Kaum ein Genre weit abseits des Mainstreams boomt momentan so wie jenes, das eine unheimliche Liaison aus Brutalität und Fragilität ist, das noch gar keinen Namen trägt (wer jetzt "Post-Metal" ruft, muss ganz nach hinten, die Klappe halten und Nachhilfe nehmen), das aber ganz unterschiedliche Musik und Künstler mit ebenso unterschiedlichen Backgrounds in sich vereint und das erstaunlich viele Menschen anspricht, die alle einen anderen Musikgeschmack zu besitzen scheinen, sich aber hier zu Hause fühlen, ob sie nun eher Leises und Sanftes oder Lautes und Brutales bevorzugen. Eventuell greift hier ja endlich jedes Schubladen-Denken zu kurz und man kann sich über Musik unterhalten, ohne ständig mit Typen-Bezeichnungen um sich werfen zu müssen - der Todesstoß für uns Schreiberlinge eigentlich. Und wo sich ein Trend abzeichnet, da tauchen viele, zu viele uninspirierte Mitläufer auf, da werden seelenlose Platten veröffentlicht, die bestenfalls durch geschicktes Kopieren lieb gewonnener Töne einen Nerv beim Hörer treffen. Da fällt es zunehmend schwerer, originelles und originales zu finden, eine Band zu entdecken, die, wenn schon der Musikhistorie kein neues Kapitel hinzufügend, durch Kompromisslosigkeit und herausragende Songs aus der Masse hervorsticht. NADJA sind so eine Band.
Der aus Toronto, Kanada stammende Aidan Baker startet 2003 das Projekt NADJA, da er denkt, dass die härtere und noisigere Musik, mit der er gerade experimentiert, unter einem anderen Namen laufen sollte als seinem eigenen, unter dem er seit 2000 schon diverse Platten veröffentlicht hat, auf denen er sich mit experimenteller Gitarren-Musik und Ambient beschäftigt hat; neben seiner Beteiligung an dem bei Bedarf schon mal zu einem Kollektiv mutierendem Trio ARC sowie anderen Projekten. Nachdem Baker als NADJA ein paar CD-Rs in Minimal-Auflagen auf diversen kleinen Labels veröffentlicht hat, wird das Projekt durch den Einstieg der Bassistin Leah Buckareff zur Band, ab jetzt werden auch Konzerte gespielt, das Debütalbum "Truth Becomes Death" erscheint auf Alien8Recordings, dem folgen Split-Platten, EPs, Neuaufnahmen älterer NADJA-Songs sowie zuletzt das aktuelle Album "Radiance Of Shadows", wiederum auf Alien8 und bisheriger Höhepunkt im Schaffen NADJAs - eventuell sogar ein Meilenstein im namenlosen Genre.
"Ich habe sie einfach gefragt und sie hat ja gesagt" gibt Baker als simple Antwort auf die Frage, warum er die vorher nicht musikalisch aktive Buckareff in sein Projekt holte, die hauptberuflich einen auf handgemachte Bücher spezialisierten Buchverlag mit angeschlossener Binderei namens Coldsnap Bindery betreibt - wo in Kürze auch ein neuer Gedichtband von Aidan Baker erscheinen wird, der diverse Lyrik und Prosa veröffentlicht hat und der sich zudem als Fotograf und Maler betätigt. Baker selbst, der aus einer Musiker-Familie stammt, in der das Spielen eines Instruments Bestandteil der Erziehung war, hat als Kind Klavier und Flöte zu spielen gelernt: "Als Teenager habe ich mir in diversen Punk- und Indie-Bands das Gitarre- und Schlagzeugspielen beigebracht. In meinen frühen Zwanzigern habe ich mich dann mehr der experimentellen Musik zugewandt, dem Ambient und dem Drone, was zum einen zu meinen Solo-Arbeiten geführt hat, zum anderen zu ARC und NADJA." Und zu unzähligen Platten-Veröffentlichungen. Sind die NADJA-Releases schon kaum zu überschauen - und zum Teil nicht mehr erhältlich - , ist Bakers Solo-Werk beinahe unfassbar groß und soll zum Teil einen bestimmten, einen besonderen, kreativen Zeitpunkt festhalten, ist aber auch oft einfach "nur" eine Aufnahme der gerade erschaffenen Songs. Was fasziniert ihn daran, Musik zu kreieren, zu der ob ihres unüberhörbaren Resultats eines Experiments leider nur wenige Menschen Zugang finden können? "Es geht da um Glaubwürdigkeit. Auch mir selbst gegenüber. Ich bin nicht abgeneigt, in der Zukunft wieder in klassischen Rockbands zu spielen, aber ich brauche mehr als das, um das Gefühl zu haben, mich richtig ausdrücken zu können. Musik ist gleichzeitig selbstlos als auch eigennützig, ich erschaffe sie sowohl für den Hörer als auch für mich."
Bakers Faszination an den "deconstructive sonic possibilities of the electric guitar", wie er es selbst ausdrückt und von denen er bei NADJA in einer selten gehörten Intensität Gebrauch macht, entstand, als er bald nach dem Umstieg von der Flöte auf die Gitarre entdeckte, "dass ich das, was ich auf der Gitarre spielte und was zuerst als bloße Begleitung des Gesangs diente, selbst zur Musik machen könnte. Die rudimentären Geräusche, der Lärm, den man mit einer Gitarre erschaffen kann, etwas also, was man nicht als Musik wahrnimmt, durch elektronische Manipulation, durch Loops und Effekte in Musik zu verwandeln."
Diese Arbeitsweise zeigt sich im gesamten Schaffen Bakers und erzeugt eine nicht immer sofort zu verstehende und oft nicht leicht zugängliche Variante des klassischen "Ein Mann und seine Gitarre"-Themas. Worin unterscheidet sich das Songwriting für NADJA von dem für seine sonstigen Projekte? "Die Songs, die ich für NADJA schreibe, sind etwas strukturierter als die meiner Soloarbeit. Dennoch findet sich auch dort immer ein gewisses Improvisations-Element. Ein paar meiner Solo-Alben mögen zwar durchaus songorientierter und simpler aufgebaut sein als die NADJA-Platten, das ist aber eher selten der Fall." Wie sie aber die unfassbare Intensität, mit der Baker und Buckareff gerade auf ihrem neuen Album "Radiance Of Shadows" agieren, diese wunderschöne als auch zermalmende Atmosphäre, die die drei jeweils eine knappe halbe Stunde langen Stücke erzeugen, noch übertreffen wollen, weiß Baker auch nicht. "Vielleicht gehen wir in die entgegengesetzte Richtung. Etwas extrem minimales und sehr ruhiges eventuell."
Auch wenn NADJA unüberhörbar Teil des Phänomens sind, das so perfekt musikalische Brutalität mit zerbrechlichen Sounds verbindet, das es zu schaffen scheint, letzte Barrieren zwischen Metal, Hardcore, Post-Irgendwas, Noise, Industrial, Drone und Ambient (um jetzt mal ganz willkürlich ein wenig Genre-Dropping zu betreiben) einzureißen, Aidan Baker hat keine Erklärung dafür, warum sich das namenlose Genre momentan so großer Beliebtheit erfreut. "Vielleicht ist es nur eine natürliche Evolution in der Musik. Menschen, die (auch) Pop-Musik mögen, fühlen sich jetzt von härteren Sounds angesprochen. Und umgekehrt." Einen Namen für die als NADJA geschaffene Musik bietet Baker dann doch an: er nennt es Shoegazer Metal. Da kann man sich drauf einigen.
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