Im Dezember 2011 spielte eine Formation, bestehend aus den Ex-BLACK FLAG-Mitgliedern Keith Morris, Chuck Dukowski und Bill Stevenson und unterstützt von Stephen Egerton (DESCENDENTS), im Rahmen der Geburtstagsfeier des kalifornischen Konzertveranstalters Goldenvoice die Songs der „Nervous Breakdown“-EP. Die Band nannte sich BLACK FLAG – und wird 2013 einige weitere Konzerte spielen. Da mittlerweile aber SST-Labelboss und BLACK FLAG-Gründer Greg Ginn (Gitarre) zusammen mit Ron Reyes seine Neuauflage von BLACK FLAG ins Leben gerufen hat und offensichtlich über die Namensrechte verfügt, treten Morris und Co. (seit Kurzem gehört auch Dez Cadena dazu, der nach Morris und Reyes der dritte Sänger von BLACK FLAG war, später bei denen Gitarre spielte und seit ein paar Jahren bei den MISFITS spielt) nun unter dem Namen FLAG auf. Ich sprach mit Keith Morris über die Situation und was von den Konzerten zu erwarten ist.
Keith, im Februar waren viele schockiert, als es hieß, dass du im Koma liegst. Was war passiert – und wie geht es dir?
Ich war mit OFF! in Australien auf Tour gewesen, zuletzt spielten wir in Westaustralien. Um von dort in die USA zurückzufliegen, muss man zuerst ein paar tausend Kilometer quer über Australien nach Osten fliegen, um über Brisbane oder Sydney zurück nach L.A. zu gelangen. Dabei durchquert man schon drei Zeitzonen. Auf dem Flug in die USA hat man dann noch weitere Zeitverschiebungen und zusätzlich die Datumsgrenze. Nun ist es für Diabetiker wie mich wichtig, regelmäßig zu essen. Ich frühstücke immer zwischen neun und zehn, esse zwischen 13:30 und 14:30 Uhr zu mittag und Abendessen gibt es zwischen 18:30 und 19:30 Uhr. Man achtet also darauf, alle vier, fünf Stunden etwas zu sich zu nehmen. Durch den Rückflug in die USA kam dieser Zeitplan völlig durcheinander, ich musste kurz vor der Landung in L.A. frühstücken, um halb zehn morgens waren wir da, und ich bin direkt zu meiner Freundin gefahren. Ich wollte erst was essen, mich dann etwas hinlegen, doch blöderweise legte ich mich zuerst hin. Ich schlief ein – und fiel ein in hypoglykämisches Koma. Mein Blutzuckerspiegel war einfach zu tief. Meine Freundin rief den Notarzt, der kam nach ein paar Minuten, spritzte mir Glucose, und ich war gleich wieder da. Mir ist das vor ein paar Jahren schon mal passiert, als ich nach Oslo geflogen war, um mit TURBONEGRO beim Oya-Festival aufzutreten, ich wusste also, wie mir geschieht. Bei dieser Art von Koma liegst du mit offenen Augen da, bist eigentlich wach, kannst aber nicht sprechen oder sonst wie kommunizieren – es ist eine wirklich surreale, seltsame Erfahrung. Und das Ganze ist mir dann zehn Tage nach der Rückkehr aus Australien noch mal passiert, allerdings nachts um zwei, während ich schlief. Zum Glück wachte meine Freundin auf, weil ich irgendwas gemurmelt hatte – und dann nicht antwortete. Sie rief den Notarzt, diesmal kam ich ins Krankenhaus, aber mittlerweile bin ich wieder okay. Ich musste aber erkennen, dass ich besser auf mich aufpassen muss – ich bin im übertragenen Sinne voll gegen die Wand gelaufen.
Wie meinst du das?
Die letzten Monate waren anstrengend. Dimitri, der Gitarrist von OFF!, der sich auch um unser Management kümmert, hatte uns ein Pensum auferlegt, als seien wir Kids, die gerade eine Majorvertrag unterschrieben haben. Nur bin ich eben nicht mehr 18, sondern 57, und so lief ich voll gegen die Wand. Als ich mich wieder berappelt hatte, war mir klar, dass ich eine Auszeit brauche. Anderthalb Wochen nach der Rückkehr aus Australien hätte eine Westcoast-Tour beginnen sollen, die mussten wir absagen. Wir hätten von Anfang an drei Wochen Pause einplanen müssen. Ich lasse es jetzt etwas ruhiger angehen und nutze die Zeit, um meine BLACK FLAG-Hausaufgaben zu machen und mich auf die anstehenden Konzerte vorzubereiten.
Viele Leute hier in Europa sind sehr gespannt auf die Konzerte der beiden Versionen von BLACK FLAG. Und natürlich wird diskutiert, welche der beiden Bands die „richtige“ ist, und so weiter. Wie lautet deine Version der Geschichte?
Chuck Dukowski wurde von Gary Tovar, dem Mann hinter der großen Konzertagentur Goldenvoice, Ende 2011 gefragt, ob er nicht bei der Party zum dreißigjährigen Firmenjubiläum eine Rede halten wolle. Chuck meinte, er sei kein Redner, sondern Bassist, deshalb könne er höchstens anbieten, Musik zu spielen. Er rief mich an und fragte, was ich von der Idee halte, und ich war sofort dabei. Chuck ist einfach ein netter Kerl und ein exzellenter Bassist. Er meinte, Bill Stevenson werde Schlagzeug spielen, Stephen Egerton Gitarre, und die beiden sind wie kleine Brüder für mich, da sagte ich natürlich zu. Und so kam es zur Idee, die Songs der „Nervous Breakdown“-EP zu spielen. Der Auftritt war grandios, die Reaktionen darauf überwältigend – viel besser, als wir erwartet hatten. Da lag es auf der Hand, in der Richtung weiterzumachen, also hier und da mal ein Konzert zu spielen. Dass wir das nicht wieder Vollzeit machen, war klar, denn wir haben alle andere Bands, die uns wichtig sind. Und so werden wir jetzt eben für ein paar Konzerte nach Europa kommen.
Und was ist mit der anderen Band ...?
Für die anderen kann ich nicht sprechen. Und über den einen Kerl will ich nicht mal reden. Ron Reyes ist unser Freund, und wir wünschen ihm viel Glück und dass er Spaß hat an der ganzen Sache. Der andere Kerl ... Na, es ist einfach so, dass die ja bis vor Kurzem gar nicht gesagt haben, wer eigentlich in der Band ist. Ich kann also nichts zur Qualität dessen sagen, was uns da erwartet. Wir haben jedenfalls unsere eigene Agenda, wollen spielen, wann immer sich die Gelegenheit bietet, wer auch immer uns sehen will – die gleiche Attitüde also wie damals, als wir die Band gerade gegründet hatten.
Die Tatsache, dass ihr als FLAG auftretet und die anderen als BLACK FLAG deutet aber daraufhin, dass in den letzten Monaten auch Anwälte bemüht wurden – oder sehe ich das falsch?
Ja, es gab Diskussionen und Anwälte waren auch im Spiel. Wir wurden als „a bunch of pussies“ bezeichnet, es wurde behauptet, wir würden den Namen BLACK FLAG schänden, aber ich war Gründungsmitglied der Band, der erste Sänger, erlebte vier verschiedene Bassisten, zwei Drummer, ich lebte all die Songs. Ich muss mich niemandem gegenüber erklären oder verteidigen für das, was ich tue. Wir alle in FLAG haben jedenfalls das Recht, das zu tun, was wir tun. Ich habe all die Diskussionen mitgemacht in den frühen Jahren: Was machen wir, wo spielen wir, mit wem wollen wir auftreten? Und für Chuck gilt das genauso, ebenso für Billie – und auch für Stephen. Wenn jemand anfangen will, mit Dreck zu werfen – bitte schön, aber den Weg werden wir nicht gehen. Stattdessen stellen wir uns auf die Bühne und werden ein paar Songs spielen, und dann soll jeder selbst entscheiden, was davon zu halten ist. We ... mean business!!! Wir meinen es ernst!
Mit OFF! hast du vor ein paar Jahren diesem klassischen kalifornischen Punkrock-Sound, für den BLACK FLAG immer standen, neues Leben eingehaucht. Ist es völlig abwegig, wenn ich vermute, dass jener gewisse Herr, dessen Namen du nicht aussprechen willst, auch wegen deines Erfolgs mit OFF! das Bedürfnis verspürt hat, nun selbst in Form von BLACK FLAG wieder mitzumischen? Angesichts seiner Releases in den letzten Jahren hatte man ja nicht den Eindruck, dass Greg Ginn großes Interesse an Punk und Hardcore hat.
Das ist durchaus eine Möglichkeit, aber ich kann nicht für diese Leute sprechen, kenne ihre Motive nicht. Es soll ja auch ein neues Album kommen, aber so richtig interessiert mich das auch nicht. Ich habe Greg Ginn in der jüngeren Vergangenheit auch mal live spielen sehen, und ganz ehrlich, ich musste da weg, so entsetzt war ich. Das hat alles was mit dieser BLACK FLAG-Reunion von 2003 zu tun.
Im September 2003 spielten BLACK FLAG drei Reunion-Shows in Los Angeles zugunsten einer Katzenhilfsorganisation. Dez Cadena war der Sänger, Greg Ginn spielte Gitarre, Robo Schlagzeug und C’el Revuelta Bass.
Ich wurde eingeladen, dabei zu sein, ging zu den Proben – und wurde völlig respektlos behandelt. Das muss ich mir aber nicht geben, ehrlich. Letzten Endes war ich also nicht bei diesen Reunion-Konzerten dabei und bin froh darüber, denn nach allem, was ich davon gehört und gelesen habe, war es wohl nicht besonders toll. Die Leute gingen nach dem Konzert raus, schüttelten den Kopf und fragten sich, wofür sie jetzt gerade Geld ausgegeben hatten.
BLACK FLAG arbeiten an einem neuen Album – was ist mit FLAG?
Wir haben keine solchen Pläne, denn wir haben alle andere Bands und sind damit gut ausgelastet. Würde ich dir jetzt erzählen, dass ein Album geplant ist, wäre ich ein Lügner. Wir haben Jahre an Arbeit in unsere Bands gesteckt, das wirft man nicht weg. Und mit OFF! läuft es ja auch sehr gut, ich mag meine Mitmusiker. Außerdem ist es ja auch schon schwer genug, überhaupt mal gemeinsame Termine zu finden: Dez spielt bei den MISFITS, Billie und Stephen haben ALL und DESCENDENTS, Chuck hat das CHUCK DUKOWSKI SEXTET. Wenn man dann in den Kalender schaut, um freie Tage für FLAG zu finden, wird es da ganz schnell eng.
Ich habe noch eine eher philosophische Frage: Inwiefern hat Nostalgie etwas mit FLAG zu tun?
Lass es mich so sagen: Es gibt eine Menge Lästerer und Schwarzseher, Menschen, die Scheiße erzählen, die zweifeln, ob wir irgendwas können, solche, die uns hassen, Besserwisser, die sagen „Ohne Henry ist das doch nicht BLACK FLAG!“ oder „Ohne Greg? Was soll das denn!“, und so weiter. Fakt ist: Da draußen sind viele Oldschool-Musikfans, die Bock darauf haben, mit der Faust in der Luft unsere Songs mitzugrölen und die einfach Spaß haben wollen. Und da sind die ganzen Kids, die Filme gesehen haben wie „The Decline of Western Civilization“ oder „American Hardcore“, die Bücher gelesen haben wie „Our Band Could Be Your Life“, „We Got the Neutron Bomb“ oder „Spray Paint the Walls“, und die damals nicht dabei sein konnten. Jetzt bekommen sie die Chance, die Songs von damals live zu sehen. Ein anderer Punkt ist, dass man als Mitglied einer Band, die für eine bestimmte Gruppe von Menschen sehr wichtig ist, über all die Jahre ein ziemlich dickes Fell entwickelt, weil sich jeder da draußen berufen fühlt, zu so ziemlich allem, diese Band betreffend, seine Meinung zu äußern. Mit so einem dicken Fell kann man den ganzen Scheiß, den man abbekommen soll, ganz gut abwehren.
Was für Songs werdet ihr in Deutschland spielen? Nur BLACK FLAG-Material?
Würde ich das jetzt im Detail beantworten, wäre ja die ganze Überraschung dahin, oder? „What songs are you gonna play?“ ist die meist gestellte Frage der letzten Wochen, aber bittet man einen Filmregisseur, im Vorfeld im Detail die Story seines Films zu erläutern? Wir haben ein Set von ungefähr dreißig Songs, und wir haben Dez als zweiten Gitarristen dabei. Es gibt ja Fans, die der Meinung sind, die Phase von BLACK FLAG mit Dez an der Gitarre sei die beste gewesen. Und es gibt auch Leute, die ihn für den besten Sänger halten. Wird er also singen? Natürlich! Sonst hätten wir ihn ja nicht gefragt, denn ja, wir wollen was von seinem speziellen „Dezo vocalizing“ hören. Und ich muss mich jetzt noch darum kümmern, die ungefähr 15 Songs zu lernen, die aus der Zeit stammen, als ich nicht mehr Sänger der Band war. Ich werde also Songs singen, die eigentlich mal Ron Reyes gesungen hat, und welche, die Dez, und auch welche, die Henry Rollins damals sang. Die Shows in Europa werden übrigens die ersten Konzerte in diesem Line-up mit Dez sein, und ich freue mich darauf, denn wir haben viele Fans in Deutschland und Europa, die ausrasten werden bei unserem Auftritt. Die werden Spaß haben, wir werden Spaß haben – wir würden das alles nicht machen, wenn wir es nicht drauf hätten, die Songs zu spielen, wie sie es verdient haben gespielt zu werden.
Verrate mir zum Schluss doch bitte noch, was in Sachen OFF! ansteht.
Dimitri und ich haben schon angefangen, Songs für ein neues Album zu schreiben, einen Track haben wir auch schon aufgenommen. Bis Juli wollen wir den Songwritingprozess abschließen und dann im Oktober und November ins Studio gehen. Bei allem Stress habe ich gerade wirklich sehr viel Spaß, ich war nie in all den Jahren, seit ich in Bands spiele, mehr beschäftigt als in diesem Jahr.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #107 April/Mai 2013 und Joachim Hiller