Der Mann ist ein Augen- und Ohrenzeuge der Geburt von Punkrock: Jon Savage, Jahrgang 1954, Journalist und Forscher in Sachen Jugendkultur, war anno ´76 im Umfeld von Malcolm McLaren mit dabei, als dessen gar nicht so retortige Idee einer „Punk“-Band Form annahm und die SEX PISTOLS geboren wurden. Unter dem Titel „England´s Dreaming“ fasste er schon Anfang der Neunziger seine Erinnerungen in Buchform zusammen, und das Ergebnis war ein überaus lesenswertes Standardwerk zur Geschichte des Punkrock, engagiert, spannend und detailgenau geschrieben, das jedoch erst jetzt in deutscher Übersetzung (siehe Buchbesprechungen) erschienen ist.
Bei seiner Lesung in Köln schnappte ich mir Mr. Savage für ein Interview.
2001, 25 Jahre Punkrock - ist Punk heute noch ein Thema, für die Gesellschaft, für dich?
Ich weiss nicht so recht. Diese Lesereise hier ist für mich eine eher seltsame Erfahrung, da ich gerade tief in der Arbeit an einem neuen Buch stecke. Ich wurde also aus einer sehr konzentrierten Arbeitsphase gerissen für diese Tour. Wenn du ein Buch schreibst, wirst du zum Eremiten, und da sitze ich nun in einem Club und unterhalte mich über Punk - das ist schon ein harter Kontrast, das ist bizarr.
An was arbeitest du gerade?
An einer Geschichte der Jugendkultur des 20. Jahrhunderts. Ich bin dabei im Jahre 1914 angelangt, habe jetzt jeden Tag die Jahre um 1977 vor mir und bewege mich selbst im Jahre 2001 - das kann manchmal etwas anstrengen. Aber um auf deine Frage zurückzukommen: ich denke, der direkte musikalische Einfluss von Punk ist verschwunden. Punk ist jetzt Teil der Geschichte, denn seit 1976 sind in der Pop-Zeitrechnung mindestens fünf Generationen vergangen. Und LIMP BIZKIT und BLOODHOUND GANG sind eben nicht Punk. Punk hat nie die dominanten Werte reproduziert, doch genau das tun diese Bands. Nein, die letzte Band, die direkt auf Punk verwiesen hat, war NIRVANA - und das ist zehn Jahre her. Was die Relevanz von Punk für die Gesellschaft anbelangt, so ist meine Antwort recht simpel: Punk ist zum Archetyp von Jugendrebellion und politischen Dissidententums geworden, und insofern ist es immer noch ein Thema für die Gesellschaft. Man muss dabei aber zwischen zwei Aspekten von Punk unterscheiden: zum einen als Phänomen der britischen Gesellschaft in den Jahren ´75 bis ´79, also in historischer Hinsicht, und zum anderen als zeitloses Phänomen. Seine Relevanz bezieht Punk heute also nur noch in Form dieses Archetyps, und sicher nicht was den Aspekt der Modebewegung anbelangt. Es gab mittlerweile so viele Punk-Revivals, bei denen jede Bedeutung verloren gegangen ist. Mein Ansatz ist deshalb, sich auf die ursprünglichen Platten zu beschränken und den Spirit herauszuhören, der in ihnen steckt. Ich persönlich würde mir wünschen, heutzutage würde jemand solche Platten machen.
Der Hintergrund meiner Frage ist, dass ich ein Punkrockmagazin herausgebe, dass da draussen zehntausende Leute und zig Bands sind, die an Punkrock glauben, die an sowas wie den Punkrock-Grundsätzen festhalten, an Sachen wie „Do your own thing“, „No gods, no masters“, die ganze D.I.Y.-Idee - und das ist nicht nur hier in Deutschland, in England, in Südamerika, in Malaysia, fast überall auf der Welt.
Dann ist Punk immer noch alive, schön, und ich hoffe, dass das noch eine ganze Weile so bleibt. Punk ist der Traum von Freiheit, und wenn jemand nach Freiheit sucht, ist das eine der Möglichkeiten sie zu finden. Für mich persönlich ist es immer wieder die Musik, die mich zu Punk zurückbringt. Ich liebe Punkmusik, sie ist großartig, und ich kann mich heute noch mit den Gefühlen identifizieren, die all die alten Platten hervorrufen. Andererseits bin ich heute nicht mehr dieselbe Person wie 1977: ich bin 25 Jahre älter, um mich herum sind eine Menge Menschen gestorben, ich musste mich irgendwann der Verantwortung des Erwachsenseins stellen und bin ganz offensichtlich kein Heranwachsender mehr. Ich kann nicht so tun, als wäre ich einer, aber andererseits kann ich mich mit ihnen identifizieren.
Eine Sache, die mir persönlich einen Stich versetzt, ist die „Entwertung“ vieler Insignien, die einst für Punk standen: wenn auf der Love Parade zehntausende mit bunten Haaren, dem Punk entlehnter Kleidung etc. feiern, dabei aber doch so Mainstream sind, dann habe ich das Gefühl, dass Punk überhaupt nicht mehr gefährlich ist, dass eine frühere Protestkultur von ihren Insignien her völlig von der Massengesellschaft absorbiert wurde. Wie siehst du das im Kontext deines Buches über Jugendkultur?
Das ist eine sehr umfassende Frage. Ich kann es ja mal mit einer Antwort versuchen. Punk hat von Anfang an das Spiel mit den Medien gesucht, und ich habe damals wie heute für die Medien gearbeitet. Die Medien- und Informationsindustrie ist heute der größte Teil der Wirtschaft, worüber Guy Debord ja auch in „The Society Of Spectacle“ geschrieben hat. Die Sache eben, dass die Kulturindustrie der größte Motor der wirtschaftlichen Entwicklung geworden ist und die Rolle der Automobilindustrie und ganz früher der Eisenbahngesellschaften eingenommen hat. Ein wichtiger Film zu dieser Thematik ist dann auch „Der Mann, der vom Himmel fiel“ mit David Bowie, der 1976 in die Kinos kam. Es gibt da eine Schlüsselszene, und zwar ist das die, als David Bowie als Raumfahrer vergisst, warum er auf die Erde gekommen ist. Er betrinkt sich und sitzt schließlich vor einer Wand von 40 Fernsehern, auf denen lauter unterschiedliche Programme laufen. Damals gab es in England gerade mal zwei Sender, und wir als Jugendliche waren natürlich völlig begeistert: „Wow, 40 channels, fuckin´ far out, we want that!“ Tja, und was ist heute? Wir haben 40 Sender, und es ist absolute Scheisse. Wir leben jetzt in der Zukunft, der ich freudig entgegengeblickt habe, als ich 22 war - nur dass die eigentlich ziemlich übel ist, wenn wir ehrlich sind. Nimm nur den Umgang der SEX PISTOLS mit ihrem „Ruhm“ und dem Medieninteresse: die haben damit gespielt, haben die Medien vorgeführt und für eine Weile das ganze System gefickt. Das war sehr inspirierend.
Kannst du dir vorstellen, dass sowas heute nochmal möglich ist?
Ich will es hoffen. Wenn sowas nochmal passiert, hoffe ich, dass dabei eine gute Platte rausspringt, dass ich mich damit identifizieren kann und ich die Chance bekomme, Zeuge davon zu sein. Aber ehrlich gesagt bin ich derzeit nicht in der Lebenssituation, dass ich mich draussen in der Welt nach solchen Phänomenen umschaue. Meine Antwort ist also, dass ich nicht in der Lage bin zu beurteilen, dass sowas morgen wieder passiert, aber ich hoffe es zutiefst und vertraue auf den menschlichen Geist.
Mit MARILYN MANSON gibt es seit einer Weile eine Band, die zumindest in den USA von konservativer Seite verteufelt wird wie seinerzeit die SEX PISTOLS - ein Phänomen, das angesichts der Armseligkeit dieser Band ihr zwar zu viel der Ehre zuteil werden lässt, aber trotzdem interessant ist. Dein Kommentar?
Ich war sehr lange stark von Amerika fasziniert, so wie viele Briten nach dem Zweiten Weltkrieg. Amerika, das war die Zukunft, doch mit Punk geriet dieser Traum dann ins Wanken, wobei einige großartige Bands aus diesem Land kamen, etwa PERE UBU. Heute dagegen halte ich Amerika für ein gewaltiges Problem, und das obwohl ich über 30 mal dort war und auch eine Zeit lang mit dem Gedanken spielte, dort zu leben. Aber ich halte Amerika mittlerweile für ziemlich unzivilisiert und würde es auch viel lieber sehen, wenn sich Großbritannien mehr an Europa als an die USA halten würde. Die USA wissen einfach nicht mit ihrer Jugend umzugehen. Was dort abgeht ist einfach abgrundtief dumm. MARILYN MANSON ist völliger Mist, das weiss jeder, und die machen das, was sie machen, nicht mal besonders gut. Das ist Theater, das ist Spiel, und wer auf die Band einprügelt, schlägt auf das Symptom ein, nicht auf die Ursache. MARILYN MANSON sind nicht der Grund, warum sich dort Kinder gegenseitig umbringen, sondern die Gesellschaft, die Tatsache, dass sie Zugang zu Schusswaffen haben. Wenn dann Kids wegen des Tragens von MARILYN MANSON-T-Shirts der Schule verwiesen werden, gibt man dieser Band erst richtig Macht.
Siehst du eigentlich Parallelen zwischen den 68ern und ihrem Marsch durch die Institutionen und den „77ern“, die allmählich auch im Alter sind, wichtige Positionen einzunehmen?
Natürlich! Viele aus meiner Generation sind vom Establishment aufgesaugt worden, aber das war zu erwarten und eigentlich unabkehrbar. Als ich 22 war, konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen so alt zu werden, wie ich heute bin. Doch jetzt bin ich so alt und habe einige Veränderungen durchgemacht und gemerkt, dass man gar nicht die gleiche Person bleiben kann wie mit Anfang zwanzig. Punkt 1: Du kannst dich nicht mehr mit beliebigen Alkoholika und anderen Drogen zudröhnen und die ganze Nacht Party machen, weil du dich danach eine Woche lang wie Scheisse fühlst. Dein Körper packt das einfach nicht mehr. Punkt 2: um dich herum sterben eine Menge Leute. Und Punkt 3: du hast Verantwortung. Das passiert einfach. Ich kann mich heute noch mit der Person identifizieren, die ich 1977 war, aber ich bin diese Person heute nicht mehr. Weisst du, man bietet dir einfach allenthalben Dinge an, und es ist so einfach zuzugreifen.
Was hältst du von diesen Dinosaurier-Bands, die sich heute noch zu Festivals wie „Holidays In The Sun“ schleppen?
Das deprimiert mich. Punk hatte auch etwas damit zu tun, modern, seiner Zeit voraus zu sein. Diese Festivals anno 2001 finde ich schrecklich, das ist wie die Teddyboys anno 1976, die damals den Rock´n´Roll der Fünfziger glorifizierten und die Punks hassten und verprügelten. Heute habe ich in Köln irgendwo auf der Strasse ein paar echt runtergekommene Siff-Punks gesehen, und ich fand das deprimierend, denn Punk hat nichts damit zu tun, die Verantwortung für sich selbst aufzugeben.
Wir haben im aktuellen Heft ein Interview mit Dee Dee Ramone, in dem er sagt, er wolle nicht, dass seine Kinder Punks werden, weil seine Jugend als Punk so beschissen war.
Dazu kann ich Folgendes sagen:
Erstens: Punk steckt voller Widersprüche. Das ist aufregend, und Widersprüche können etwas sehr gutes, kreatives, nützliches sein.
Zweitens: Punk ist eine sehr emotionale Angelegenheit, und hat auch viel mit Verletzen zu tun. Das ist ein interessanter Aspekt, denn wie Dee Dee Ramone hatten viele Leute eine miese Kindheit, und das kam dann später in ihrer Musik zum Vorschein. Schau dir THE CLASH an! Das ist nicht nur eine Rockband, da steckt viel Schmerz in den Songs, man muss ihn nur entdecken. Diesen Schmerz, diese Verwundbarkeit finde ich so interessant an Punk, das macht Punk, seine Wut, so echt.
Jon, ich danke dir für das Gespräch.
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