FLATLINERS

Foto© by Riley Taylor

Wut am Ende des Tunnels

Die FLATLINERS feiern in diesem Jahr ihr zwanzigjähriges Bestehen. Mit „New Ruin“ bringt das Quartett aus Toronto sein sechstes Album zur Party mit. Auch wenn es inhaltlich nicht gerade gute Laune versprüht, kann man mit der Platte seinen Spaß haben. Hier sollte darauf hingewiesen werden, dass es sich bei Scott Brigham, Paul Ramirez, Jon Darbey und Chris Cresswell um die Gründungsmitglieder handelt, die sich die, sonst so gerne als Phrase verwendete Bezeichnung „Band aus Freunden“ verdient haben. Es gab Zeiten, da spielten die FLATLINERS unter anderem drei Europatouren pro Jahr, was Lebensstil und Arbeitsethos gut beschreibt. In den letzten Jahren sind sie, nicht nur pandemiebedingt, ein wenig kürzer getreten. 2022 werden wieder einige Shows gespielt, immerhin wollen die Songs vom neuen Album live präsentiert werden. „New Ruin“ erscheint wieder auf Fat Wreck Chords, zu denen man, nach der Veröffentlichung von „Inviting Light“ 2017 auf Rise Records, zurückgekehrt ist. Die Fragen beantwortet uns der schon seit ein paar Jahren auch bei HOT WATER MUSIC tätige Gitarrist und Sänger Chris.

Chris, mir gefällt „New Ruin“ wirklich ausgesprochen gut. Würde man mich fragen, ist es euer bestes Album bisher. Wie geht es dir und der Band mit der fertigen Platte in den Händen?

Danke, dass du das sagst. Es ist schön zu hören, wenn Menschen das so empfinden. An diesem Punkt in der Karriere unserer Band, die ja auch schon eine Weile existiert, ist es für uns alle etwas Besonderes, mit unserer Musik noch einen solchen Eindruck hinterlassen zu können. Wir mögen das Album, weil die einzelnen Songs eine Kraft haben, die sehr gut zu den Inhalten passt. Bei all der Wut, die man auf „New Ruin“ findet, hatten wir beim Aufnehmen trotzdem eine Menge Spaß. Vielleicht sogar den meisten Spaß, den ich bisher bei der Produktion einer FLATLINERS-Platte hatte. Ich denke, diese positive Energie hört man auch, und dadurch bekommen diese eher ernsthaften und zugespitzten Songs noch mal etwas, das sie für mich heraushebt.

Wie verändert sich die Wahrnehmung der eigenen Musik mit der Zeit? Euch gibt immerhin auch schon seit zwanzig Jahren.
Die Wahrnehmung verändert sich stetig und ständig. Ich bin froh, dass wir in all den Jahren nie die Scheu hatten, ein wenig tiefer zu graben und jedes Mal andere musikalische Seiten von uns zu zeigen. Genauso wandelt sich ja auch der eigene Musikgeschmack ständig. Die Songs, die wir in der ganzen Zeit veröffentlicht haben, haben uns eine Menge über uns selbst gelehrt. Es fühlt sich so an, als würde ich mich jedes Mal, wenn ich einen Song schreibe oder wenn wir zusammen ein Album machen, hinterher besser kennen.

Ich finde, musikalisch ist „New Ruin“ eine nachvollziehbare Weiterentwicklung eures letzten Albums „Inviting Light“. Wo kommt die von dir angesprochene Wut auf dem neuen Album her? War das beabsichtigt?
Das ist das erste Album nach einer langen Zeit, vielleicht sogar das erste Album überhaupt, auf dem sich die Texte mit der Welt im Großen und Ganzen, und nicht nur mit meinem eigenen Leben und meinem direkten Umfeld beschäftigen. Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, immer auf Tour und konstant in Bewegung zu sein. Eine Tunnelblick-Vision des Lebens. Diese Erfahrungen, vor allem deren überwältigende Anzahl in den ganzen Jahren, hatten mein Songwriting stark geprägt. Und dann auf einmal habe ich in den letzten zwei Jahren, wie alle anderen auch, viel mehr Zeit damit verbracht, in der jeweiligen Situation festzusitzen, und musste mich damit auseinandersetzen. Viele dieser Umstände haben sich als sehr unangenehm herausgestellt, weil mir die Welt immer wieder ihre hässlichen Seiten gezeigt hat. Ich wurde konstant damit konfrontiert, dass die Menschen viel schneller dabei sind, Anlässe für Konflikte zu finden, als an einer Lösung dafür zu arbeiten.

Was ist für dich eine gute Strategie, um nicht verbittert zu werden?
Daran arbeite ich noch. Aber darüber zu schreiben, wie ich mich fühle, hat mir immer geholfen. Ich habe Vertrauen in die Zukunft und glaube im Endeffekt an das Gute im Menschen. Aber ich müsste lügen, würde ich behaupten, dass dieses Vertrauen und meine Zuversicht in der letzten Zeit nicht unfassbar erschüttert worden wären.

Als ihr mit der Band angefangen habt, wart ihr noch ziemlich jung. Ihr habt anfangs überwiegend Ska-Punk gespielt. Glaubst du, ihr werdet in eurer Midlife-Crisis zu diesem Stil zurückkehren?
Lass es mich mal so sagen: Wir wissen nach wie vor, wie man tanzt.

Zu „Performative hours“ und „Souvenir“ vom neuen Album habt ihr Videos gedreht. Ich hatte den Eindruck, dass Musikvideos längst tot sind. Trotzdem entdeckt man hin und wieder eins, das Aufmerksamkeit verdient. Wie siehst du das?
Ich weiß, was du meinst. Für eine ganze Weile hatten wir eine ähnliche Einstellung zu Videos, allein weil sie nirgends groß gespielt wurden. Vom Fernsehen mal ganz zu schweigen. Man musste sich schon fragen, was umsetzbar und in irgendeiner Form sinnvoll ist. Aber in den fünf Jahren seit unserer letzten Platte hat sich das irgendwie wieder verändert. Es ist gar nicht mehr wichtig, wo dein Video gezeigt wird. Was für Fans, die eine Band unterstützen wollen, interessant ist, sind all die Blüten, die Musik und Kreativität treiben.

Die Videos wurden von Mitch Barnes gedreht. Wie kam der Kontakt zu ihm zustande?
Wir haben Mitch durch seine Arbeit für unsere Freunde THE DIRTY NIL entdeckt. Er ist ausgesprochen talentiert und hat es geschafft, unsere chaotische Ideen, wie wir die Videos für „New Ruin“ gestalten wollen, in eine genauso chaotische, schöne cineastische Realität umzusetzen. Das kreative Team hinter den Videos wurde von Rodrigo Fernandez-Stoll vervollständigt. Durch seine Performance wurde das Ganze noch einmal auf ein anderes Level gehoben. Er und auch der Rest der Besetzung haben es geschafft, Musik und Comedy miteinander zu verbinden. Genauso hatten wir uns das vorgestellt, und andere Menschen in unsere kreativen Bemühungen einzubinden, hat sehr viel Spaß gemacht. Das Ergebnis übertrifft auf jeden Fall unsere kühnsten Erwartungen.

In den fünf Jahren seit „Inviting Light“ wart ihr alles andere als untätig. Du spielst inzwischen bei HOT WATER MUSIC, Paul euer Schlagzeuger, hat mit HOUNDS eine weitere Band, es gibt von euch eine Kochshow für Kiffer auf YouTube und wahrscheinlich noch vieles mehr. Hast du keine Sorge, dass euch das alles irgendwann zu viel wird?
Es stimmt schon, wir haben alle ein Leben außerhalb der FLATLINERS. Ich denke, wenn man zwanzig Jahre dabei ist, ist das unumgänglich. Wir unterstützen uns gegenseitig, wenn es den anderen außerhalb der Band musikalisch in den Fingern juckt, einfach weil wir uns schon so lange kennen. Wir haben uns und unsere Musik gefunden, als wir noch sehr jung waren. Damit so weit gekommen zu sein, fühlt sich noch immer unglaublich an. Und nach all den Jahren ist unsere Begeisterung für die Musik nur noch gewachsen. Also ist die Möglichkeit, so viel zu spielen, wie es geht, auch außerhalb unserer gemeinsamen Band, etwas, woran wir glauben. Weil wir an uns glauben.

Wie organisiert ihr eure Zeit?
Organisation ist nicht gerade die offensichtlichste Fertigkeit, die man lernt, wenn man beginnt, in einer Band zu spielen, sogar weit davon entfernt. Vielleicht sind wir darin besser geworden, weil es bei all den Bands, in denen wir aktiv sind, eine Notwendigkeit ist. Aber wir befinden uns dort, wo wir wollen, innerhalb einer großen Familie, die wir durch Musik gefunden haben.

Mir gefällt das Artwork der neuen Platte.
Unsere Freunde von Quite Alright sind für das Design von „New Ruin“ verantwortlich und sie haben den Nagel absolut auf den Kopf getroffen. Wir haben viel darüber gesprochen, worum es in den Songs geht, was das übergeordnete Thema des Albums ist, und wie wir dieses Gefühl auf den ersten Blick vermitteln wollen. Es geht darum, dass es so wirkt, als würde die Welt um uns herum in Brand stehen, verursacht von uns Menschen selbst. Stilistisch sollte es in Richtung Neunziger Jahre gehen. Eines meiner liebsten Albumcover ist das von „Insomniac“ von GREEN DAY, ich bin wirklich glücklich, dass wir uns für diesen surrealen Collagen-Vibe entschieden haben.