MARITIME

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Keine Angst vorm leeren Blatt

Eigentlich könnten sich Davey Van Bohlen, Dan Didier, Dan Hinz und Justin Klug zurücklehnen und nur noch gute Familienoberhäupter sein: MARITIME war fruchtbar in den letzten Jahren: Sie alle haben Kinder und mit ihrer letzten Band THE PROMISE RING haben sich vor allem Van Bohlen und Didier schon einen Platz in der Liste der zeitlos guten Bands gesichert. Doch schließlich ist "Heresy And The Hotel Choir" auch nicht erst das Debüt dieser vier Amerikaner, sondern schon die vierte Veröffentlichung von MARITIME, auf der sich zeigt, wie sich eine Symbiose aus Gut und Böse in wunderschöne Indie-Songs verpacken lässt.

Man könnte meinen, dass der Satz "Such dir lieber etwas Vernünftiges und Solides, womit du dein Geld verdienst!" für Vollzeitmusiker eigentlich keine Rolle mehr spielen sollte. Schließlich sind die meisten davon wahre Künstler, die ohne ihre Kunst keinerlei Ausdrucksmöglichkeit hätten und einfach nicht lebensfähig wären. Solche Leute lieben wir, weil sie so komplett durchgedreht sind und sich auch eigentlich um nichts anderes kümmern müssen, als um sich selbst und wie sie ihre Kunst am besten in Szene setzen. Was passiert aber, sobald der Klapperstorch anklopft und man sich plötzlich ganz anderer Pflichten bewusst wird?

"When the movie stops, we're listening"


Davey Van Bohlen ist nicht durch irgendwelche ausufernden Exzesse bekannt geworden, sondern gilt als bescheidener Poet. Viele Jahre, nachdem er mit seiner ersten Band CAP'N JAZZ sein erstes Album und Gehversuche auf dem damals noch unentwickelten Midwest-Emo-Terrain machte, und wenige Jahre, nachdem er mit THE PROMISE RING zu der Speerspitze dieser Musikrichtung geworden ist, hat er nun in Zeiten seiner neuen Band MARITIME den Wunsch nach Kindern.

"When there is no counting, who is number one?"

Im Jahr 2003 verlassen Van Bohlen und Didier THE PROMISE RING, gründen MARITIME mit Eric Axelson von THE DISMEMBERMENT PLAN und nehmen ihre erste EP ("Adios") auf. Im Jahr 2003 bekommt Van Bohlens Frau den ersten gemeinsamen Sohn und ihr Mann, der 2000 eine schwere Operation hatte (ein zitronengroßer Tumor musste aus Van Bohlens Kopf entfernt werden), ändert wie wahrscheinlich jeder Vater seine Sichtweise auf die Welt. Zwar war er schon immer für sein poetisches Talent und die Fähigkeit, neben Texten über Isolation und Liebe auch gesellschaftlich Kritik in eingängige und auf den ersten Blick auch positiv klingende Pop-Songs zu verpacken, doch ist ihm seit der Geburt seiner Kinder unwohl, wenn er in die Zukunft blickt.

"We all want a fence around, wooden grin in the ground"

"Im Moment würde ich mich freuen, wenn ich endlich mit dem Geld, das ich durch meine Musik verdiene, auch meine Rechnungen bezahlen könnte und somit auch für meine Familie sorgen. Sie hat mich so lange unterstützt und ich denke, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem sie auch von mir verlangen werden, dass ich etwas Verantwortung übernehme. Deswegen habe ich mich am College eingeschrieben. Es hilft mir dabei, Pläne für die Zukunft zu konkretisieren. Eine Zukunft, in der ich auch endlich verantwortlich sein kann für andere. Didier und Hinz haben in den letzten zwei Jahren auch geheiratet und wir haben alle insgesamt vier Kinder - ein Fünftes ist schon unterwegs. Da gibt es also andere Dinge, um die man sich richtig kümmern muss."

"It's a fulltime job trying not to work at all"

Nach den beiden Alben "Glass Floor" und "We, The Vehicles" ist "Heresy And The Hotel Choir" das dritte Album innerhalb von vier Jahren. Es ist ein Album ohne Ausfälle geworden und die zwölf Song - von "The guns of Navarone" über das exemplarische Songduo "Peril" und "Pearl" bis zu "Love has given up on us" - sind das Beste, was MARITIME in ihrer kurzen Geschichte geschrieben haben. Es ist zwar nicht so viel anders, aber alles irgendwie noch spannender und eingängiger. Darauf entgegnet Van Bohlen: "Es gibt immer noch einiges am Prozess des Aufnehmens zu verbessern, damit es noch schneller geht. Nimm das Schreiben eines Songs: Es ist eine expressive Art von Kreativität. Du, ich und wir alle verändern uns kollektiv. Es gibt also immer Dinge, über die man reden kann und muss."

Aber gibt es nicht überwiegend schöne Dinge, über die man als quasi frischgebackener Vater schreiben möchte? "Ich denke zwar, dass ich glücklich bin, aber auch nicht vor Glück überschäume. Persönlich fühle ich mich mit meinen Kindern hier zu Hause sehr wohl und generell können Kinder selbst die dunkelste Seele aufhellen, denke ich. Ich kann es auch gar nicht abwarten, den Kindern beim Aufwachsen zuzusehen. Natürlich spiegelt sich das in der Musik wider, die wir machen, vor allem da wir ja alle zur Zeit in der gleichen Situation stecken."

Nach einer kurzen Pause fährt Van Bohlen aber fort: "Jetzt, da ich Kinder habe, denke ich aber auch darüber nach, was die Welt für ein furchtbarer Platz zum Leben geworden ist. Ich würde sogar sagen, dass ich sie gar nicht allein lassen will. Diese Ansicht kann man ‚Heresy And The Hotel Choir‘ ein bisschen mehr anhören, als ich es vielleicht vorhatte. Momentan scheint aber auch alles außer Kontrolle ... Vor allem die Entwicklung in der amerikanischen Politik fallen darunter: Selbst die Leute. die die jetzigen Machthaber entmachten wollen, sind nicht vertrauenswürdig, vielleicht sogar korrupt. Oder nimm die Schäden, die sie unserer Kultur antun - so was wird permanent sichtbar bleiben und späteren Generationen das Leben nicht leichter machen."

Diese Symbiose zwischen "Gut und Böse" wird nicht nur auf dem Cover deutlich, das von Jason Gnewikow, einem alten Weggefährten bei THE PROMISE RING, entworfen worden ist: Es scheint, als würde sich der riesige schwarze Assoziationstest eines Psychologen über eine farbenfrohe Landschaft legen. Sie wird vor allem durch das Songduo "Peril" und "Pearl" deutlich, die auch den Mittelpunkt dieses Albums darstellen: "All our lives in peril / With all our lives in stone", so beschreibt Van Bohlen scheinbar Stagnation und Stumpfheit in "Peril". Wohingegen "All our lives in pearls / And all our afternoons sitting on a setting sun" eher die positiven Dinge in ihrer Gesamtheit beschreibt ... Oder was meint der Künstler damit?

"I want to thank god for the science fiction"

Van Bohlen tendiert dazu, nicht zu intensiv über seine Songtexte zu sprechen. Ihm ist mehr daran gelegen, dass der Hörer sich mancher Zweideutigkeit auch mal nicht bewusst wird und seine eigenen Schlüsse zieht. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen: Manche Aussagen erfordert ob ihre Dringlichkeit eine gewisse Eindeutigkeit. Und wenn es nur im Titel ist: "The guns of Navarone", den gleichen Titel trägt auch ein Kriegsfilm, der im 2. Weltkrieg spielt. Von Bohlen benutzt diesen Titel als Metapher: "‚The guns of Navarone‘ ist einer der wütendsten Songs, aber auf eine leicht verdauliche Art. Als ich klein war, gab es dieses Plastikspielzeuge, mit denen ich irgendwelche Schießereien nachgespielt habe. Es ging immer um irgendwelche Schlachten, von denen ich irgendetwas gehört hatte. Nun bin ich erwachsen und merke, wie groß der Anteil unserer Kultur an der Erziehung unserer Kinder ist. In Amerika wirst du quasi schon zum waffenverrückten Nationalisten erzogen - wenn du nicht eh schon Christ bist. Es gibt natürlich auch sehr viele verantwortungsbewusste Menschen, die wissen, was zu tun ist. Aber auf der anderen Seite sind da auch zum Beispiel Eltern, die ihre Kinder vier Stunden im Auto lassen, während sie sich in einer Bar betrinken. Ein anderes Beispiel sind für mich auch diese Schießereien an den Schulen. Das erste große Massaker war in Colorado und ist gerade mal fünf Jahre her. Mittlerweile hat es ja schon unzählige weitere Morde dieser Art gegeben, nur scheint es jetzt niemanden mehr so richtig zu interessieren. Es ist doch beängstigend, wie schnell die Menschen abstumpfen." Einer der eher persönlichen Songs ist "First night on earth". Diesen Song schrieb Van Bohlen an dem Wochenende, an dem Didier und Klug Vater wurden. "Auf eine Art ist dieser Song auch ein Liebeslied für die nächste Generation."

"You and me and everyone and everyone that you know knows it"

Dass "Heresy And The Hotel Choir" in Deutschland die Tanzflächen, Wohnzimmer und iPods stürmt, dafür sorgt auch dieses Mal wieder das sympathische Hamburger Label Grand Hotel Van Cleef. Aber warum heißt der Song "Hand over Hannover" dann nicht "Hand over Hamburg"? "Der Titel stammt aus einem Gespräch, das ich mit Ollie Schulz in Hannover geführt habe. Wir saßen in einem Backstageraum und einer von uns hatte dann die Idee, dass es doch toll wäre, wenn wir ganze Städte untereinander tauschen könnten, so wie Sammelkarten. ‚Du kriegst Toronto, aber ich bekomme Rom, Detroit und, ähm, Chicago.‘ Ollie würde gerne Hannover gegen irgendetwas tauschen, hat er gesagt. So kam es zustande."

Generell scheint die Band um Van Bohlen ein großes Interesse an Deutschland zu haben. Schließlich hieß auch schon einer ihrer früheren Songs "German engeneering". "Oh, es gibt viele Verbindungen zwischen uns und Deutschland, nimm doch allein unsere Nachnamen: Hinz, Klug und Van Bohlen. Einzig Didier scheint französische Wurzeln zu haben. Im Mittleren Westen der USA, wo wir aufgewachsen sind, ist sowieso alles sehr deutsch. Schließlich haben wir hier in Milwaukee die Bierhauptstadt der Welt. Für uns ist Deutschland wie eine zweite Heimat geworden und wir haben viele Freunde dort."

"There's really nothing going wrong"

So wie es scheint, müssen sich diese Freunde aber auch noch ein bisschen gedulden, bis sie MARITIME das nächste Mal sehen können: "Es war ja schon immer schwierig für uns, einen guten Zeitpunkt zu finden, um auf Tour zu gehen. Seitdem wir aber alle Kinder haben, ist die Planung der reinste Albtraum." Dann lacht er kurz auf und wendet sich seinen Kindern zu, die gerade aufgewacht sind.