt Nathan, warum er ihn führte und was der Auslöser dafür war, das nun auf diese Weise öffentlich zu machen.
Du hast dich vor ein paar Wochen auf Social Media in einer dreiteiligen Geschichte als bi/pansexuell geoutet. Ist das richtig oder war es schon einige Zeit davor?
Es war ein langer Prozess, der mich konstant begleitet hat, seit ich in meinen Zwanzigern war. Jetzt bin ich fünfzig. Der Post war eher eine Bestärkung für mich dafür, wer ich bin. In den Achtzigern gab es weitaus weniger Offenheit und Akzeptanz für Menschen, die queer waren. Auch in der Hardcore- und Punk-Szene war es schwierig. Ich glaube, ich hatte zu verschiedenen Zeitpunkten meines Lebens verschiedene Formen von Coming-outs, habe dann aber immer wieder einen Rückzieher gemacht, weil es mir einfach Angst gemacht hat. In den Achtzigern und Neunzigern hatten wir noch nicht die passenden Begrifflichkeiten wie heute – „non-binary“ oder „pansexuell“ gab es damals nicht und man konnte sich so gar nicht richtig beschreiben. Es war sehr einfach aufgeteilt in hetero, bi und schwul. Auch wenn wir heute noch große Probleme haben und viele Leute Angst haben, sich zu outen, gibt es mittlerweile viel mehr Möglichkeiten als damals. Bei mir war es ein konstanter Kampf über Jahrzehnte. Es war ein Hin und Her und ich konnte mich nicht richtig definieren.
Als ich deine drei Postings auf Social Media gelesen habe, war es für mich das erste Zeichen deines Coming-outs.
Ich bin mir sicher, dass es das für viele Leute war. Das Verrückte daran ist, dass ich vor der Zeit von Facebook und Instagram öfter Coming-outs hatte, sei es auf der Bühne oder in den frühen Zeiten von BOYSETSFIRE mit dem Song „Across five years“, in dem es um meine Beziehung mit einem Mann geht. Der angesprochene Post vor kurzem war vor allem für mich eine Beruhigung, weil ich ein Problem damit hatte zu sehen, dass Teile meiner Verwandtschaft Anti-LGBTQ-Postings auf ihren Accounts teilten – und das, obwohl sie von mir wussten. Ich habe das Gefühl, dass es vielen Leuten so geht wie mir früher, dass sie sich schämen und denken, sie müssten das hinnehmen. Mit meinem dreiteiligen Post wollte ich mich distanzieren von diesen Familienmitgliedern, die diese ekelhaften Ansagen gemacht haben. Ich dachte, wenn nicht jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, mich auf diese Weise zu outen, wann dann? Ich wollte diesem Teil meiner Verwandtschaft zeigen, dass ich ihre Postings und Likes und Smileys an den falschen Stellen wahrnehme. Viele Leute finden ja, man müsse seiner Verwandtschaft Respekt entgegenbringen. Nein, wenn sie dich nicht respektieren, dich nicht lieben, wie du bist, dich nicht lieben, wie du es verdient hast, fuck ’em! Sie verdienen überhaupt nichts. „Love the sinner, hate the sin“ bedeutet doch im Ergebnis nur „I don’t love you“. Du kannst nicht jemanden lieben und gleichzeitig sagen, dass ein Teil von ihm abstoßend oder falsch ist.
Ich war eine Zeitlang in einem staatlichen Heim, in dem es sehr gut war. Dann wurde ich allerdings in ein katholisches Internat verfrachtet, das zu einem Kloster gehörte. Bevor ich einzog, sagte mir der Direktor, dass sie mich nur dann aufnehmen, wenn ich nicht homosexuell bin. Du hast selbst Erfahrungen mit der Kirche gemacht. Wie hast du sie erlebt und welchen Einfluss hatten sie auf deine Bi- respektive Pansexualität?
Bei mir war es evangelikal geprägt, immer im Kampf gegen das „Dämonische“. Die Priester, die du im Fernsehen siehst, sind ebenso wie alle rechtsradikalen Politiker bei uns alles Evangelikale. Man könnte sagen, dass es sich einfach um eine große Sekte handelt. Ich habe dort gleich diese anti-schwule Agenda mitbekommen. Sie war immer unterschwellig spürbar, aber das Verrückte daran ist, dass sie niemals offen und laut ausgesprochen haben, dass du nicht gut genug bist, falls du schwul bist. Es hat einen aber immer unterschwellig begleitet und sie wollten das Gefühl vermitteln, „diese Leute“ seien gegen uns, also LGBTQ gegen die Kirche. Und das war für mich ein großer Konflikt. Ich habe mich in meiner Kindheit und Jugend nie sicher gefühlt, weder in meiner Kirche noch in meinem Zuhause. Ich war selbst total schockiert, als ich gemerkt habe, wie ich bin, und meine ersten Erfahrungen damit gemacht habe. Das führte dazu, dass ich mich ständig selbst beobachtet habe, wie ich eventuell nach außen wirke. Ich habe darauf geachtet, auf welche Art ich spreche und wie ich zum Beispiel meine Hände bewege. Das durfte keinesfalls feminin wirken, das wurde in der Kirche gleichgesetzt mit dem Bösen. Ich habe ständig aufgepasst, wie ich mich gebe und dass ich tief genug spreche, um diesen lächerlichen Vorstellungen, wie ein Mann zu sein hat, bloß zu entsprechen. Das war traumatisch. Es wurde immer behauptet, man wolle die Kinder schützen, damit sie „unschuldig bleiben“. Wenn man ehrlich ist, trägt so eine Atmosphäre eher dazu bei, dass Missbrauch möglich wird. Die Ignoranz, die die Evangelikalen, die Rechtsradikalen und die religiöse Rechte unter dem Deckmantel des Kinderschutzes an den Tag legen, ist eine große Gefahr für Kinder – und zwar für alle, nicht nur für die, die queer sind. Als ich als Kind in dieser Kirche war, wurde ich auch sexuell missbraucht, weil ich überhaupt keine Ahnung hatte, was da vor sich geht. Während dieser ganzen Zeit war der einzige Lichtblick ein Jugendgruppenführer, Jacob, der die Kirche inzwischen ebenfalls verlassen hat. Ich bin heute noch mit ihm und seinem Mann befreundet. Er war damals so etwas wie ein Held für mich.
Wie alt warst du zu dieser Zeit?
Als wir dort hinzogen, war ich zehn oder elf, mit 19 sind wir weggezogen und ich verließ dann auch mein Elternhaus. Um diese ganzen verrückten Zusammenhänge zu verstehen, musst du wissen, dass wir auf Kirchengrund gewohnt haben. Es gibt dort ein eigenes College und ich war in einer christlichen Schule, die von der Kirche verwaltet wurde. Ich bewegte mich zu dieser Zeit niemals außerhalb dieser Gemeinschaft. Wir lebten auf dem Kirchengelände, wir waren quasi die Kirche.
Ich kann mir gut vorstellen, dass man in dem Alter eher ausbricht und auch mit Drogen in Kontakt kommt. War das so bei dir?
Ja, es war heftig. Ich glaubte aufgrund meiner strengen Erziehung, dass ich sofort sterben muss und in die Hölle komme, sobald ich einen einzigen Drink anrühre oder mir eine Zigarette anzünde. Wenn du dann einmal Alkohol trinkst und merkst, dass das gar nicht stimmt, drehst du natürlich auf – ich war von da an im Partymodus, was bis in meine Dreißiger anhielt, als ich bei CASTING OUT spielte. Es war ein völliges Chaos. Natürlich war es das Ergebnis meiner Erziehung, des Missbrauchs und all dem Scheiß. Als wäre das nicht genug, ballerte ich mich mit Drogen und Alkohol regelrecht zu, was dem Ganzen die Krone aufsetzte. Von da an war es ein langer Prozess bis zu meinem Soloalbum „Feral Hymns“, und bis ich begriff, dass ich Hilfe brauchte, um etwas zu ändern.
Für mich warst du schon immer jemand, der permanent auf der Suche nach irgendetwas ist. Du warst und bist in hundert Bands, du warst in der „Church of Satan“, hast sie wieder verlassen, spielst solo, in Begleitung und jetzt kam gerade das „offizielle Outing“. Liege ich richtig damit?
Ja, absolut. Ich habe überall gesucht. Auch bei der „Church of Satan“, was natürlich der perfekte Akt der Rebellion war. In mir war etwas, das die Bestätigung wollte, dass ich in „das andere Team“ kommen kann, haha. Wie man gesehen hat, endete diese Zeit auch nicht so wie erhofft. Aber aus allen Erfahrungen und Experimenten, die ich gemacht habe, habe ich immer etwas mitgenommen, und das macht die Person aus, die ich heute bin.
In einem Interview von 2006 hast du auf die Frage, was an den Gerüchten dran sei, du wärst schwul, geantwortet, dass deren Ursprung wohl in experimentellen Erfahrungen in deiner Jugend liegt. Du wüsstest, wo du stehst, und könntest von dir sagen, dass du vom Typ her der klassische Mann bist, bei dem das nur eine Phase gewesen sei. Warum hast du das so gesagt?
Einfach weil ich Angst hatte. Rückblickend gab es viele Momente und Interviews in Zines, in denen ich gesagt habe, dass es stimmt, und es dann wieder als Gerücht abgetan habe. Ich weiß nicht mehr genau, mit was ich da 2006 gekämpft habe, aber es war wohl eine Zeit, in der ich auf dem Rückzug war. Für mich gab es zwei Einschnitte. Es war in den angeblich so toleranten Neunzigern, als nach einem Konzert ein Fan zu mir kam und fragte, um was es in dem Song „Across five years“ gegangen sei. Ich war endlich ehrlich und sagte es ihm – er meinte nur, das sei sehr enttäuschend, und ging weg. Es war schlimm zu sehen, wie meine Hardcore- und Punk-Community offenbarte, dass sie gar nicht so war, wie ich eigentlich dachte. Von da an wollte ich nicht mehr darüber sprechen, das ganze Trauma meiner Jugend kam wieder hoch. Das andere Ereignis war mit BOYSETSFIRE selbst. Ich wusste wie gesagt lange Zeit nicht, was los war – war ich schwul, war ich bi? Ich lebte in einem Gefühlschaos, da ich so viel Verschiedenes und Gegensätzliches erlebt hatte. Das führte eben auch zu solchen Aussagen in Interviews wie die, die du zitiert hast. Das erschütterndste Ereignis, das ich in meiner ganzen Karriere erlebt habe, war, als der damalige Drummer von BOYSETSFIRE, Matt, zu mir kam und mir ganz unverblümt sagte, ich solle bitte endlich damit aufhören, meiner selbst so unsicher zu sein. Durch meine Unsicherheit, was das angeht, wäre ich schuld, wenn die Fans uns unsere politischen Statements nicht abnehmen. Dass ich quasi nicht so sein dürfte, wie ich wirklich war, und auch nicht darüber sprechen soll. Es war einer der enttäuschendsten und schockierendsten Momente, die ich je erlebt habe – bei jemandem, von dem ich dachte, er sei ein enger Freund, auf den ich zählte.
Denkst du, du trägst nach deinem größeren medialen Outing in Zukunft auch größere Verantwortung?
Ja, auf jeden Fall. Ich fände es toll, wenn mehr Musiker oder Bands zeigen, dass sie Teil der LGBTQ-Community sind. Ich will allerdings verdammt sein, bevor ich irgendjemanden dazu auffordere, sich ebenfalls zu outen, nein. Es muss sich für die Person gut und sicher anfühlen, wenn sie so weit ist. Ich denke es ist wichtig, wenn die Leute im Publikum sehen, dass auch auf der Bühne Menschen sind, die so sind wie sie. Das gilt für alle, ob da Frauen auf der Bühne stehen, People of Color, Mitglieder der LGBTQ-Community, egal. Ich will zeigen, dass es nicht so sein muss wie damals, als ich erneut diesen Rückzieher gemacht und das Ganze als Gerücht abgetan habe. Ich will zeigen, dass man die Kraft aufbringen kann, anderen zu sagen, wer man ist. Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt und kann das endlich tun. Und andere sollen das auch tun dürfen.
Ich selbst habe Freundinnen, die bisexuell oder lesbisch sind und auch dazu stehen. Ich kenne auch Trans-Personen, die das offen aussprechen, aber keine Männer, die sagen, dass sie schwul oder bi sind. Oder etwa in der Fußballbundesliga gibt es offiziell keinen einzigen schwulen Mann. Im Punk und Hardcore finden sich ebenfalls weitaus weniger offen schwul lebende Männer, obwohl es ja viel mehr Männer in der Szene gibt. Ist es für Frauen einfach leichter, sich zu outen?
Im Sport spielt Maskulinität eine große Rolle. Für die Zuschauer ist es in ihrem kleingeistigen Denken wohl einfacher zu akzeptieren, wenn eine Frau sagt, dass sie lesbisch ist. Gerade wenn sie einen maskulin konnotierten Sport treibt. Was natürlich völliger Quatsch ist. Im Männersport ist es so, dass man keine Schwäche zeigen darf – „schwach“ wird hier gleichgesetzt mit weiblich. Und das gilt in der Folge ebenso für Schwule. Im Endeffekt ist das eine sexistische und misogyne Sichtweise. Homophobie und Misogynie hängen oftmals zusammen. Deshalb habe ich in meiner Jugend zwanghaft versucht, nicht durch ein schlaffes Handgelenk aufzufallen. Unter dieser antiquierten Kultur leiden wir bis heute und dagegen haben wir anzukämpfen – übrigens auch in unseren eher links geprägten Kreisen.
Wie nimmst du die Punk- und Hardcore-Szene wahr? Ist sie tatsächlich so inklusiv wie behauptet oder ist das doch nur Blabla?
Wenn du an die Achtziger Jahre denkst, scheint heute ein Traum wahr geworden zu sein, haha. Im Ernst, die Leute trauen sich heute viel mehr und ich denke, die Szene war noch nie so inklusiv wie jetzt. Das ist aber nur meine Erfahrung und ich kann nicht für andere sprechen. Es ist noch viel Arbeit zu tun. In der Punk- und Hardcore-Szene, in der wir uns eher als links definieren, sollten wir darüber nachdenken, was wir noch tun könnten, statt es einfach dabei zu belassen. Eigentlich beginnt das schon daheim am Esstisch. Es beginnt mit deiner Familie, mit deinen Freunden. Wenn jemand einen Witz macht, der nicht okay ist, und du sagst, dass das nicht lustig ist. Wenn du „Nein!“ sagst, ist das ein Anfang. Es gibt so viele, die groß verkünden, dass sie LGBTQ unterstützen und deren Werte teilen. Aber wenn es darum geht, dass ihr Gegenüber diesen einen Witz macht, sagen viele nicht „Nein!“. Ich nehme mich da nicht aus, wir haben viele Dinge einfach laufen lassen, obwohl sie nicht korrekt waren. Wir hatten Angst vor der Konfrontation – Angst, Freunde und Familie zu verlieren, aber die Zeiten sind jetzt vorbei. Es werden immer noch Gesetze verabschiedet, die Menschen in der LGBTQ-Community verletzen. Aufgrund des fehlenden gesellschaftlichen Widerspruchs denken die Politiker, sie könnten mit uns machen, was sie wollen. Es ist Zeit, diese Scheiße endlich zu stoppen.
Eine polnische Hardcore-Sängerin, die als Lehrerin viel mit Jugendlichen zu tun hat, hat gesagt, dass für die Jugend Punkrock und Hardcore lediglich eine archaische Kultur ist. Und dass der politische Protest, für den Punk damals stand, heute von der jungen LGBTQ-Community vertreten wird. Wie denkst du darüber?
Sie hat da ein gutes Argument. Wenn du dich umsiehst, sind überall Bands mit alten Leuten – genau wie BOYSETSFIRE. Es ist verdammt schwer, für NATHAN GREY & THE IRON ROSES Auftritte zu bekommen. Sofort wird gefragt: Und was ist mit BOYSETSFIRE? Die Leute wollen nichts Neues, sie wollen das Gewohnte. Wir sind im Laufe der Zeit ziemlich bequem geworden. Das muss aufhören. Wir „alten Bands“ haben das ja befördert. Wenn wir zu Gigs eingeladen wurden, kamen wir. Das Engagement für die LGBTQ-Community kommt momentan wirklich nicht aus dem Punk und Hardcore – das ist eigentlich eine Schande. Das Engagement zeigen andere und das ist toll. Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch einige in der Hardcore-Szene gesehen, die langsam etwas nach rechts rutschen, speziell im NYHC-Umfeld, was traurig ist. Wenn man mit dem Alter zunehmend abstumpft, wird man vielleicht empfänglicher für Manipulation von rechts.
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