Jüngst erschien mit „Teraz“ das sechste Album der polnischen Hardcore/Punkband EYE FOR AN EYE, die sich vor 25 Jahren gegründet hat. Nach einer kleinen Auszeit und der Gründung der Band L.A.S.T. haben sie letztes Jahr in den Corona-Pausen einige Konzerte gespielt und eifrig Songs geschrieben. Sängerin Ania berichtet uns von der neuen Platte und wie sonst auch geht es in dem Interview sehr politisch zu. Als Nachbarland bekommt Polen den Krieg Russlands gegen die Ukraine noch unter ganz anderen Gesichtspunkten zu spüren als das „alte“ Westeuropa.
Das letzte Mal haben wir vor fast genau einem Jahr miteinander gesprochen. Ihr hattet euch gerade als Band wiedervereinigt, wolltet die ersten Konzerte nach Corona spielen und ein neues Album aufnehmen. Jetzt ist es seit ein paar Monaten in den Läden – wie konnte das so schnell gehen?
Zum Glück haben wir es trotz Pandemie geschafft, unsere Pläne zu verwirklichen. Wir haben eine ganze Reihe von Konzerten und Festivals in Polen gespielt, waren kürzlich in Oslo und in Zürich. Wir haben es geschafft, Material aufzunehmen und es sowohl auf CD als auch auf Vinyl bei Pasazer und Campary Records zu veröffentlichen. Während Corona haben wir sehr intensiv daran gearbeitet. Da wir sowieso keine Konzerte spielen konnten, trafen wir uns zum Proben. Es war außerdem so viel los in der Welt, dass es keinen Mangel an Inspiration für die Texte gab – leider keine sehr optimistischen.
Mir scheint, dass es etwas punkiger und lockerer klingt als das letzte Album, das ihr – verkürzt – als L.A.S.T. aufgenommen habt.
Ja, L.A.S.T. sollten härter sein. Als wir EYE FOR AN EYE reaktiviert haben, wollten wir wieder zu den Melodien zurückkehren. Ich finde mich in solchen Rhythmen viel besser wieder und möchte singen, nicht nur schreien. Außerdem sind zwei neue Musiker zu uns gestoßen und das ist auch ihr Verdienst.
Mir scheint aber alles andere gleich geblieben. „Teraz“ ist wieder wunderbar melodisch und emotional, wütend, laut, schnell, aber es gibt auch klassische ruhige Parts in den Songs.
Das freut mich zu hören. Wir versuchen, uns nicht auf einen Stil festzulegen. In einem Song gibt es zum Beispiel einen Teil eines Wiegenliedes, das auf Arabisch gesungen wird. Es erzählt die Geschichte von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak, die mitten im Winter in den Wäldern ausgesetzt wurden, weil die polnische Regierung sie nicht ins Land lässt und Belarus sie nicht wieder zurücklässt. Das ist immer noch so. Es ist unmöglich, über solche Dinge ohne Wut, Zorn und Trauer zu singen. Vielleicht ist das der Grund, warum man diese Emotionen hört, auch wenn man unsere Sprache nicht spricht.
Im letzten Interview haben wir auch über die Situation in Polen gesprochen, es ging auch um Abtreibungsrechte. Wie sieht es heute aus?
Die Situation für Frauen ist dramatisch. Mädchen sterben in Krankenhäusern, weil eingeschüchterte Ärzte Angst haben abzutreiben, auch wenn das Leben der Mutter bedroht ist. Oft wird aufgrund der Restriktionen bis zur letzten Minute gewartet, und in dieser Zeit sterben junge Frauen an einer Sepsis. Wir sind ins 19. Jahrhundert zurückgefallen. Nach jedem solcher Vorfälle gehen die Frauen auf die Straße, was aber nichts ändert. Wenn ich mich heute entscheiden müsste, ob ich Mutter werde – ich würde es nie wagen. Die Geburtenrate in Polen ist stark zurückgegangen. Junge Mädchen sagen sogar, dass sie in diesem Land niemals Kinder haben wollen, und ich verstehe sie vollkommen.
Jetzt ist bei euch auch als Grenzland noch der Krieg Russlands mit der Ukraine dazugekommen. Ich war ehrlich gesagt überrascht, dass die EU hier geeint war und Polen und Ungarn ihre Grenzen nicht geschlossen haben, sondern bereitwillig Geflüchtete aufgenommen haben.
Seien wir nicht naiv. Das war einfach eine Schockreaktion. Die EU ist nicht besonders besorgt über das Schicksal der fünf Millionen Menschen, die die Ukraine verlassen haben. Die polnische Regierung hat viel von Hilfe geredet und damit in der ganzen Welt geprahlt, aber die Wahrheit ist, dass nicht die Regierung, sondern ganz normale Menschen geholfen haben. Wir, die Bürger, haben die Geflüchteten willkommen geheißen, haben ihnen unsere Häuser geöffnet, in denen sie oft noch heute leben, haben unser Essen mit ihnen geteilt, haben Lebensmittel, Kleidung und das Nötigste gesammelt. Die Regierung hat denjenigen, die Geflüchtete aufgenommen haben, finanzielle Unterstützung versprochen, aber sie hält sich nicht daran – mit der Begründung, dass es keine Mittel gibt. Bei uns lebt noch eine Familie aus der Ukraine. Wir müssen ihnen dringend ein Haus organisieren, denn die Unterkunft, die wir ihnen anbieten konnten, ist für das Wohnen im Winter nicht geeignet. Wir haben eine emotionale Bindung zu ihnen aufgebaut und sie bekommen weiterhin Hilfe von uns, aber das ist schwierig, wenn es keine staatliche Unterstützung gibt.
Heute würde ich nicht mehr wie früher für einen Austritt aus der NATO auf die Straße gehen und ich unterstütze sogar diese massiven Waffenlieferungen. Das macht mir nicht einmal mehr Angst.
Deutschland mag es nicht spüren, aber für uns ist der russische Imperialismus eine reale Bedrohung. Putin hat mehr als einmal den Traum von der Wiederherstellung der Macht der UdSSR erwähnt. Und ich würde nicht in einem Land leben wollen, in dem Kritik an der Regierung mit vielen Jahren Gefängnis bestraft wird. Unsere diktatorische Regierung durch die PiS-Partei reicht mir. Ich bin froh, dass Polen in der NATO ist, obwohl ich mir über die Einheit der NATO nicht so sicher bin, falls Russland die Grenze nach Polen überschreitet. Leider wird in Europa eine Menge Propaganda verbreitet, die Russlands Handlungen erklärt. Für mich gibt es jedoch keine Entschuldigung für die Verbrechen und die Bombardierung von Städten. Die Ukraine ist ein unabhängiges Land, und es ist mir völlig egal, ob Russland sich durch die prowestlichen Bestrebungen der Ukraine bedroht fühlt. Das ist so, als würde ich meinem Nachbarn verbieten, Kinder zu bekommen, weil ich mich bedroht fühle, dass sie hinter der Mauer schreien werden. In Russland und Weißrussland gibt es ein striktes Regime, man kann zwanzig Jahre ins Gefängnis kommen, wenn man den Krieg kritisiert. Wir kennen einige Leute aus Weißrussland, antifaschistische Aktivisten, die dort wegen ihres Engagements verhaftet und gefoltert werden. Russland ist die gleiche Diktatur und hat seit vielen Jahren den gleichen Präsidenten.
Jello Biafra hat auf seinem letzten Album mit der GUANTAMO SCHOOL OF MEDICINE in dem Lied „We created Putin“ gesagt, dass es für Russland nach dem Zusammenbruch des Ostblocks einen Marshallplan hätte geben sollen, genau wie für andere osteuropäische Länder.
Heute ist es schwierig, diese Frage zu klären. Es ist nicht ganz richtig, dass die Unterstützung für Extremisten immer aus der Armut kommt. Es gibt zum Beispiel viele andere ehemalige Ostblockländer, die sich trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auf den Weg zur Demokratie gemacht haben. Den Russen wurde dagegen schon immer die Botschaft vermittelt, dass die westliche Welt – und insbesondere die USA – ihr größter Feind ist und sie die letzte Bastion „normaler“ Werte sind. Heutzutage wird dort der Glaube an „verrottete“ linke Werte, Angst vor zu viel Freiheit, Homosexualität und Säkularisierung der Gesellschaft stark angeheizt. Auch die orthodoxe Kirche spielt dabei eine Rolle. Wir kennen diesen Unsinn – denn auch in Polen ist diese Botschaft populär, weshalb die PiS immer wieder Wahlen gewinnt. Die Menschen, die unter dem kommunistischen System aufgewachsen sind, haben Angst vor zu viel Freiheit, sie sehen darin eine Bedrohung – ich beobachte das bei der Generation meiner Eltern. Wir wissen nicht, wie groß die Unterstützung für den Krieg in der russischen Gesellschaft tatsächlich ist, denn dort kann niemand Putins Entscheidungen offen kritisieren. Aber ich denke, viele Menschen dort glauben, dass die Ukraine erstens nie ein völlig unabhängiger Staat war und zweitens ein stiller Vorposten des feindlichen Westens ist.
Vorhin habe ich meine Nachrichten-Apps gelöscht und mich von allen News abgemeldet. Ich habe mittlerweile körperliche Schmerzen davon und versuche jetzt, mich auf die Zeitung zu beschränken, die ich morgens lese. Wie gehst du damit um, du bist ja viel näher dran?
Auch ich habe mich irgendwann von den Nachrichten abgekapselt. Ich fing an, Angstzustände zu kriegen. Und eines Tages beschloss ich, mich davon abzugrenzen und diese Energie für etwas Positives zu verwenden. Ich organisierte Hilfe für eine konkrete Familie. Plötzlich merkte ich, wenn man einen Anstoß gibt, dass viele Leute einen unterstützen wollen. Unsere ganze Punk-Crew hat sich engagiert. Jemand hat einen Kühlschrank gebracht, einer den Stromanschluss repariert, der nächste hat Futter für den Hund besorgt, und in zwei Tagen haben wir für eine ukrainische Familie und ihren Hund eine gute Bleibe organisiert. Ich dachte, das ist der beste Weg, um nicht mehr in Angst zu leben. Engagiere dich und helfe einfach. Ängste beruhen auf Einbildung – also auf Fiktion! Hilfe ist sehr real und greifbar, sie beschäftigt dich und du hast dann auch keine Zeit für Angst. Daher auch der Titel des Albums „Teraz“, das auf Englisch „Now“ bedeutet. Ständig darüber nachzudenken, was passieren könnte, ist absurd, denn wir können es sowieso nicht vorhersagen. Es ist notwendig, sich auf das „Jetzt“ zu konzentrieren, die Situation realistisch einzuschätzen und darüber nachzudenken, was ich jetzt tun kann, damit das Morgen nicht so gefährlich ist, wie es scheint. Menschen aus der Ukraine können sich davon nicht abkoppeln, weil sie geliebte Menschen dort zurückgelassen haben. Für sie ist es viel schwieriger.
Ihr habt das Gedicht „Hope“ von Emily Dickinson aus dem Jahr 1861 vertont und als letzten Song ausgewählt. Was bedeutet es für dich?
Es ist ein wunderschöner Text. Ich habe ihn zuerst in einer Übersetzung des polnischen Dichters Stanislaw Baranczak kennen gelernt, erst später habe ich die englische Version gelesen. Und die ist sehr melodisch. Wir wollten nicht, dass unsere Sicht der Dinge nur negative Untertöne hat. In dem, was derzeit in der Welt geschieht, gibt es – trotz allem – Hoffnung auf Veränderung. Es sind wir, die reichen Gesellschaften des Westens, die sich ändern müssen. Mir müssen endlich aufhören, darüber zu jammern, wie schlecht es uns geht, weil wir uns nicht zweimal im Jahr einen Auslandsurlaub leisten können. Auf der ganzen Welt verhungern Menschen, und wir bemitleiden uns ständig selbst, weil wir für die Fahrt ins Stadtzentrum bezahlen müssen und uns keinen Restaurantbesuch leisten können. Wir sind narzisstisch, egozentrisch und unersättlich. Wir würden gerne den Status quo bewahren – aber das ist nicht möglich. Deshalb sehe ich in der aktuellen Krise trotz allem Hoffnung.
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