Die polnische Hardcore-Band EYE FOR AN EYE hat bereits eine lange Geschichte hinter sich. Von 1997 bis 2015 veröffentlichten sie fünf polnischsprachige Alben und zum Abschied die fantastische Live-LP „Ostatni“. Weil sie „zu groß“ geworden waren, lösten sie sich auf und gründeten L.A.S.T. als neue Band. Nun kehren sie als EYE FOR AN EYE zurück und arbeiten an einem neuen Album. Mit Sängerin Ania sprach ich im Frühsommer über die Situation in Polen, die von außen betrachtet aufgrund von Gewalt gegen Ausländer:innen, großem Hass auf LGBTQI-Menschen, der zunehmenden Abschaffung des Rechtsstaats, der Abscheu gegenüber der EU und dem „neuen Abtreibungsrecht“ eine Katastrophe ist.
Ania, wie geht es dir? Wie ist die Situation in Polen mit Corona?
Danke, gut, die Sonne scheint und wir planen einige Konzerte. Aber ich gebe zu, dass die letzte Zeit schwierig war. Jetzt ist die Lage in Polen einigermaßen stabil, aber im März hatten wir eine der schlimmsten Situationen auf der Welt. Das Gesundheitssystem ist völlig ineffizient. Ich habe zwei Kollegen und meinen Onkel verloren. Es war auch psychisch eine schwierige Zeit für viele. Viele Menschen kämpfen mit Depressionen. Wir konnten keine Konzerte spielen und unsere Freunde nicht treffen. Es ist eine Tragödie für viele Menschen in der Punk-Community.
Was macht ihr in eurem „echten Leben“?
Wir sind ganz durchschnittliche Leute. Wir haben Familien, Kinder und Arbeit und Probleme wie: Wer kocht heute das Abendessen? Wer bleibt bei den Kindern, wenn wir eine Show spielen? Tomek, der Gitarre spielt, und ich sind ein Paar. Ich bin Lehrerin in der Oberschule und in letzter Zeit versuche ich mich als Lektorin von Hörbüchern. Die anderen Jungs in der Band haben normale Jobs wie Architekt, Ingenieur, Sozialarbeiter und Friseur. Ein Teil von uns engagiert sich in der Gewerkschaft oder einer Naturschutzorganisation. Und Tomek hat ein wirklich gutes Label namens Black Wednesday Records und schreibt Artikel für polnische Fanzines. Manchmal organisieren wir auch Konzerte hier bei uns in Bielsko-Biala.
Was war der Grund für eure Auflösung 2015?
2015 habe ich einen Sohn geboren und ich brauchte Zeit für mich und ihn. Unser zweiter Gitarrist entschied sich, die Band zu verlassen – wir fühlten uns entmutigt und müde. Wir dachten, dass EYE FOR AN EYE zu groß wurden. Wir hatten viele Angebote für Konzerte und es war sehr stressig für uns, diese abzulehnen. Das hing mit den Konflikten innerhalb der Band zusammen. Weil wir gute Freunde sind, wollten wir unbedingt zusammen spielen, allerdings nicht in einer so einer großen Band, wie EYE FOR AN EYE geworden war. Wir vermissten die Zeit, in der wir kleine Konzerte für dreißig oder vierzig Freunde in kleinen Clubs spielten. Also beschlossen wir, EYE FOR AN EYE zu beenden und einfach in einer kleinen Band zu spielen – hauptsächlich für uns. Wir fingen mit L.A.S.T. an – und es war eine wirklich gute Entscheidung zu dieser Zeit. Leider musste unser Bassgitarrist, der viele Stücke geschrieben hat, aufhören. Er kann immer noch nicht spielen. Ohne ihn kann L.A.S.T. nicht existieren. Wir hatten also nur zwei Möglichkeiten, um weiterzumachen – mit einer neuen, dritten Band oder EYE FOR AN EYE reaktivieren, was bestimmt auch einige Leute negativ sehen. Ich will es jetzt aber einfach auf uns zukommen lassen. Heute haben wir eine viel bessere Situation, mein Sohn ist sechs Jahre alt, wir können mehr spielen, wir haben unsere Einstellung zur Band geändert. Es ist wirklich wichtig, auch etwas Abstand zu den Dingen zu haben, die man tut. Ich akzeptiere es jetzt nicht mehr, dass die Band ein Grund für Konflikte in meiner Familie ist. Sie soll nicht die Ursache für Stress sein, sondern für Glück.
In eurem Heimatland ist die letzte Zeit politisch ja einiges geboten, um es vorsichtig auszurücken. Der derzeitige Präsident Duda sagte, dass die LGBT-Gemeinschaft eine „Ideologie des Kommunismus“ sei. Er war auch ein Kumpel von Donald Trump. Eure Band hat sich immer gegen Sexismus und Homophobie eingesetzt. Wie ist die Lage jetzt und was sind eure Gefühle dazu in Polen?
Die Lage ist wirklich schlecht. Wir fühlen uns alle wie in einer Diktatur. LGBT-feindliche Propaganda ist überall, im Fernsehen oder in den Schulen. Die Regierung braucht ein Feindbild. Im Jahr 2015 war es der Hass auf die Flüchtlinge – wir haben allerdings keine Flüchtlinge in Polen, also fangen sie mit Anti-LGBT-Kampagnen an. Sie versuchen, die polnische Gesellschaft davon zu überzeugen, dass LGBT-Menschen eine neue Realität schaffen wollen. Traditionelle Familien etwa würden dann diskriminiert werden. Im Kindergarten würden die Erzieher den Jungen in Zukunft befehlen, Röcke zu tragen. Es ist natürlich völlig absurd. Aber viele Menschen, vor allem schlecht ausgebildete, bekommen deswegen Angst und sehen in der Regierung so was wie Ritter, die die „Normalität“ verteidigen. Zum Glück beobachte ich, dass junge Menschen zunehmend toleranter werden. Gestern war ich beispielsweise auf dem Abschlussball meiner Schule und mein transsexueller Schüler tanzte mit seinem Partner. Für niemanden ist das ein Problem, ganz im Gegenteil, die Lehrer, der Direktor und die anderen Schüler unterstützten das die ganzen vier Schuljahre. Gleichzeitig wissen wir aber, dass die Politik und die Beamten der Schulaufsicht dem Direktor Konsequenzen androhen könnten. Wir gehen Risiken ein. Viele Menschen gehen in Polen momentan Risiken ein, um anständige Menschen zu sein, Lehrer, Richter, Ärzte. Vor 2015 konnte ich mir nicht vorstellen, dass die polnische Demokratie so dünn und schwach ist. Jetzt sehe ich, dass es sehr wenig braucht, um die Menschen zu manipulieren, ihnen ihre Freiheit zu nehmen und zuzusehen, wie sie applaudieren.
Dazu baut eure Regierung den Rechtsstaat um, Richter werden entlassen und neue eingesetzt, die Medien werden mehr und mehr kontrolliert. Und das Abtreibungsgesetz wurde in Polen verschärft, das führte zu vielen Protesten. Wie sieht es aktuell aus?
Die Regierung bricht das Gesetz und respektiert die Verfassung nicht. Und es gibt keine Möglichkeit, sie zu zwingen, das zu ändern. Das zeigt, dass friedliche Proteste nicht genug sind. Die polnische Regierung hat eine Methode, wie sie mit Protesten umgeht. Sie tut erst mal nichts – und wartet einfach, bis die Leute müde sind. Und es ist wirklich effektiv. Ich selbst bin hartnäckig, aber ich sehe, dass die Leute langsam aufgeben. Vor zwei Jahren habe ich an einem Lehrerstreik teilgenommen – es war der längste Streik in der Geschichte. Drei Wochen lang legten alle Schulen in Polen die Arbeit nieder. Die Regierung hat natürlich nicht mit den Lehrern diskutiert. Im Laufe der Zeit konnte man sehen, wie die Leute nach und nach aufgegeben haben, am letzten Tag waren zwei von vierzig Lehrern übrig geblieben. Die Regierung hat aufgehört, die Angestellten zu bezahlen, und die hatten dann kein Geld mehr für den Lebensunterhalt. Die anderen kann ich deshalb nicht verurteilen. Das Gleiche passierte während der Proteste nach der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Jetzt haben wir ein unvorstellbar restriktives Gesetz, eines der schlimmsten der Welt. Stell dir vor, Frauen müssen ein Kind zur Welt bringen, das ein oder zwei Tage leben wird und unter schrecklichen Leiden sterben wird. Zu den Protesten trafen wir uns jeden Abend und marschierten in großen und kleineren Städten, sogar in Dörfern. Wir waren hunderttausende Frauen und Männer. Es war großartig. Auf den Demos traf ich meine Studenten, meine Nachbarn, meine Kollegen, Punks, Richter, Journalisten, Putzfrauen, alte Leute – und nichts passierte. Die Nächte waren sehr kalt, die Leute wurden immer müder. Bei den letzten Märschen waren es noch vierzig, fünfzig Leute. Aber ich sehe auch Hoffnung. Während der Aktionen traf ich viele junge Leute. Ich sehe, dass die Jugendlichen die Regierung und die katholische Kirche hassen. Sie sind sehr aktiv. Besonders die Mädchen. Sie sind großartig, energiegeladen, solidarisch – ich denke, dass sie so eine bessere Zukunft erschaffen können. Und wir haben großartige Frauen in feministischen Organisationen, die Mädchen helfen – und es gibt deshalb einen „Abtreibungstourismus“ nach Tschechien, in die Slowakei und nach Deutschland.
Punk/Hardcore war vor Jahrzehnten eine rebellische Bewegung. Gibt es in dieser Szene in Polen einen Aktivismus gegen die Situation, von der wir sprachen? Wie sieht das aus?
Viele Leute, die vor Jahrzehnten in der Punk-Szene waren, agieren heute als soziale, ökologische, feministische Aktivisten. Sie spielen nicht nur in Bands und schreien rum, sondern schreiben auch Bücher, leiten Stiftungen, bilden junge Leute aus, sind Anwälte, die denen helfen, die bei Protesten verhaftet werden. Ich sehe das in meiner Stadt. Ich sehe es bei meinen Punk-Freunden, die jetzt kluge, gebildete Leute sind. Heutzutage werden soziale Proteste allerdings von jungen Leuten organisiert, für die Punk eine archaische Subkultur ist. Sie stehen eher mit der LGBT- oder der feministischen Bewegung in Verbindung als mit Punk. Tatsächlich bin ich froh, dass viele der Ideale, die früher typisch für Punks waren, heute auch unter den so genannten Normalos verbreitet sind. Unsere Ideale sind immer noch lebendig, unsere Slogans erscheinen auf Demonstrationen, und das ist wichtig – nicht, wie viele alte Punks dahin kommen.
Warum hat die katholische Kirche diesen massiven Einfluss in Polen?
Es ist eine Frage der Tradition, der Erziehung und der Geschichte. In meiner Kindheit war die katholische Prägung in den meisten Familien selbstverständlich. Der Katholizismus war für die Menschen während des kommunistischen Terrors sehr wichtig, weil er eine tragende Säule der Opposition war. Meine Mutter war geschieden und sie hat uns nicht gezwungen, in die Kirche zu gehen oder extra Religionsunterricht zu nehmen. Deswegen wurde ich verspottet, meine Mitschüler nannten mich und meinen Bruder Antichristen. Jetzt amüsiert es mich, aber in der Vergangenheit war es dramatisch für mich. Viele gläubige Menschen, die in Angst aufgewachsen sind, dass ihre Sünden bestraft werden, haben ein Problem damit, endlich zuzugeben, dass die katholische Kirche eine auf Macht ausgerichtete, heuchlerische und gierige Institution ist. Die Angst sitzt tief in ihrem Unterbewusstsein. Angst, die dir in der Kindheit eingetrichtert wurde, bekommst du nur schwer wieder los. Die Kirche hat jedoch einen fundamentalen Fehler gemacht. In ihrem Streben nach Macht und Geld sind sie in die Schulen gegangen. In polnischen Schulen gibt es zwei Religionsstunden pro Woche. Die Priester erhalten Geld für die Durchführung des Unterrichts, der aber nicht verpflichtend ist. Bis vor ein paar Jahren nahmen mehr als 90% der Kinder an diesen Stunden teil. Derzeit nehmen in großen Städten ganze Klassen nicht mehr am Religionsunterricht teil. Junge Menschen entscheiden sich gegen den Willen ihrer Eltern, aus der Kirche auszutreten, sie sind kritisch, sie haben den Mut zu sagen, dass die Kirche schlecht ist. Dazu haben auch die jüngsten Pädophilie-Skandale beigetragen. Ich bin Optimistin. Ich denke, das Ende des Einflusses der Kirche ist nahe.
Posens Bürgermeister sagte in einem Interview mit einer deutschen Zeitung: „Das Grundübel ist, dass diese Regierung die EU nur als Kuh ansieht, die man gerne melkt. Dass die EU tatsächlich ein Verband ist, in dem wir auch Pflichten übernommen haben, dieser Gedanke liegt ihr fern.“
Darin steckt leider sehr viel Wahrheit. Das zeigen die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofs. Die polnische Regierung, wie auch die ungarische, respektiert das EU-Recht nicht und akzeptiert die Werte der EU nicht. Sie ist Anti-EU, aber wenn das Geld reinkommt, geben sie vor, EU-Politiker zu sein. Anti-EU- und anti-deutsche Propaganda sind überall präsent. Ich hätte bei einem „Polexit“ Angst, dass Polen wie Weißrussland wird. Ich weiß, dass meine Punk-Freunde aus Deutschland oder Österreich manchmal skeptisch gegenüber der EU sind – aber jetzt gibt es genau von dort die einzige Verteidigung gegen die katholisch-rechte Diktatur.
Außerdem beschließt die Regierung jedes Mal aufs Neue, dass Polen keine Geflüchteten aufnehmen wird. Was macht das mit einer Band, die „Refugees are welcome“ proklamiert?
Wie ich schon sagte, die polnische Regierung braucht einen Feind, der die Nation eint. Das ist ein alter Mechanismus, den die Deutschen nur zu gut kennen. 2015 konnte man im Fernsehen Filme über Araber sehen, die Frauen vergewaltigen und von der Sozialhilfe leben würden. Das Internet war voll von Fake News. Bevor die jetzige Regierungspartei PiS mit dem Wahlkampf begann, sprachen sich 70% der Polen für die Aufnahme von Geflüchteten aus. Mit der wachsenden Negativkampagne einiger Medien und der PiS nahm die Akzeptanz der Aufnahme von Geflüchteten ab. Es kam dann eine Zeit, in der es eine Bedrohung darstellte, in Polen ein Muslim zu sein oder eine andere Hautfarbe zu haben. Diese Propaganda steigerte die rassistische Stimmung enorm. Ich muss zugeben, dass es sogar auf Punk-Konzerten, wo wir über dieses Problem sprachen, Diskussionen darüber gab. Es war ein Schock, weil ich eigentlich dachte, dass Punk-Konzerte von reflektierten Menschen besucht werden. Ich bin aber froh, dass ich nach einem Konzert mit den Leuten sprechen und ihnen darlegen kann, dass sie manipuliert worden sind.
Werdet ihr eine neue Platte machen?
Ja, eigentlich wollten wir nächste Woche einige Songs aufnehmen, aber unser Bassist hatte einen hässlichen Unfall, deshalb wird sich die Aufnahme etwas verzögern. Jetzt würden wir auch sehr gerne ein paar Gigs spielen.
Joe Foster, ehemaliges UNITY- und IGNITE-Mitglied, sagte einmal, dass er nicht versteht, dass die meisten Hardcore-Bands auf Englisch singen und nicht in ihrer eigenen Sprache. Hat er deiner Meinung nach recht? Und warum singt ihr nicht auf Englisch?
Beides hat Vor- und Nachteile. Englisch ist zweifellos eine universelle Sprache und jeder kann eine einfache Botschaft verstehen, aber es ist schwierig, kompliziertere Gedanken, Emotionen und Erfahrungen in einer Fremdsprache auszudrücken. Die Texte sind mir sehr wichtig. Ich kann nicht gut genug Englisch, um nicht nur die Ideale, an die wir glauben, zu vermitteln, sondern auch meine Ängste, Freuden und Zweifel. Wir versuchen immer, die abgedruckte englische Übersetzung auf den Covern gut hinzubekommen. Außerdem reden wir schrecklich viel auf den Konzerten und versuchen, den Leuten zu erklären, was wir meinen. Selbst wenn wir im Ausland spielen, versuche ich mit meinem schlechten Englisch zu erklären, was wir denken, was unsere Botschaft ist und worum es uns wirklich geht. Also glaube ich, dass wir trotz der polnischen Texte ziemlich klar verständlich sind und die Leute sehr gut wissen, was wir meinen. Zumindest hoffe ich das. Ich selbst liebe genauso Bands, die auf Französisch, Spanisch, Russisch oder Italienisch singen. Auch wenn ich nicht alles verstehe, ist der Klang dieser Sprachen eine große Bereicherung.
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