FLANDERS 72

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Tränen lügen nicht

Es heißt ja, das dritte Album sei für eine Band immer besonders schwierig. Diese Erfahrung mussten auch die brasilianischen Pop-Punker FLANDERS 72 mit ihrem dritten Album „Atomic“ machen. Nur ging es bei ihnen nicht um die Frage, ob es der Band gelingt, die beiden ersten überzeugenden Alben noch zu toppen. Vielmehr hatte das Trio eine echte Tragödie zu verarbeiten. Kurz nach dem Beginn der Studioarbeiten ist Chuck, der Schlagzeuger der Band, tödlich verunglückt. Paulinho, der Frontmann von FLANDERS 72, erzählt, wie es danach mit der Band weiterging.

Das dritte Album einer Band soll ja immer besonders schwierig sein. Wie seht ihr das?

Das ist was dran. Bei deinem ersten Album gibt es keine riesigen Erwartungen und es gibt nichts, mit dem das Album konkret verglichen werden kann. Wir hatten zwei Alben draußen und beide haben sehr gute Kritiken bekommen. Da steigt schon der Druck, weil auch erwartet wird, dass das neue Album noch besser wird.

Das dritte Album war aber auch noch aus einem ganz anderen Grund problematisch für euch.

Das ist leider richtig. Mitte 2015 haben wir mit den Arbeiten an dem Album angefangen. Nachdem wir im Studio für die ersten fünf Songs Demoversionen eingespielt hatten, ist unser Schlagzeuger und Freund Chuck tödlich mit dem Motorrad verunglückt. Es war eine wirklich harte Zeit für uns. Wir waren so fertig, dass wir knapp drei Monate pausieren mussten. Erst wussten wir nicht, was wir machen sollten. Dann haben wir aber mit Big Mike einen neuen Schlagzeuger rekrutiert und weitergemacht. Es war wirklich schwer für uns, aber wir haben uns gesagt: The show must go on!

Es war doch sicher nicht einfach, nach dem Tod von Chuck einen neuen Schlagzeuger zu finden. Musstet ihr große Überzeugungsarbeit leisten, um Big Mike für die Band zu gewinnen?

2012, als uns unser damaliger Schlagzeuger verlassen hat, haben wir schon mal einen Nachfolger gesucht und da stand Mike auch schon ganz oben auf unserer Wunschliste. Zu diesem Zeitpunkt hatte er aber gesundheitliche Probleme wegen seiner Augen, die verhindert haben, dass er damals bei uns eingestiegen ist. Jetzt, drei Jahre später, hat es ihn dann aber doch gepackt und er gibt jetzt zusammen mit uns Gas. Er hat zwar immer noch Probleme mit den Augen und ist nachts fast blind, aber ansonsten kommt er gut damit zurecht.

War es immer klar, dass ihr weitermacht oder gab es auch Gedanken, ganz aufzuhören?

Ehrlich, ich hätte nie mit der Musik aufgehört. Es war klar, dass wir etwas Zeit brauchen, aber die Band aufzulösen, war nie eine Option für uns.

Ist das Album auch eine Form für euch, den Tod eures Freundes zu verarbeiten?

Es ist eine Tragödie, wir hatten gemeinsam so viel Spaß. Es wäre das erste Album gewesen, das wir gemeinsam an den Start gebracht hätten. Es war für uns klar, dass wir das Album auch in Gedenken an Chuck veröffentlichen. Das war mit Sicherheit auch ein Antrieb für uns, es fertigzustellen. Wir glauben schon, dass Chuck „Atomic“ geliebt hätte.

Mit „You were here“ habt ihr auch einen Song auf dem Album, der konkret den Verlust eures Freundes aufgreift.

2015 war das schlimmste Jahr, das ich bisher erleben musste. Chuck war nicht der einzige Verlust, den ich zu beklagen habe. Im angesprochenen Song werden drei Menschen gewürdigt, die im letzten Jahr verstorben sind. Neben Chuck waren dies mein alter Freund Mano und Brandon, der Schlagzeuger von TEENAGE BOTTLEROCKET. Mano war mein Nachbar und bester Freund, seit ich fünf Jahre alt war. Wir hingen oft zusammen rum und haben fast täglich zusammen Fußball gespielt. Im letzten Jahr kam er beim Tauchen in einem See ums Leben. Und der Tod von Brandon ist auch eine Katastrophe. Wir haben TEENAGE BOTTLEROCKET 2014 auf ihrer kleinen Brasilientour supportet. Wir haben gemeinsam eine fantastische Zeit gehabt und uns mit der Band angefreundet.

In dem Text heißt es, dass ihr Chuck eines Tages wieder treffen werdet. Glaubt ihr daran?

Ich habe durchaus etwas übrig für spirituelle Dinge. Ich glaube schon, dass wir uns wiedersehen werden, wo auch immer das sein mag. Der Institution Kirche stehen wir aber sehr kritisch gegenüber. Auf dem neuen Album haben wir dazu auch den Song „You say Amen to the wrong man“. Es gibt hier so viele verlogene Priester, die gerade der armen Bevölkerung das Paradies versprechen und ihnen damit das letzte Geld aus der Tasche ziehen. Es ist wirklich erschreckend, wie viele Menschen hier darauf reinfallen, sich einen Platz im Himmel kaufen zu können. Im brasilianischen Fernsehen wimmelt es nur so vor lauter Kanälen, in denen dir dein Seelenheil versprochen wird.

Das neue Album wird auch erstmals außerhalb von Brasilien veröffentlicht.

Wir haben das Album in Brasilien im März in Eigenregie als CD rausgebracht, es folgt im Mai eine CD-Version für Japan auf Dumb Records und Anfang Juni eine LP für Europa in Kooperation mit dem deutschen Label Partysprenger Records und dem spanischen Label Picnic Records. Das ist aktuell wirklich eine aufregende Zeit für uns. „Dummyland“, unser zweites Album, ist schon über den Picnic-Mailorder vertrieben worden, da haben wir aber nur so circa 20 CDs verkauft.

Wie euer zweites Album habt ihr auch „Atomic“ über eine Crowdfunding-Kampagne finanziert. Gab es Unterschiede zur ersten Crowdfunding-Aktion?

Diesmal lief die Aktion etwas schleppend an, brachte am Ende aber etwas mehr Geld in die Kasse. Wir haben 1.000 Real mehr eingenommen, das sind ungefähr 250 Euro. Erfreulich ist, dass weltweit Geld reingekommen ist, sogar aus Deutschland und Belgien. Für Freunde und Unterstützer außerhalb Brasiliens gab es die Möglichkeit, den eigenen Namen im CD-Booklet lesen zu können und eine Digitalversion des Albums zu erhalten. Der Versand des Albums in die ganze Welt ist leider zu teuer, das rechnet sich nicht.

„Atomic“ wird eure erste Vinyl-Veröffentlichung sein. Warum gab es eure Alben bisher nur auf CD?

Vinyl zu produzieren ist in Brasilien viel zu teuer. In Brasilien gibt es gerade mal ein Presswerk, das Vinyl produziert. Entsprechend hoch sind die Preise. Für den Preis einer Produktion von 1.000 LPs kaufen sich viele Brasilianer ein Auto.

Wenn Vinyl in Brasilien so teuer ist, wird es dann überhaupt noch nachgefragt?

Vinyl ist hier trotz der hohen Preise sehr populär. Quasi in jedem Haushalt gibt es noch einen Plattenspieler. Wenn der Preis einigermaßen fair ist, wird Vinyl noch gerne gekauft. Und Fans sind dann bereit, für ein gutes Album auch mal etwas mehr Geld auszugeben. Für das Doppelalbum „Ramones Mania“ habe ich zum Beispiel 200 Real bezahlt, also ungefähr 50 Euro. Das ist hier ein durchaus üblicher Preis.

Ihr habt ihr jetzt einen Song auf Deutsch aufgenommen. Sprecht ihr eigentlich Deutsch?

Wir haben nur einen deutschen Spruch drauf: „Danke, ihr Penner!“ 2014 waren wir auf einer kleinen Europatour in Deutschland und Belgien. Bei unserem Konzert in Berlin war ein guter Freund unseres Tourmanagers beim Konzert. Als wir ihn gefragt haben, wie wir uns am besten auf Deutsch nach einem Song beim Publikum bedanken, empfahl er uns diesen Satz. Als wir das das erste Mal sagten, schauten uns die Konzertbesucher noch ungläubig an, aber mit jeder Wiederholung stieg die Begeisterung der Zuschauer. Wir hatten viel Spaß damit. Zeitgleich mit unserer LP erscheint in Deutschland auf Partysprenger Records noch eine Tribute-Single für den deutschen Sänger Michael Holm. Auf dieser Platte covern wir den Song „Tränen lügen nicht“. Im Studio habe ich quasi den Text Zeile für Zeile, an den manchen Stellen sogar fast Wort für Wort, eingesungen, so schwierig war das für mich. Aber es hat auch Spaß gemacht und ich bin schon auf die Reaktionen gespannt. Ich weiß nur nicht, ob wir den Song auch live hinbekommen.

In Deutschland assoziiert man mit Brasilien zwei Klischees: Samba und Fußball. Jetzt habt ihr auch einen Fußball-Song geschrieben.

Ist das ein Problem? Wir lieben Fußball und kicken auch regelmäßig mit der Band. Der Song ist aber nicht so ganz ernst zu nehmen. „Go Aimoré“ ist ein Song über den einzigen Fußballclub in unserer Heimatstadt São Leopoldo. Der spielt nur regional, ist also in Brasilien wenig bekannt und auch nicht sonderlich erfolgreich, dafür aber total sympathisch. Die eingefleischten Aimoré-Fans haben sogar alle schon die CD gekauft, auch wenn sie nicht unbedingt Punkrock-Liebhaber sind. Fünf CDs haben wir bestimmt schon an Fußballfans verkauft, haha. Aber keine Angst, Samba mögen wir nicht.