Oh Köln, du armselige Hipster-Stadt ... Entweder rennen die Erstsemesterchen in solchen Massen zu den Konzerten angesagter Bands, dass ruckzuck ausverkauft ist, oder es kommt keiner. Zum Beispiel zu MODEY LEMON aus Pittsburgh, PA, USA, die jüngst ihr neues Album „The Curious City“ via Mute veröffentlichten. Ein Sonntag, keine Vorband, um kurz nach neun ist das Underground noch völlig leer, eine halbe Stunde später sind es gerade mal 15, 20 Besucher, die Zeuge eines denkwürdigen, enorm lauten Auftritts einer Ausnahmeband werden. Drummer Paul Quattrone hatte seine Cymbals in Berlin vergessen, aber das hielt ihn nicht davon ab, ein imposantes Set zu spielen: Ein Stück gebogenes Blech und ein altes Ölfass tun’s auch und sind sogar noch lauter ... Dazu quetschte Sänger Phil Boyd aus Gitarre und Moog eine Menge wohlorganisierten Lärm, und Jason Kirker, in der Vergangenheit eher der Mann hinter dem Mischpult als auf der Bühne, bedient mittlerweile Bass wie auch Tasteninstrument. Nach dem ohrensausigen Konzert stellte ich die Herren hinter der Bühne zur Rede und traf eine Band, die ihre Musik sehr ernst nimmt.
Euch kann nichts aufhalten, oder? Jedenfalls nicht ein unvollständiges Schlagzeug.
Phil: „Nein, und als wir merkten, dass die Cymbals noch in Berlin liegen, hat sich Paul einfach kreativ am Müll bedient. Auf dem ersten Albumcover kannst du das Drumset entdecken, mit dem wir früher spielten, das sieht ähnlich aus.“
Das hatte natürlich auch was von EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN.
Paul: „Ja, das ist doch angemessen, in Deutschland etwas wie die Neubauten oder CAN zu klingen, oder? Außerdem passt es ja auch angesichts unseres Labels, ich erinnere da an PUSSY GALORE und SUICIDE.“
Das ist eure zweite Europatour, aber mir scheint, Köln ist noch nicht eure Stadt ...
Phil: „Ach, das ist nicht so schlimm, wir kennen das nur zu gut, in den USA passiert uns das immer wieder. Wir machen trotzdem weiter, geben alles, und wenn du ab und an solch schlecht besuchte Konzerte erlebst, darf dich das nicht beeindrucken.“
Trotzdem verwundert das schon, denn bei Mute seid ihr Labelmates von Größen wie Nick Cave oder DEPECHE MODE, die tausende Besucher ziehen.
Phil: „Aber auch die haben mal klein angefangen. Und Mute-Gründer Daniel Miller veröffentlichte einst eine 7“ von THE NORMAL, und daraus entwickelte sich dieses große Label, das Mute heute ist.“
Ihr kommt aus Pittsburgh, PA, und das ist nicht gerade die angesagte Musikhauptstadt der USA. Vorteil oder Nachteil?
Phil: „Beides. Wenn du in eine fremde Stadt kommst, bist du nicht das hippe, neue Ding. Uns eilt also nicht ein gewisser Ruf voraus, wir werden nicht gleich auf einen bestimmten Sound festgenagelt. Wenn eine Band aus Detroit kommt und Rock spielt, glaubt jeder gleich zu wissen, was er zu erwarten hat. Wenn man aus Pittsburgh kommt, ist das nicht so, es gibt uns völlige stilistische Freiheit. Wir sind Vertreter eines namenlosen Genres, und der Albumtitel ‚The Curious City‘ nimmt auf diese Tatsache und unsere Herkunft Bezug.“
Zu Pittsburgh fällt mir AUS-ROTTEN ein, ANTI-FLAG, die CYNICS und Get Hip ...
Phil: „... und DON CABALLERO! Wir haben mit diesen Bands schon zusammen gespielt, mit den AUS-ROTTEN-Nachfolgern CAUSTIC CHRIST, den CYNICS, waren mit ANTI-FLAG auf Tour, haben uns bei der einen oder anderen was abgeschaut, die sich vielleicht was bei uns. Es ist ein wechselseitiger Austausch, und irgendwie passte das immer, auch wenn wir an sich verschiedene Stile haben.“
Euer erste Album war auf A-F Records, das zweite in den USA auf Birdman und in Europa bei Mute. Wie verhält es sich mit dem dritten?
Phil: „Wie mit dem zweiten. Es hat uns seinerzeit sehr gefreut, als Mute an uns Interesse zeigten, schon deshalb, weil da all diese großartigen Bands veröffentlicht haben, die uns beeinflusst haben. Und wir wussten, dass wir völlige musikalische Freiheit haben, denn von Pop bis Noise findest du auf Mute ja alles.“
Das neue Album unterscheidet sich schon etwas von den beiden davor, ich war durchaus überrascht.
Phil: „Ich denke, wir haben uns einerseits weit von den beiden ersten Platten entfernt, sind andererseits aber auch gar nicht weit gegangen. Wir haben viel Neues ausprobiert. Unserem Empfinden nach ist das Album einerseits zugänglicher und mehr auf den Punkt gebracht, andererseits aber auch experimenteller.“
Jason: „Der letzte Song auf der Platte etwa, der auch der letzte Song des heutigen Sets war. Der ist sehr lang und komplex, und viele hassen den. Sechzehn Minuten mit einem sehr monotonen, tribalistischen Beat und dazu Soundscapes, das fordert den Zuhörer. Das ist nicht gerade radiofreundlich, hahaha.“
Phil: „Speziell in rhythmischer Hinsicht gehen wir auf dieser Platte weiter als je zuvor.“
Ihr seid jetzt auch „offiziell“ ein Trio, nachdem Jason davor eher für die Produktion und die Aufnahmen zuständig war und erst jetzt richtig in die Band einstieg.
Jason: „Richtig, und das letzte Album war in der Hinsicht aus der Übergangsphase. Jetzt haben wir von Anfang an als Trio gearbeitet, vom Songwriting über die Proben bis zur Aufnahme.“
Ein Song des Albums kam mir wie ein Cover vor, bei genauer Betrachtung war es aber doch ein Lied von euch. Spielt ihr gelegentlich Coversongs, und wenn ja, welche?
Phil: „Wir haben für die ‚Crows‘-Single den Song ‚Loch Ness Monster‘ von David Fair und Jad Fair von HALF JAPANESE gecovert. Wir planen auch ein Cover von ‚Not to touch the earth‘ von den DOORS. Aber an sich sind wir keine ‚Cover-Band‘, stattdessen versuchen wir zu ergründen, was uns an einem bestimmten Song gut gefällt, die Idee dahinter zu sehen, den Rhythmus zu analysieren, seine ‚Chemie‘, und dann ein eigenes Lied in dieser Art zu schreiben. Manchmal macht es aber auch einfach Spaß zu hören, wie ein Song klingt, wenn wir ihn spielen.“
Paul, klang dein Drumming nur heute Abend wegen des ungewöhnlichen Drumkits so tribalistisch oder ist das ein generelles Stilmerkmal?
Paul: „Von der Idee her ist das schon generell so, aber man hört es sonst sicher nicht so stark, denn da ist das Drumkit nicht so primitiv. Ich mag die Idee, einen Song auf einem ganz basalen Rhythmus aufzubauen. In letzter Zeit haben wir viel Musik des nigerianischen Popstars Fela Kuti gehört, aber auch viel CAN und KRAFTWERK, und das sind ja auch Bands, die sehr rhythmisch sind. Ich denke, das hört man etwas heraus.“
Das macht euch ja auch außergewöhnlich, denn die meisten Bands konzentrieren sich auf ihren Gitarrensound, oder ein Keyboard steht prominent im Vordergrund.
Phil: „Viele andere Bands haben ebenfalls einen guten Drummer, aber der kümmert sich darum, einen straighten, nach vorne gehenden Rhythmus zu produzieren.“
Paul: „Um das zu machen, was wir machen, musst du als Band sehr gut harmonieren, musst zu einer Einheit werden. Phil und ich kennen uns schon lange, wir funktionieren musikalisch sehr gut zusammen. James Brown hat das immer geschafft, bei seinen Bands aus minimalen Beiträgen einzelner einen unglaublichen Sound zu produzieren.“
Phil: „Ja, und bei uns gibt es keine Alleingänge, alle Instrumente sind ineinander verwoben, da ist kein Platz für Gitarren-Soli.“
Wie kommt man als Band an einen solchen Punkt?
Phil: „Ständige Wiederholung und Übung. Manchmal spielen wir bei der Probe zwei Stunden lang nur zwei Noten.“
Paul: „Und dabei dann nicht drüber nachdenken, was du da tust.“
Das klingt ja schon beinahe spirituell.
Paul: „Ist es auch. Man darf sich nicht in Details verzetteln, muss das Große, Ganze im Blick haben. Und wenn du immer nur tust, was alle anderen auch tun, wirst du nie zu einer außergewöhnlichen Band. Man muss den Mut haben, auch mal etwas nicht zu tun, an einer Stelle einfach aufhören zu spielen, um zu sehen, was sich dann entwickelt.“
Das schafft man nur, wenn man sich seiner Musik mit großem Nachdruck widmet.
Paul: „Das tun wir, wir machen ja auch sonst nichts. Und deshalb kann uns auch nichts aufhalten. Schon gar nicht fehlende Schlagzeugteile. Wir hatten auch schon defekte Verstärker, Gitarren und Keyboards, aber deshalb ein Konzert nicht zu spielen, kommt für uns nicht in Frage, denn es gibt immer einen Weg.“
Phil: „Das heute war nur eine weitere Episode in einer langen Geschichte von Pannen, hahaha. Letztes Jahr hatte ich mich mal übel am Finger verletzt, und mit dem Verband konnte ich natürlich nicht Gitarre spielen, also spielte ich eben Keyboard. Es gibt immer einen Weg. Das war auf Tour, wir cancelten nur einen Auftritt, übten die Songs an diesem Tag in neuer Besetzung und weiter ging’s.“
Jason: „Neulich in Spanien funktionierte mein Synthesizer plötzlich nur noch, wenn ich an einer Stelle von unten mit der Hand darauf drückte. Also spielte ich eben das ganze Konzert in einer etwas ungewöhnlichen Haltung, aber hey, es ging.“
Letzte Frage: Wie kommt ihr mit eurem Merchandiser durch die Flughafenkontrollen? Der Kerl sieht ja original aus wie Bin-Laden, und dann auch noch die schwarze Sonnenbrille ...
Phil: „Der muss immer alleine fliegen, hahaha.“
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