LAST GANG

Foto© by Ben Trivett

Girls to the front

THE LAST GANG sind schon längst keine Unbekannten mehr, schließlich existieren sie bereits seit über zwanzig Jahren. Doch spätestens seit ihrem Supportslot auf der großen Abschiedstournee von NOFX ist das Quartett aus Los Angeles in aller Munde. Ihr eingängiger Stilmix aus Punkrock, Reggae und Pop mit kratzigem Gesang und hoher Ohrwurmgarantie weiß zu begeistern, wie auch das neue Album „Obscene Daydreams“, das im September bei Fat Wreck Chords erschien. Hierzu standen uns Frontfrau Brenna, Gitarrist Ken, Bassist Sean und Schlagzeuger Sam inmitten des stressigen Touralltags direkt in ihrem Bandbus Rede und Antwort.

Ihr seid gerade auf großer US-Tour und wart im Frühsommer auch ausgiebig mit NOFX hier in Europa unterwegs. Es läuft also gerade richtig gut für euch, oder?

Sean: Ja, das stimmt. Es war in letzter Zeit wirklich ziemlich viel los. Im Moment sind wir im Van auf dem Weg nach Santa Cruz zu unserer letzten Show der Westküstentour mit unseren Freunden THE DROWNS. Im Anschluss fahren wir 35 Stunden direkt nach Chicago, um zehn Konzerte im Mittleren Westen und an der Ostküste mit TEENAGE BOTTLEROCKET zu spielen. Wir sind zwar ziemlich erschöpft, aber die Shows waren gut, und trotz einiger Hindernisse – in der ersten Woche der Tour wurde zweimal in den Van eingebrochen – ist die Stimmung noch immer verdammt gut.
Ken: Und die NOFX-Abschiedsshows in Europa waren einfach unglaublich. Es war uns eine große Ehre, dabei zu sein, und ich glaube, jeder von uns hat alles in sich aufgenommen und die Bedeutung dessen erkannt, woran wir beteiligt waren. Es war eine unvergessliche Zeit und wir sind Fat Mike und Destiny Booking sehr dankbar, dass sie uns eingeladen haben.

Wie viel Genugtuung oder Demut empfindet man dabei, eine der größten und wichtigsten Punkrock-Bands des Planeten auf ihrer Abschiedstournee unterstützen zu dürfen?
Ken: So klischeehaft es auch klingen mag, für mich ist es eine unfassbare Ehre, bei der letzten Tour von NOFX dabei zu sein. NOFX waren eine der ersten Punkbands, die ich gehört habe, und für mich ist es daher immer noch komplett surreal, auf diese Weise Teil ihrer Geschichte zu sein. Ich habe mit ihnen zusammen „The decline“ gespielt, Sam hat für einige ihrer Songs an den Drums gesessen und Brenna durfte mehrmals „Lori Meyers“ singen. Glaub mir, ich hätte echt nie gedacht, dass ich das irgendwann einmal sagen könnte: Da ging ein echter Lebenstraum für uns in Erfüllung!

Vor mehr als sechs Jahren hatten wir euch zuletzt im Interview, damals wart ihr noch als Trio unterwegs. Es folgte die schwere Zeit der Pandemie und die Veröffentlichung eures letzten Albums „Noise Noise Noise“. Wie habt ihr dieses Auf und Ab erlebt?
Sean: Ja, das war kurz nachdem wir bei Fat Wreck Chords unterschrieben hatten und ungefähr zu der Zeit, als „Keep Them Counting“ erschien. Das scheint eine Ewigkeit her zu sein. Zu der Zeit gab es nur mich, Brenna und Robert. Kenny kam gleich danach zur Band, etwa im Sommer 2018. Wir hatten das Gefühl, dass wir mit THE LAST GANG im Jahr 2020 endlich so richtig an Fahrt aufgenommen hatten. Wir hatten gerade angefangen, mit einem neuen Booking-Agenten zu arbeiten, daneben auch schon eine ganze Reihe von Tourterminen gebucht und das Songwriting für „Noise Noise Noise“ lief auch sehr gut. Als also im März alles zum Stillstand kam, war das ein echter Rückschlag für die Band. Wir taten, was alle anderen auch taten: Wir gingen in den Lockdown-Modus, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte. Robert und seine Familie zogen vorübergehend an die Central Coast in Kalifornien, doch das Schreiben ging weiter und Brenna arbeitete zu Hause hart daran, unsere Demos in richtige Songs zu verwandeln. Sie schickte uns Überarbeitungen per E-Mail, wir lernten sie, schraubten daran weiter und schickten sie ihr wieder zurück.Was blieb uns auch anderes übrig.
Ken: Vieles von dem, was wir für dieses Album geschrieben haben, entstand leider getrennt voneinander. Wir hatten wirklich sehr wenig Zeit zum Proben, als wir „Noise Noise Noise“ dann im August 2020 im Studio aufnahmen. Dann haben wir eine sehr lange Zeit gewartet, bis das Album schließlich im Oktober 2021 veröffentlicht werden konnte. Ja, die Pandemie hat uns zurückgeworfen, wie die meisten anderen auch. Umso glücklicher sind wir jetzt, 2024, hier zu sein mit unserer neuen Platte im Gepäck.

Was ist die Kernbotschaft von „Obscene Daydreams“?
Brenna: Es gibt keinen wirklichen roten Faden oder eine Idee, die sich durch das Album zieht. Es ist eher eine exakte Darstellung der Zeit, in der wir alle leben. Viele unserer persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse sind in die Songs eingeflossen, mehr als alles andere. Der Titel stammt vom Eröffnungstrack „Electric Avenue“, in dem es um die Verherrlichung der aufregenden Punk-Szene unserer Jugend geht.

Der Song „The others“ handelt vom Gefühl, anders, aber damit gleichzeitig auch nicht alleine zu sein. Quasi das Mantra der Punk-Szene, oder?
Brenna: Absolut richtig! Ich wollte einen Song schreiben, der sicherstellt, dass es keine Missverständnisse bei den Leuten gibt, die unsere Musik hören. Wir unterstützen die LGBTQI+-Gemeinschaft und sind mit ihr verflochten. Und wenn euch das stört, dann kauft kein Merch und geht nicht zu unseren Konzerten. Wir brauchen keine Leute, die in dieser Hinsicht Ignoranz in unsere Kreise bringen.

Hast du als Frau im männerdominierten Musikgeschäft schon selbst solche negativen Erfahrungen gemacht? Sexismus und Ausgrenzung machen ja schließlich vor keiner Szene halt.
Brenna: Ja, definitiv. Misogynie und Sexismus gibt es noch immer und überall. Aber ich versuche, mich auch ganz individuell davor zu schützen. Auch wenn ich es schon selbst erlebt habe, lebt es zum Glück nicht mehr in meinem Kopf weiter. Und ich habe das Glück, dass ich von Bandkollegen, Freunden und Familie umgeben bin, die mich beschützen. Genau deshalb liebe ich es, so zu sein, wie ich und vor allem wie wir als Band sind. Ich habe schon so viele Geschichten von Eltern gehört, die mir sagten, dass wir ihre Kinder dazu inspiriert haben, aus sich herauszugehen und zu entdecken, wer sie sein wollen und können. So habe ich zum Beispiel noch immer die Nachricht eines kleinen Mädchens aus Luxemburg in meinem Handy, das in der Schule unglücklich war, weil es sich als Außenseiterin fühlte und gemobbt wurde. Sie schrieb mir, dass sie durch unsere Musik und unsere Texte wieder neuen Lebensmut fand und sich dadurch wieder stark und selbstbewusst fühlt. Das hat mich echt zutiefst im Herzen berührt.

Ist Kathleen Hannas Credo „Girls to the front“ also noch immer höchst aktuell?
Brenna: Und wie! Hass und Unterdrückung werden nie verschwinden. Sie sind tief in uns verwurzelt. Sie warten immer auf das richtige Klima, um zu gedeihen. Aber wir müssen wachsam bleiben und dagegen kämpfen. Sexismus muss mit Feminismus bekämpft werden. Es ist also noch ein sehr langer, steiniger Weg. Nur im Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit können wir letztlich diese Strukturen der Unterdrückung überwinden – ganz gleich ob im Alltag oder in der Musik.

Das neue Album ist auch das erste, das ihr als Quartett aufgenommen habt. Inwieweit habt ihr euch bei dessen Entstehung als Band neu erfunden?
Sam: Tatsächlich ist „Obscene Daydreams“ das erste Album in neuer Konstellation und auch das erste, bei dem ich mit dabei bin. Im Vergleich zu meinen anderen Projekten empfinde ich bei diesem Album einen sehr starken Zusammenhalt zwischen den Beteiligten, die ich zuvor so noch nicht erlebt habe. Meine andere Band MELTED ist ein reines Zwei-Mann-Songwriter-Projekt. Daher ist es für mich in künstlerischer Hinsicht völlig neu und aufregend, in einer Band wie THE LAST GANG zu sein, in der alle unsere Ideen und Ansichten in etwas Gemeinsames einfließen. Das fühlt sich großartig an.
Ken: Dies ist nun schon mein zweites Album mit THE LAST GANG. Der Hauptunterschied zu unserem älteren Material besteht vor allem darin, dass wir als Songschreiber selbstbewusster geworden sind und als Quartett wirklich gemeinsam am Entstehungsprozess beteiligt waren. Jeder hat sich zu gleichen Teilen eingebracht und somit empfinde ich unseren Sound auch als noch abwechslungsreicher und stilistisch breiter als zuvor. Daher denke ich, dass diese Platte perfekt widerspiegelt, was uns vier als Band ausmacht.

Tatsächlich erkennt man auf „Obscene Daydreams“ im Vergleich zu den vorherigen Platten eine deutliche stilistische Weiterentwicklung. Eine bewusste Auslotung neuer musikalischer Grenzen?
Ken: Ja, genauso fühlt es sich an! Und ich bin unglaublich begeistert davon, wie diese Platte geworden ist. Im Vergleich zu „Noise Noise Noise“ habe ich das Gefühl, dass wir genau die Dinge, die wir stilistisch lieben und die uns als Band auszeichnen, noch einmal weiter ausgebaut haben. Ich nehme einmal „Hide the antagonist“ als Beispiel: Der Song beginnt zu einem Disco-Beat mit ausgeklungenen Akkorden und Gesang schwermütig und nahezu düster, fast böse, bevor er in einen Reggae-Refrain übergeht. Das mag sich jetzt erst einmal seltsam anhören, wenn ich dir das so schildere, aber ich denke, es ist super geil geworden und der Song ist einer meiner Favoriten auf der Platte. Wer hätte gedacht, dass wir als Punkband so etwas einmal machen würden.

Du beschreibst das typisch dichotomische Spannungsfeld von Stagnation und Fortschritt.
Brenna: Weißt du, ich liebe den Satz „Die Leute wollen nicht sehen, dass du dich veränderst, aber sie wollen sehen, dass du dich entwickelst“. Nimm beispielsweise die Diskografien von Bands wie AFI oder THE CLASH: Sie sind dermaßen vielseitig und heterogen, doch sind diese Bands im Kern immer noch genau die, die sie schon immer waren. Was „Obscene Daydreams“ also im Vergleich zu unserem älteren Material am meisten verändert hat, ist unser Wunsch nach genau dieser Entwicklung. Wir wollen nicht stagnieren und für immer im gleichen musikalischen Sumpf steckenbleiben.

In puncto Produktion habt ihr hingegen auf Altbewährtes gesetzt und euch wieder mit Cameron Webb zusammengetan, der auch schon bei euren vorherigen Alben hinter den Reglern saß. Eine gute Entscheidung?
Ken: Ganz klar: Die einzig richtige Entscheidung! Das Besondere an Cameron ist sein sehr individueller, aber auch integraler, kollegialer Ansatz. Einerseits hat er seinen ganz eigenen Aufnahme- und Produktionsprozess, durch den er dich als Musiker führt, andererseits zeichnet ihn aber auch seine große Flexibilität aus, die immer davon geleitet wird, mit wem er gerade arbeitet. Als ich ihn kennenlernte, war ich gerade Aushilfe in einem Studio und hatte das Glück, bei einigen seiner Recording-Sessions mit MOTÖRHEAD dabei sein zu dürfen.Ich saß da also mit ihm und Lemmy zusammen und fühlte mich wie eine winzige, unbedeutende Fliege an der Wand, die alles aus dem Hintergrund beobachtet, haha. Das war schon echt unglaublich mit anzusehen, wie Cameron dieser absoluten Koryphäe Anweisungen und Tipps gab und wie die beiden harmonierten. Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf war ich natürlich noch viel gespannter, wie Cameron mit uns als vergleichsweise kleiner Band umgehen würde.

MOTÖRHEAD sind natürlich eine echte Hausnummer. Als Referenz für THE LAST GANG funktionieren sie aber nicht wirklich. Was hat euch musikalisch am meisten beeinflusst, was waren eure ersten Punkrock-Platten?
Brenna: Also die ersten Platten, die ich hörte, habe ich mir allesamt von meinem älteren Bruder ausgeliehen. Vor allem „Sound Of Music“ von ADICTS, „... And Out Come The Wolves“ von RANCID, „Heavy Petting Zoo“ von NOFX und „Armageddon Massive“ von THE DINGEES. Aber es war definitiv „Give ’Em Enough Rope“ von THE CLASH, das mein Leben am meisten beeinflusst hat.

Und was läuft gerade so in eurem Van, während ihr auf Tour seid?
Sam: Na, da sind wir dann doch etwas breiter aufgestellt, haha. Gerade feiern wir 1990er Jahre HipHop – Dr. Dre, NAUGHTY BY NATURE und Co. stehen momentan hoch im Kurs. Daneben hören wir THE DROWNS, die Jazz-Ikone Nina Simone und natürlich unsere All-time-Lieblinge NIRVANA. Und ganz aktuell SPIRITUAL CRAMP – hört sie euch unbedingt an, ihr düsterer Post-Punk geht gerade voll durch die Decke!

Dann besteht also auch Grund zur Annahme, dass euer Bus mit genau dieser Playlist bald wieder durch Europa rollt?
Ken: Aber hallo! Wir planen, in den nächsten ein bis zwei Jahren so viel wie möglich auf Tour zu gehen, und hoffen sehr, dass wir in Kürze eine Headliner-Tour und eine weitere großartige Support-Tour in der EU spielen können. Playlist inklusive!