JON SAVAGE

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Die Geschichte von JOY DIVISION

Jon Savage ist ein streitbarer und in manchen Kreisen – alte Londoner Punkrocker etwa, siehe Captain Sensible – auch umstrittener britischer Musikjournalist, der 1991 mit „England’s Dreaming“ eine umfassende, intensive Beschreibung von Punk in Großbritannien verfasst hat und sich in verschiedenen anderen Büchern mit den unterschiedlichsten Aspekten von Jugendkultur beschäftigt hat. Mit dem Oral-History-Buch „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere – Die Geschichte von JOY DIVISION“ (erscheint am 21.04.) hat er nun aus vielen Stunden Gesprächsmaterial mit noch lebenden und bereits verstorbenen Zeitzeugen die Geschichte der Post-Punk-Legende aus Manchester rekonstruiert. Ich spreche mit dem meinungsfreudigen Autor unter anderem über das Schreiben über Musik.

Jon, wo lebst du mittlerweile?


Auf Anglesey, einer Insel im Norden von Wales. Und das ist ein ganz anderes Land als England. Das ist in diesen Zeiten ein wichtiges Statement. Zumindest für mich. Ich bin gebürtiger Londoner, wobei ich irische und schottische Wurzeln habe – meine Mutter stammt aus einer schottischen Familie, mein Vater wurde in Irland geboren. Ich habe also einen irischen Pass. Ich habe viel keltisches Blut in mir. Es gibt so einiges, was ich an den Engländern nicht mag, und ich fühle mich hier sehr wohl.

Eine Insel am Rande von Wales ... das klingt nicht nach einem Hotspot der Popkultur.

Nun, ich bin 66 und ich gehe nicht mehr auf so viele Konzerte. Dazu kommt, dass ich Tinnitus habe, so dass ich immer Ohrstöpsel tragen muss bei Konzerten, was irgendwie doof ist. Ich gehe also nur mal mit Freunden auf Konzerte oder zu befreundeten Bands. Aktuell war mein letztes Konzert kurz von Weihnachten Griff Rhys in Bangor, das ist eine Viertelstunde von hier. Er ist ein wundervoller Performer, sehr europäisch, offen für Neues. Und davor habe ich letzten Sommer Johnny Marr gesehen. Na ja, wie gesagt, zu vielen Konzerte gehe ich nicht mehr. Und ich bin ja eigentlich auch kein Musikjournalist mehr, ich rezensiere keine aktuellen Platten, schreibe nicht mehr über Konzerte. Das ist nichts mehr, worauf ich noch Lust habe. Und sowieso sollte das von jungen Menschen erledigt werden.

Und mit was beschäftigst du dich stattdessen?

Also ich schreibe schon noch, etwa gelegentlich für Mojo und auch für den New Statesman, Esquire und GQ. Aber mein Fokus liegt auf dem Verfassen von Büchern. Ich habe gerade erst den Entwurf für ein Buch abgeschlossen, das bei Cornell University Press erscheinen wird, über ein großes Archiv über schwules Leben, das denen gespendet wurde. Es ist sehr umfangreich und umfasst viele Fotos aus dem 19. Jahrhundert bis in die Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Und dann erschien letztes Jahr die englische Version meines JOY DIVISION-Buches, das jetzt im April auf Deutsch veröffentlich wird und auf Englisch als Paperback. Dann habe ich noch an einer Ausstellung über Factory Records gearbeitet, über die ersten fünfzig Katalognummern. Die wurde zuerst im Chelsea Space in London gezeigt und kommt nun im Sommer nach Manchester. Außerdem co-kuratiere ich noch eine Ausstellung über den Regisseur Derek Jarman, die im April eröffnet wird.

Du bist also Journalist, Musikhistoriker, Soziologe, Kurator ... alles dabei?

Ja. Nun, wenn man in solchen Bereichen arbeitet wie ich, darf man vor allem eines nicht tun: sich darüber beklagen, dass sich Dinge ändern. In meinem Arbeitsleben habe ich miterlebt, wie sich vieles Bekanntes aufgelöst und verändert hat oder verschwunden ist. Um sein eigenes Interesse an seinen Themen aufrecht zu erhalten und um weiterhin ein Einkommen zu haben, muss man erfinderisch sein, um Arbeit zu finden und neue Bereiche zu erschließen. Vor zehn, fünfzehn Jahren habe ich erkannt, dass ich nicht länger auf Journalismus als primäre Einkommensquelle setzen will, und so bewegte ich mich in den Bereich des Kuratierens von Ausstellungen und habe auch Bücher für Filme geschrieben, vor allem fürs Fernsehen, aber das ist ein sehr schwieriges Geschäft. Und ich arbeite im Archiv-Bereich, da zusammen mit der University of Manchester und der John Rylands Library in Manchester. Da geht es um den Aufbau eines Popkultur-Archivs.

Obwohl du also nicht mehr im Hauptberuf Musikjournalist bist, hat sich der Gegenstand deiner Beschäftigung also nicht verändert – es geht um Musik, um Popkultur.

Es geht mir um Musik als Impulsgeber von Populärkultur.

Damit kommen wir also mal zum Grund meines Anrufs: JOY DIVISION. Auch wenn das alles mehr als vierzig Jahre her ist, holt Punk dich doch immer wieder ein. Wie ein Untoter taucht dessen Geist immer wieder in deinem Leben auf.

Nun, nichts daran ist letztlich Zufall, alles geschieht „by design“. Das Ganze fing damit an, dass mir Tony Wilson einen Job beim Fernsehen in Manchester verschaffte. Er wusste, dass ich als Journalist für die Musik-Wochenmagazine schreibe und ihm gute große Artikel und Rezensionen verschaffen kann. Er holte mich also nach Manchester, damit ich über seine Bands schreibe, vor allem über JOY DIVISION. Es war also alles so designt, also geplant von ihm, und ich machte bereitwillig mit, denn ich fand die Bands super, also war der Teil schon mal leicht. Was nun das Buch betrifft, so war ich in erster Linie an der Geschichte interessiert. Und es ist eine sehr gute Geschichte, die im Kern gerade mal zweieinhalb Jahre umfasst: ab Mitte 1977, 1978, 1979, bis Frühjahr 1980. Wenn man dann so eine Geschichte niederschreibt, die so eine begrenzte, kurze Storyline umfasst, ist das immer eine gute Sache für die Erzählung. Der Stoff ist sehr konzentriert, das mag ich. Als ich mein Buch „Teenage: The Creation of Youth Culture“ schrieb, war das eine ganz andere Sache. Es machte mir großen Spaß, aber der Zeitraum von 1895 bis 1945 war so groß, es war einfach zu viel. Um wieder auf JOY DIVISION zurückzukommen: Ich war damals 25, 26, 27 und machte erstmals etwas jenseits der Erwartungen meiner Eltern und der sozialen Schicht, in die hinein ich erzogen worden war. Meine Lernkurve war damals sehr steil. Ich arbeitete plötzlich in linken Strukturen mit einer sehr strikten Hierarchie und daran musste ich mich erst mal gewöhnen, wobei ich darin, also in Sachen Anpassung, nicht gut war. Ich bin eher der geborene Freiberufler. Dazu kam noch die völlig neue Umgebung. Ich mag Manchester sehr, aber es war damals schon sehr, sehr anders als London, sehr arm, und das merkte man der Stadt auch an allen Ecken und Enden an. Zudem war es sehr provinziell – heute ist das eine Weltstadt, damals noch nicht. Das einzig Spannende an der Stadt war die Musikszene. Diese Szene rund um Factory, den Russell Club und JOY DIVISION umfasste kaum mehr als 100, 200 Menschen. Das war also ein sehr kleiner Kreis, und dass das alles dann so groß wurde ... Nun, ich war von Anfang an begeistert, JOY DIVISION waren von Beginn an sehr gut, aber es ist sehr seltsam, dass sie zu so einer bekannten Band wurden. Letztlich war das aber alles eine Frage der Qualität der Musik.

Es wird ja immer wieder gesagt, dass zu Beginn so wenige Leute zu den Konzerten kamen, dass der Großteil derer, die behaupten, von Anfang an dabei gewesen zu sein, offensichtlich lügt.

Nun, sie wurden ja schon ziemlich schnell größer. 1979 spielten sie in recht großen Hallen zusammen mit den BUZZCOCKS, wobei die Leute wohl mehrheitlich kamen, um die BUZZCOCKS zu sehen. Sie waren der Opener. Zum Ende hin spielten sie auch mal im Lyceum, das dürfte eine 2.000er-Halle sein.

Zu dem Phänomen, das sie heute sind, wurden sie aber dennoch erst posthum und viele Jahre später. Mitte der Achtziger, als ich auf sie stieß, waren ihre Platten nur schwer zu bekommen, sie waren eher ein Geheimtipp unter uns jungen Goth-Punks als eine omnipräsente Legende. Kannst du aus deiner Beobachtung heraus eingrenzen, wann JOY DIVISION posthum so groß wurden?

Das kam alles wegen der Filme. Vor allem „Control“, Anton Corbijns Film von 2007 sowie „Joy Division“ aus dem gleichen Jahr, den ich zusammen mit Grant Gee gemacht habe. In etwas geringerem Maße hatte 2002 auch „24 Hour Party People“ damit zu tun. Die Filme waren also sehr wichtig, denn der Medienwirbel, der um Filme herum erzeugt wird, ist weit größer als der um Bücher und Platten. Filme sind Mainstream. Und jenseits davon trug der „romantische Tod“ von Ian Curtis zur Legendenbildung bei. Ein weiterer Faktor ist das Design von Peter Saville, das ist eine faszinierende Nebengeschichte dazu, wie „Unknown Pleasures“ sich in der Popkultur ausgebreitet hat.

Inklusive der H&M-JOY DIVISION-Shirts, die mancher von uns als „Sündenfall“ ansieht.

Nun, das sind Entwicklungen jenseits unserer Kontrolle, also sollte man auch nicht darüber jammern. Ich mache mir dazu erst gar keine Gedanken. Es ist aber ein weiteres Beispiel dafür, wie groß sie geworden sind. Und letztlich geht eben doch alles auf die Musik von JOY DIVISION zurück, denn die hat eine ganz besondere Fähigkeit: sie kann durch die Zeit reisen. Und das führe ich darauf zurück, dass Ian Curtis mediumistische Qualitäten hatte. Ich weiß, über so was reden die Leute nicht gern, aber er hat das ja selbst thematisiert, in „Dead souls“ etwa singt er über die Technik des „Channeling“. „Dead souls“ ist einer ihrer besten Songs. Ich höre bis heute viel JOY DIVISION, und das ist mein Lieblingssong. Und ich finde ihn sehr unheimlich. Und ja, ich glaube wirklich, dass Ian Curtis die Fähigkeiten eines Mediums hatte, zwischen verschiedenen Orten und Zeiten „channeln“ konnte. Diese Fähigkeit, in der Zeit zu reisen, ist irgendwie in die Musik von JOY DIVISION eingebettet und das ist einer der Gründe, warum deren Musik Bestand hat. Und auf einem ganz anderen Level sind sie ein klassischer Fall von Teenagerkultur, es geht um das Erwachsenwerden. Ich habe da mal eine sehr interessante Erfahrung gemacht: Ich hatte vor ein paar Jahren mal eine Vorführung am British Film Institute in London, „Control“ wurde gezeigt, und da war eine Gruppe von Schulkindern anwesend, sie waren vielleicht 16, 17. Und natürlich war das nicht ihre Musik, sie waren gelangweilt ... und dann kam eine Konzertszene, Ian war auf der Bühne, und plötzlich waren sie voll dabei. Die Erklärung ist für mich ganz klar: Ian war echt, seine Bühnenperformance war außergewöhnlich. Er tauchte völlig ein in das, was er tat, er ging völlig darin auf – und das war nicht auf Dauer leistbar. Er hatte „stage craft“ wie viele andere Performer auch. Bei David Bowie erlebte ich das mal in den Neunzigern: er wusste, was man geben und was man zurückhalten muss, er hatte seinen eigenen Takt. Er war fantastisch, es war eine Meisterklasse in Sachen, wie man vor tausenden Leuten auftritt. Es war inszeniert, aber nicht im Sinne von unaufrichtig – er wusste einfach ganz genau, was er tat. Ian trat auf die Bühne und er rastete aus. Nicht so, dass er die Songs vergessen hätte, aber er gab alles für die Performance, er legte da seine gesamte Persönlichkeit rein. Das hatte er von Iggy Pop übernommen und das Ganze noch ein Stück weiter getrieben. Das kann man aber nicht lange durchhalten, das ist einfach zu viel.

Wenn man die Filme über JOY DIVISION und Ian Curtis gesehen, die Bücher gelesen hat, dann geht es zumindest mir so, dass ich mich frage, wie Ians Frau und seine Tochter damit umgehen, ständig und bis heute medial mit etwas so Privatem wie dem Suizid vom Ehemann und Vater konfrontiert zu sein, ergänzt um Expertisen und Analysen von Menschen, die Curtis nie getroffen oder kaum gekannt haben.

Nach dem, was ich weiß, ist es immer noch extrem schwer für sie und sie haben immer noch damit zu kämpfen.

Sollten andere denn das Recht zu einer so intensiven Beschäftigung damit haben, ist Ian Curtis zu so etwas wie „Allgemeingut“ geworden?

Die meisten aus seinem Umfeld haben gelernt, vieles davon auszublenden. Dazu kommt, dass man das eine nicht ohne das andere haben kann. JOY DIVISION verkaufen sich immer noch gut. „Unknown Pleasures“ war nach vierzig Jahren noch mal auf Platz 5 der britischen Charts – unglaublich für so eine alte Platte. Es gibt also wohl ein gewisses Verständnis davon, wie das Musikbusiness so funktioniert, und ja, es sind eben auch vierzig Jahre vergangen. Diejenigen von damals, die noch am Leben sind, haben also irgendwie gelernt, damit zu leben.

Eine Art, das Erbe von JOY DIVISION zu bewahren, sind die Konzerte von PETER HOOK AND THE LIGHT, bei denen der einstige Bassist der Band deren Songs – wie ich finde – sehr gelungen aufführt. Deine Meinung dazu?

Nächste Frage!

Okay, das war deutlich. Du hast dein neues Buch über JOY DIVISION mit der Widmung versehen: „Für Tony Wilson, der mein Leben verändert hat“. Du erwähntest Wilson bereits zu Beginn unseres Gesprächs, warum war Wilsons Rolle so wichtig für die Popkultur?

Tony war ein sehr komplizierter Mensch. Er konnte ein totaler Bastard sein, aber er hat eben mein Leben verändert. Er holte mich nach Manchester, er rettete mich davor, Anwalt zu werden, eine Ausbildung, die ich hasste. Und ich wurde in seine völlig faszinierende Welt hineingezogen. Die ersten zwei Monate, die ich bei Grenada TV arbeitete, wohnte ich bei ihm und seiner Frau Lindsay im Haus und er war sehr nett. Ich freundete mich in jener Zeit mit Rob Gretton und Martin Hannett an und wurde so Teil der Factory-Welt. Tony war ein Impresario, würde ich sagen, ein Katalysator. Er war sehr gut darin, ein Talent zu erkennen und dann auch eine Plattform zu bieten, dieses zur Geltung zu bringen. Wenn du jung bist, ist das fantastisch. Peter Saville ist dafür ein gutes Beispiel mit seiner grafischen Arbeit für JOY DIVISION und Factory Records. Er ermutigte Menschen wie ihn einfach, „Mach mal!“ Als junger Mensch ist so was das Beste, was dir passieren kann – du wirst zwar nicht bezahlt, aber du sammelst Erfahrung, bist Teil von etwas. Ich will mich selbst da jetzt nicht in den Vordergrund stellen, ich gehörte eher zum äußeren Zirkel, aber Tony war da sehr direkt: „Du kannst gestalten? Mach mir doch ein Poster.“ Und so entwarf auch ich zwei Poster für JOY DIVISION und ein paar mehr für Factory, und das war großartig, seine Poster da draußen hängen zu sehen. Tony war sehr gut darin, Talent zu erkennen und zu fördern. Außerdem hatte er diese Vision für Manchester, die sich auf die eine oder andere Weise bewahrheitet hat – die Idee einer pulsierenden, spannenden Stadt, die nicht nur JOY DIVISION, sondern auch THE SMITHS, STONE ROSES und viele andere Bands hervorbrachte. Und dieser Popkultur-Aspekt wird heute von einer der größten Universitäten des Landes als Argument verwendet, Studenten in die Stadt zu locken. Das Erbe von Factory ist also einer der Gründe, warum heute junge Menschen in diese Stadt kommen wollen. Wobei ... wer weiß schon, was nach dem Brexit passieren wird. Mich würde allerdings wundern, wenn man nach dem verdammten Brexit überhaupt noch jemand nach UK kommen will. Nun, all das jedenfalls war der Grund für meine Widmung – Tony hat wirklich mein Leben verändert, auch wenn mein Verhältnis zu ihm, nun, seine Höhen und Tiefen hatte. Ich habe ihn allerdings kurz vor seinem Tod noch mal getroffen und wir kamen gut klar.

Ebenfalls in deinem Buch erwähnt wird Mark Price von der Website „Joy Division Central“. Wie wichtig sind solche individuellen Bemühungen in Sachen Archivierung und Sammlungserstellung?

Joydiv.org ist eine sehr nützliche Plattform für jeden, der mehr über JOY DIVISION wissen will. Da findet man eine Liste aller Konzerte, aller Aufnahmesessions, aller Veröffentlichungen und so weiter. Jeder Fan sollte die Seite kennen und auch mir hat sie geholfen.

Du hast für dein Buch die Form der „oral history“ gewählt, also eine Abfolge von Originalzitaten von Zeitzeugen, die die Geschichte der Band erzählen – im Gegensatz zur Form des Erzählers mit eingestreuten Zitaten. Warum?

Ich mag grundsätzlich den Frage-Antwort-Stil, ich las einst in den Siebzigern mit Begeisterung Andy Warhols Magazin Interview, das eben auch dieses Q&A-Format verwendete. Es ist eine sehr unmittelbare Textgattung. Und im Falle dieses Buches bot sich das Format einfach an, denn wir hatten 2007 für unseren Film sehr viele Interviews geführt, aber letztlich verwendeten wir vielleicht gerade mal 10%. Wir hatten dafür lange Gespräche geführt, etwa mit Bernard Sumner, Peter Hook und Stephen Morris – vier, fünf Stunden, und es war, glaube ich, das letzte große Interview vor dem großen Krach bei NEW ORDER. Ich habe diese Interviews ergänzt mit einigen neuen Gesprächen mit Zeitzeugen und habe mich auch bemüht, Frauen zu finden, die was dazu sagen können, denn irgendwie tauchen in der ganzen JOY DIVISION-Geschichte nur wenige Frauen auf. Ich mochte immer „Edie“ von Jean Stein aus dem Jahre 1982 sowie Andrew Loog Oldhams Bücher „Stoned“ und „2Stoned“. Ich mag dieses Direkte, wenn man mitbekommt, wie Menschen sprechen. Und ich bin generell gelangweilt davon, wie über Musik geschrieben wird, mit diesem Trend hin zu persönlichen Erlebnisberichten. Ich hasse das.

Warum?

Weil es einfach nur langweilig ist. Mir doch egal, ob du THE CLASH 1977 live gesehen und danach den letzten Bus nach Hause verpasst hast. I don’t care, please don’t share! Ich hasse das, das ist so einfallslos. Es gibt so viel mehr, worüber man reden kann, als nur dein eigenes verdammtes Ego. Ja, ich weiß, Musik ist ein Auslöser für Erinnerungen und Nostalgie, aber behalte die doch besser für dich.

Was für eine Art des Schreibens über Musik bevorzugst du stattdessen? Die Art wie dein JOY DIVISION-Buch?

Die Art von Büchern, die ich bevorzuge, sind ordentlich geschriebene Bandbiografien, die nicht von persönlichen Vorurteilen oder Erfahrungen geprägt sind. Mach deine verdammten Hausaufgaben! Recherchiere! Denke nach! Analysiere! Rede mit den Leuten! Wissenschaftliches Arbeiten eben. Sonst wird es doch nur wieder die übliche ungenaue nostalgische Pampe. Ich meine damit nicht ordentliche geschriebene Autobiografien von Musikern, ob mit oder ohne Ghostwriter, sondern Bücher von Musikjournalisten, die sich selbst in den Vordergrund schieben. Ich habe das nur ganz selten mal gemacht. Wenn jemand einen Artikel über etwa Brian Eno lesen will, dann will der Leser wissen, was Brian Eno denkt, und nicht, was deine Meinung ist.

In der Vergangenheit warst du mit deinen Büchern auch immer wieder mal auf Lesetour in Deutschland. Diesmal auch wieder?

Ja, im Mai bin ich zusammen mit meiner Übersetzerin Conny Lösch unterwegs. Dank meines irischen Passes bin ich ja immer noch Europäer. Dieser ganze Brexit ist eine üble, rechte Verschwörung und so erbärmlich. Die Hälfte des Landes ist einfach infantil geworden – erwachsene Menschen verhalten sich wie Kinder.

... die notorischen Lügnern wie Boris Johnson hinterherlaufen, der schon ein Lügner war, als er noch als Journalist arbeitete.

Nun, ich bin mit solchen Leuten zur Schule gegangen. Deren Charme nutzt sich sehr schnell ab, glaub mir. Johnson ist ein „Bully“, das ist jemand, der Kleinere auf dem Schulhof herumschubst. Die elementare Frage ist nun, und weil das eben ein Coup der Rechten ist, ob wir den Weg eines Landes wie Ungarn gehen werden. So oder so, uns stehen große, große Auseinandersetzungen bevor. Es wird sehr unschön werden. Ich habe es echt satt, ich habe ja schon viele Jahre meiner Jugend und meiner frühen Erwachsenenjahre mit konservativen Regierungen, mit Thatcher leben müssen. Und jetzt kommt all das zurück, aber in der gedopeten Stereoid-Variante. Und eine echte Alternative gab es auch nicht, denn die sollte Jeremy Corbyn sein, und der taugte von Anfang an nichts – und ist ja auch Anti-EU. Mit all dem sind wir übrigens auch wieder bei dem Thema, das ich als „The End of Teenage“ beschrieben habe: Die Nachkriegsordnung, die 1945 installiert wurde, ist Geschichte. Interessant, dass nun diese extremen Entwicklungen in den USA und Großbritannien sich so ähnlich sind, beides Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg als die „good guys“ dastanden. Die hatten das Prinzip der demokratischen Konsumkultur als Methode der sozialen Organisation aufgebracht – und dieses Zeitalter ist nun vorbei, aus verschiedensten Gründen. Zwei Gründe sind: Erstens, dieses Konsumverhalten ist nicht nachhaltig. Und zweitens, die Superreichen, die Plutokraten, haben beschlossen, dass sie die Demokratie nicht länger brauchen, um Geld zu verdienen.

Und wie bekommen wir von hier wieder den Bogen zu JOY DIVISION?

Die Musik von JOY DIVISION greift genau da an, lustigerweise. Die Texte über ein Individuum, das eingezwängt und unterdrückt wird von Mächten außerhalb der eigenen Kontrollmöglichkeiten. Seinen Platz finden in einer feindlichen Welt. Das hatte natürlich viel mit Ians eigenen Zwangsvorstellungen zu tun, aber all das trug damals schon zu ihrer Popularität bei, denn es passte zur allgemeinen Stimmung, nachdem Margaret Thatcher im Mai 1979 ihr Amt angetreten hatte. „Unknown Pleasures“ wurde einen Monat später veröffentlicht. Womit wir wieder bei meinem Thema sind, dem Schreiben über Musik: Da muss man Musik in den historischen Kontext setzen, was war damals los? Und wenn stattdessen der Autor seine persönliche Befindlichkeit in den Vordergrund stellt, hilft das nicht. Und zu diesem Kontext gehört bei JOY DIVISION auch, dass man versteht, in was für einer Umgebung sich das alles abspielte: Manchester war eine einst blühende Industriestadt, die sich damals im Niedergang befand, große Teile der Stadt lagen brach, überall leere Industriegebäude – und diese boten Musikern und Künstlern für wenig Geld Raum zum Arbeiten. Und schon wird die ganze Geschichte interessanter – interessanter als wenn du erzählst, wie du nach dem Konzert den letzten Bus verpasst hast. Die Atmosphäre von damals hat Manchester heute freilich längst nicht mehr, das ist jetzt wie London – in Glasgow findet man das heute vielleicht noch.

 


Iain Gray (Zeitzeuge): Ich wollte eine Band zusammenstellen und hatte deshalb im alten Virgin Records eine Anzeige aufgehängt, um nach einem energiegeladenen Sänger zu suchen. Jemand hatte draufgeschrieben: „Muss 10.000 Volt aushalten können“ – Manchester-Humor. Ian Curtis war der Einzige, der sich gemeldet hat. Wir trafen uns in einem Pub in Sale namens Vine Inn. Ian tauchte dort mit einer Jacke auf, auf deren Rücken „HATE“ stand. 1976 in Manchester war es ganz schön gefährlich, so rumzulaufen. Er spazierte also mit Donkey-Jacket in die Kneipe, dabei hatten mir die Stammgäste dort sowieso schon böse Blicke zugeworfen, als wollten sie sagen: „Was ist das denn für einer?“ Dann kam Ian rein, und er war ein total lieber, netter Mensch. Aber wenn man ihn ansah, dachte man: „O Gott, der sieht ganz schön angsteinflößend aus“. Lederhose, Jacke mit „HATE“ hinten drauf – bisschen wie De Niro in „Taxi Driver“, ich weiß, dass er auf den Film stand. Ich weiß noch, wie wir uns an dem Abend unterhalten haben, da kam er mir viel älter vor und reifer. Ich war damals achtzehn, und Ian muss zwanzig oder einundzwanzig gewesen sein. Ich meinte: „Die Punk-Ideale, Ian. Heiraten ist langweilig.“ Und er sagte, „also, ich bin verheiratet“, und zeigte mir seinen Ehering.

Bernard Sumner (JOY DIVISION,. NEW ORDER): Das erste Mal bin ich Ian bei einem Gig im Electric Circus begegnet. Kann die „Anarchy“-Tour gewesen sein, vielleicht aber auch THE CLASH. Ian war mit einem anderen Iain unterwegs, und beide hatten Donkey-Jackets an, Ian hatte „HATE“ hinten auf seine draufgeschrieben. Ich weiß noch, dass ich ihn mochte. Er schien sehr nett zu sein, aber wir haben nicht viel mit ihm geredet. Ungefähr einen Monat später, als wir einen Sänger gesucht haben, hängten wir eine Anzeige bei Virgin Records in Manchester auf. So wurden damals in der Punk-Ära alle Bands gegründet. Auf die Anzeige bekam ich ständig Anrufe von allen möglichen Verrückten. Total Irren. Dann meldete sich Ian, und ich sagte: „Warst du nicht der bei dem Konzert, dem CLASH-Konzert? Der mit dem anderen Iain?“ – „Genau, das bin ich“, sagte er. Daraufhin ich: „Okay, dann bist du der Sänger.“ Wir haben ihn nicht mal vorsingen lassen. Wir haben ihn gefragt, auf welche Art von Musik er stand, und das war dieselbe, die wir mochten, also hat er den Job bekommen. Ian und Debbie wohnten damals bei Ians Mutter, in der Nähe der Ayres Road in Moss Side. Hooky und ich sind persönlich zu ihm hin und haben ihm den Job gegeben.

(aus: Jon Savage „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere – Die Geschichte von JOY DIVISION“, Heyne Hardcore, 384 S., 20 Euro, erscheint am 21.04.)