In Norwegen sind sie längst Stars, die mit jedem neuen Album in die Hitparade schiessen. In Deutschland hingegen gilt die Band in gewisser Weise immer noch als Insidertip.Ob sich dieser Status mit dem neuen, etwas aus dem Rahmen fallenden Album allerdings ändern wird, steht noch in den Sternen, doch so, wie das neue Album "Let Them Eat Cake" derzeit allenthalben abgefeiert wird, besteht doch die Möglichkeit, dass es diesmal ein gutes Stück nach vorne geht für die netten Norweger.
Mit ihrem neuen Album werden die drei Norweger sicherlich einige Leute verwirren. Auch ich stellte mir bei der ersten Hörprobe die Frage, wo die verzerrten Gitarren geblieben sind und blickte etwas ungläubig aus der Wäsche. Trompeten? Violinen?? Waldhörner??? Bis zu diesem Zeitpunkt hatten MOTORPSYCHO, die als eine der kreativsten und arbeitswütigsten Bands dieses Planeten gelten, ihren Sound immer mit reichlich verzerrten Gitarren angereichert. Dabei brachten sie es in zehn Jahren Bandgeschichte aber immer wieder fertig, auf jedem Album anders zu klingen, was ihnen auch mit dem neuen Werk ohne jeden Zweifel gelungen ist. Mit dem kleinen Unterschied, dass der Überraschungseffekt diesmal größer als je zuvor ist. Früher bezeichnet man sie gerne als "Alternative Rock", "Hippie Rock" oder gar als "Hard Rock", irgendwo im weiten Feld zwischen SONIC YOUTH und LED ZEPPELIN. Wie man an diesen unterschiedlichen Schubladen vielleicht schon ablesen kann, sind die drei Jungs aus Trondheim nur sehr schwer in eine irgendeine bestimmte Kategorie einzuordnen. Und mit "Let Them Eat Cake" öffnet sich eine weitere mögliche Schublade: Pop.
Doch wie fielen die ersten Reaktionen auf die neue Scheibe aus? "Sehr unterschiedlich", antwortet ein entspannter und gut gelaunter Bent Saether, seines Zeichens Sänger und Bassist von MOTORPSYCHO. "Von total geschockt bis euphorisch war wirklich alles dabei. Viele haben uns kaum erkannt." Nach den ersten Hördurchgängen ging es mir persönlich genauso, aber im Laufe der Zeit schimmerte in vielen liebevollen Details immer noch das typische MOTORPSYCHO-Feeling durch, was Bent ähnlich sieht: "Wir sind im Prinzip dieselben geblieben, wir haben nur ein etwas anderes Prinzip verfolgt - weg von den harten Gitarren. Wir wollten auf keinen Fall kein zweites "Trust Us"-Album machen, das wäre viel zu langweilig gewesen." An dieser Stelle mischt sich auch Snah (alias Hans Magnus Ryan), der Gitarrist der Band, in das Gespräch ein: "Es ist eine andere Art des Songwritings, in den neuen Songs herrscht eine andere Art von Energie vor, die Sachen sind wesentlich luftiger und komplexer arrangiert." Bent: "Wir sind nach zehn Jahren mit unserer bisherigen Herangehensweise an die Grenzen gestoßen, weshalb wir etwas ganz anderes machen wollten. Ich glaube, das ist uns gelungen." In der Tat.
Auf der anderen Seite wird es aber in den nächsten Monaten noch eine weitere Platte aus dem Hause MOTORPSYCHO geben, und zwar ein 7-Track-Minialbum in Kooperation mit Man´s Ruin Records, dem Label des Kultgrafikers Frank Kozik. Und diese Songs hören sich dann schon wieder ganz anders an, wie Bent verrät: "Dabei handelt es sich wieder um traditionellere Rockmusik, man könnte diese Stücke vielleicht als "70ies Heroin-Rock" bezeichnen, natürlich mit dem typischen MOTORPSYCHO-Stempel versehen. Früher haben wir einfach alle Songs einer Aufnahmephase auf eine CD gepackt, wodurch manchmal auch Doppelalben wie "Trust Us" entstanden ist. Diesmal war es anders, wir haben die rockigen Songs für Frank Kozik aufgehoben." Und wie kam der Kontakt zu Frank Kozik überhaupt zustande? Bent: "Er sah uns im März 1998 auf einem Festival in Austin. Von diesem Zeitpunkt an wollte er unbedingt etwas mit uns machen."
Und was erwarten die drei Skandinavier speziell vom neuen Album? Gebhardt, der Mann am Schlagzeug, hat keine großen Erwartungen: "Keine Ahnung, aber eigentlich nicht viel. Was haben wir denn zu verlieren? Ich glaube nicht, dass wir durch "Let Them Eat Cake" viele Fans verlieren werden. Wir waren früher auch schon ziemlich experimentell." Und: "Früher gab es auch schon einige poppige Elemente auf MOTORPSYCHO-Platten", wie Snah noch hinzufügt. Zwei Songs fallen dann aber doch ein wenig aus dem Rahmen der Platte, nämlich die beiden melancholischen Stücke "Stained Glass" und "30/30", wie auch Bent bestätigen kann: "Stimmt schon, darin herrscht ein ziemlich dunkle Grundstimmung vor." Auf der anderen Seite befindet sich mit "Upstairs-Downstairs" aber auch ein Lied auf der Scheibe, das fast schon im Easy Listening-Genre wildert, so dass bei mir Erinnerungen an die norwegischen Landsmänner von den EURO BOYS wach wurden. Bent: "Äh, das könnte durchaus möglich sein, ich habe sogar eine CD von den EURO BOYS in meinem Regal stehen. Allerdings habe ich da noch nie reingehört, weil mir bis jetzt immer die Zeit fehlte. Aber generell liebe ich Easy Listening."
Gibt es eigentlich einen speziellen Lieblingssong, den die Jungs besonders hervorheben möchten? Bent: "Eigentlich nicht, man sollte das Album als Gesamtkunstwerk mit insgesamt neun Facetten sehen, als ein großes Gefühl, das unter unterschiedlichen Aspekten beleuchtet wird." Und welchen Stellenwert nehmen die Texte innerhalb der Band ein? Bent: "Die Texte sind für uns persönlich sehr wichtig, sie spiegeln etwas von unserer Sicht der Welt wider." Dann stellt sich allerdings die Frage, warum die Texte nicht im Booklet abgedruckt worden sind. "Ich finde es nicht so toll, wenn die Leute als allererstes die Texte lesen, wenn sie eine neue CD hören", erwidert Bent, "Ich persönlich finde es besser, wenn man sich primär auf die Musik konzentriert. Wer die Texte unbedingt lesen möchte, der kann im Internet nachschauen.".
Ansichtssache, aber apropos Internet: In einer Abstimmung auf der Website des norwegischen Radiosenders P3, bei der es darum ging, welcher Song an Silvester 24 Stunden am Stück (!) gespielt werden sollte, gingen MOTORPSYCHO als Sieger hervor, und zwar hauptsächlich dank der enthusiastischen und vor allem raffinierten Vorgehensweise ihrer einheimischen Fans. Denn diese verarschten regelrecht einige unschuldige Betrachter von Pornoseiten im Internet. Wer nämlich ahnungslos bestimmte Pornobanner wie z.B. "Spice Girls Orgy" oder "Britney Spears Nude On A Horse" anklickte, landete nicht wie ursprünglich geplant auf einer Schmuddel-Seite, sondern gab unfreiwillig seine Stimme für MOTORPSYCHO ab. Durch diese drastischen und vielleicht nicht ganz fairen Verfahrenstricks konnte allerdings ein ganz grosses anderes Übel verhindert werden: 24 Stunden EUROPEs "Final Countdown"!!! Denn diese Hymne des schlechten Geschmacks lieferte sich bis zum Schluß mit MOTORPSYCHOs "Vortex Surfer" (vom "Trust Us"-Album) ein hauchdünnes Kopf-an-Kopf-Rennen, bei dem am Ende nur ganz wenige Stimmen den Ausschlag zugunsten von MOTORPSYCHO gaben. Der angenehme Nebeneffekt: Durch den 24 Stunden Nonstop-Dauereinsatz flossen umgerechnet knapp 50.000 DM GEMA-Gelder an die Band, eine Summe, die wirklich nicht zu verachten ist. Bent: "Ja, wir haben schon verdammt treue Fans in Norwegen, das ist echt wunderbar." Vor allem ein Blick auf die inoffizielle Website der MOTORPSYCHO-Hardcore-Fans unterstreicht diese Aussage eindrucksvoll. Dort findet man hunderte Fotos, Plattenkritiken und Gerüchte aus aller Welt, jedes kleine Detail wird dort archiviert. Gebhardt: "Die Fans haben uns gefragt, ob man ihre Homepage nicht zur offiziellen MOTORPSYCHO-Website machen könne, aber wir haben dieses Angebot abgelehnt, obwohl wir alle drei diese Homepage lieben." Bent: "Ich surfe dort fast jeden Tag hin, weil es anscheinend fast jeden Tag Neuigkeiten über uns zu berichten gibt. Das ist echt erstaunlich, was die da auf die Beine stellen, obwohl viele Gerüchte einfach nicht stimmen und etwas aus der Luft gegriffen sind. Aber es macht einfach Spaß, diese Dinge zu lesen und wir wollen uns da auf keinen Fall einmischen. Deshalb haben wir auch dieses Angebot abgelehnt, weil wenn wir selbst in diese Website involviert wären, dann käme das einer Kontrolle oder gar Zensur gleich, was wirklich nicht unser Anliegen ist. Das wäre doch einfach nur noch langweilig..."
Themawechsel: Stimmt es eigentlich, dass die Jungs jeden Tag mindestens vier Stunden proben? Bent: "Ja, im Prinzip ist das schon richtig. An einem normalen Tag proben wir nachmittags meistens vier, fünf Stunden bis zum Abendessen. Und das sechs Tage in der Woche." Gebhardt: "Aber ich würde das nicht als proben bezeichnen, sondern viel eher als spielen. Wir spielen einfach drauf los, weil es Spaß macht und weil so die besten Songs entstehen. Und nebenbei rauchen wir viel und trinken Unmengen Kaffee." Bent: "In gewisser Weise sind wir schon sehr diszipliniert, weil wir das fast jeden Tag tun, das grenzt fast schon an typisch deutsches Pflichtbewußtsein."
Nach diesem netten kleinen Plausch im Hotel stürzten wir uns dann noch gemeinsam ins tolle Münchner Nachtleben. Was den Bierkonsum anbelangt, hatten die Jungs offenbar einen ganz schönen Nachholbedarf, was angesichts der abartigen Bierpreise in Norwegen (weit über zehn Mark für einen halben Liter Bier!) auch kein Wunder ist. Dass sie sich dann aber auch noch ausgerechnet am hochprozentigen dunklen Bier vergreifen mußten... Jedenfalls sahen sie Berichten zufolge am nächsten Morgen ziemlich gerädert und verkatert aus der Wäsche, und das ausgerechnet an dem Tag, an dem die (grins) fette Fotosession für das Musikmagazin Visions anstand....
Es bleibt festzuhalten, dass die die Jungs sehr nette Menschen, gute Biertrinker und begnadete Musiker sind, die so manche musikalische Barriere einreissen können. Und dafür kann man ihnen eigentlich gar nicht genug danken.
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