Nach knapp 13 Jahren Bandgeschichte sollte man meinen, dass alles so bleibt wie immer. Auf der erschaffenen Wolke chillig umhergleiten, in gewohnten Bahnen kreisen, Veränderungen nur vorsichtig vorantreiben oder lieber gleich anderen überlassen, um die Fans nicht vor den Kopf zu stoßen. Nicht so bei EGOTRONIC. Veränderungen, Lebensumstände und Phasen. Alles braucht Platz. Ist das 8Bit-Nintendo-Commodore-Korsett schon vor etlichen Jahren zu eng geworden, wurde nun die prägnante und tongebende Elektro-Punk-Struktur fast komplett ausgesperrt und gegen eine klassische Punk-Struktur aus Schlagzeug, Bass und Gitarre eingetauscht. Wer nicht mitkommt, bleibt eben liegen. Torsun Burkhardt ist das egal, denn er macht das, was ihm Spaß macht und beschäftigt.
Mitte November 2013: Geheime Informationen gelangen in meine Hände. Irgendwelche Bruchstücke in Verbindung mit Torsun, EGOTRONIC und Band. Band? Ja, genau. Torsun hat jetzt eine „richtige“ Band. Das Album ist irgendwann im Frühjahr 2014 geplant. Eine Band? Waren EGOTRONIC nicht schon immer eine Band, trotz Sound-Diktator Torsun? Aber irgendwas scheint grundlegend anders zu sein. Ein Wort, das immer nur in Verbindung mit einem anderen zu lesen oder hören war, versucht krampfhaft den Augenkontakt mit mir zu halten. Da steht „punkiger“! Der EGOTRONIC-Punk hat sein Elektro verloren? Gewagt! Hatte es doch schon einige beleidigte und negative Stimmen gegeben, als der 8Bit-Sound der Anfangszeit, komplexeren Elektronikspielereien weichen musste. Nun also wieder eine Strukturveränderung?
Mitte Januar dann die Verdichtung. EGOTRONIC veröffentlichen ein neues Album. Drei Jahre hat es etwa gedauert, um „Macht keinen Lärm“ einen Nachfolger in der Diskografie hinzuzufügen. Die prägnanteste Änderung ist tatsächlich die fast durchgehende „klassische“ Punk-Struktur aus Gitarre, Schlagzeug und Bass. Aber warum? EGOTRONIC unterlagen schon immer den Lebensumständen von Torsun Burkhardt. Phasen und Themen, die ihn beschäftigen. Oder einfach nur der puren Lust auf genau das, was er jetzt gerade tut: „Mir war der Elektro-Punk mit rein elektronischen Mitteln schlicht und einfach zu langweilig geworden. In dem Genre passiert meiner Meinung nach derzeit nichts Frisches oder Spannendes. Da lag es für mich nahe, nach neuen Wegen zu suchen. Ich entschied mich, Elektro-Punk andersrum zu denken. Gitarre, Bass und Drums als Basis, dazu dann die Elektronik.“ Keine Phase des Ausprobierens also. Alles eine durchdachte Änderung. Da sich mit so einem Gerüst auch Ansprüche an die Live-Band ändern, musste Unterstützung her.
In den Neunziger Jahren hatte Torsun bereits mit einem Menschen namens Kilian Musik gemacht. Die beiden waren tatsächlich bis zur achten oder neunten Klasse auf einer Schule gewesen und hatten sich nie so richtig aus den Augen verloren. Torsun lernte damals von Kilian, wie man elektronische Musik macht, da ihm zu der Zeit der pure Punk zu langweilig und eindimensional geworden war. Wenn also die krasse Änderung Nummer zwei im EGOTRONIC-Universum eintreten sollte, dann mit Kilian, denn er beherrscht die Technik genauso wie Torsun.
Damit war auch die Sound-Diktatur beendet. Die beiden arbeiteten fortan gemeinsam an Tonspuren und Synthesizern. Auf eine virtuelle Programmierung der Beats, wie es eigentlich immer der Fall war, wurde verzichtet. Torsun und Kilian verkrochen sich nicht vor Computern, sondern sperrten sich im Proberaum ein. Der Sound sollte lebhafter werden und mehr nach Band klingen. Torsun: „Danach war klar, dass wir einen Gitarristen und einen Drummer brauchten. Dass es Chrü und Reuschi wurden, war Zufall. Wir spielten mit THE TOTEN CRACKHUREN IM KOFFERRAUM, bei denen beide ebenfalls spielen. Chrü hörte sich das neue Konzept an und meinte: ,Wenn ihr noch einen Gitarristen sucht ...‘ Eine Woche später kam er zum Vorspielen und war an Board. Er brachte Reuschi einfach mit. Beide passten gut zu uns und sind jetzt nicht mehr wegzudenken.“
Die Aufgabe des Sound-Patriarchats in Verbindung mit den hinzugewonnenen Einflüssen verhelfen EGOTRONIC zu einem breiteren Spektrum. „Die Natur ist dein Feind“ wirkt facettenreicher als jeder Vorgänger. Ob feierwütige Hipster, alte 8Bit-Freunde oder die Autonomen noch mitziehen können, ist von geringer Bedeutung. Man hört dem Album seine neu gewonnene Freiheit an: „So wie ich in den Neunzigern irgendwann das reine Punk-Korsett abstreifen wollte, erging es mir jetzt andersrum. Weg von der rein elektronischen Produktionsweise. Das Austesten der sich daraus ergebenden Möglichkeiten ist ein echter Hochgenuss.“
Erlaubt ist, was Spaß macht und Torsun persönlich beschäftigt. Dass sich die Texte des Albums um Ausschluss und Rassismus drehen, ist Folge seiner Wut über die allgemeine Lage auf der Welt, im Speziellen Deutschland. Flüchtlinge werden unter unmenschlichen Bedingungen in Lagern festgehalten. Bürgerinitiativen bilden sich, um gegen Asylbewerberheime anzugehen. Häuser werden in Brand gesteckt. Gefahrengebiete eingerichtet. All das nagt am Freiheitsverständnis. Traurigkeit, Wut und Angst vor Déjà-vu-Erlebnissen. Die Lust an lustigen und stumpfen Parolen schwindet. Torsun bezieht Stellung, weil die Lage ihn ankotzt, nicht weil er andere Menschen damit aufrütteln will. „Ich glaube, dass fast jeder Musiker Texte über die Themen schreibt, die ihn beschäftigen. Da mich diese Themen wirklich sehr beschäftigen, liegt es auf der Hand, dass auf dem neuen Album Songs davon handeln. Ich finde die derzeitige Situation sogar so unerträglich, dass das ganze Album in seiner Grundstimmung wesentlich düsterer als alle Vorgänger geworden ist. Ich hasse dieses Land und seinen durch und durch rassistischen Grundkonsens. Ich befürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder Menschen sterben. Die Konsequenz, die alle Parteien daraus wieder ziehen, ist die, das Recht auf Asyl noch mehr zu beschneiden. Wir sind einfach in der Unterzahl und können nur hoffen, dass unser Engagement bei Demos oder sonstigen Unterstützungsaktionen dem ganzen Scheiß wenigstens ein wenig entgegenwirken kann.“
EGOTRONIC waren schon immer politisch, doch diese Ernsthaftigkeit, die in allen Songs mitschwingt, hat die lustigen Melodien abgelöst. Eine Konstante waren immer die kleinen Jens Rachut-Anspielungen. Wer die überhört oder nicht mitbekommen hat, bekommt nun ein ganzes DACKELBLUT-Cover plus OMA HANS-Gedächtnischor vor die Schuhe gekotzt. „Egal, was ich seit Teenagertagen für Musik gehört habe, mindestens eine Rachut-Band war immer dabei. In meiner konsequentesten Hardcore-Phase Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger hörte ich zumindest ANGESCHISSEN, DAS MOOR und BLUMEN AM ARSCH DER HÖLLE. Später dann zwischen Techno immer noch DACKELBLUT und so weiter. Die Bands, in denen er spielte, waren für mich total prägend und ich finde jede einzelne bis heute großartig. Auf eine einsame Insel würde ich Jens Rachut und Andreas Dorau mitnehmen, oder klingt das jetzt zu gruselig?“
Gruselig? Gruselig sind eher diese nationalistischen Bands, um die es in einem der Jens Rachut-Gedächtnissongs geht. Auch wenn viele behaupten, dass reine Ignoranz diesen Bands jegliche Plattform entziehen würde. Sie bieten einfach zu viel Projektionsfläche, um ignoriert zu werden. Den Pickel auf der Nase, den kann man ignorieren. Aber eine Band, die auf Blut und Boden schwört, nicht beachten? Viel zu gefährlich, bietet sie doch einen schönen Einstieg für tausende von Menschen in national-politische Gewässer. „Die Band der Vollidioten“ geht genau dagegen an. Auch hier gibt es, wie alles, Petitionen dagegen, die man ganz gemütlich im Internet unterschreiben kann. Torsun: „Diese Petitionen bringen erst mal nur eins: nichts, außer Gewissensberuhigung. Das geht mir ziemlich auf den Sack. Ansonsten ist es gerade mit diesen Bands so, dass sie vielen Leuten aus der Seele sprechen mit ihrem nationalistischen Scheiß. Die Mehrheit ist so schlecht, die brauchen die nur zur Bestätigung ihrer eigenen Hirnscheiße. Ignoranz ist hier wirklich absolut gefährlich und fehl am Platz. Was wir brauchen, ist mehr Wut auf das ganze Thema.“
Doch die Feinde sitzen nicht nur in der Politik und am rechten Rand. „Die Natur ist dein Feind“ verrät eigentlich schon sehr viel und war gleichzeitig der erste und einzige Song, den Torsun alleine für die Platte fertig hatte. Dabei spielt, neben der Ebene, dass sie die Kraft besitzt, alles mal eben so zu zerstören, die Natur auf einer anderen Ebene eine ganz große Rolle im Schaffensprozess zum Album. Die Natur, das ist eben auch der Körper. Ab einem gewissen Alter beginnt er sich zu wehren. Das kann man durch eine gewisse Lebensweise hinauszögern oder beschleunigen. Im ganz fiesen Fall steht man daneben und fragt sich genau, was das jetzt gerade soll. Eine chronische Erkrankung Torsuns brachte den Prozess immer wieder zum Stocken. Hände und Arme wollten einfach nicht mehr. Torsun musste zusehen, wie sein Körper einen Krieg gegen seinen eigenen Körper anzettelte. Einfach so. Aus einer Laune der Natur heraus. Hätte er es auf Alkohol, Drogen und Lebensstil schieben können, wäre das Verständnis hierfür wesentlich einfacher gewesen. Eine tiefgreifende Veränderung. Also fing er an, die rheumatische Arthritis auch musikalisch zu bearbeiten und nicht unbedingt zu verarbeiten. Über die Zeit wurde eine medikamentöse Einstellung gefunden, die es erlaubt, wieder normal an der Musik arbeiten zu können.
Drei Jahre also. Ein weiterer Lebensabschnitt. Eine neue Phase für EGOTRONIC. Kein bisschen müde, ihre Meinung allen direkt vor die Füße zu spucken. Auf plakative Parolen scheißen sie. Du kannst zu den Songs dieser Platte auf Konzerten noch immer stampfen und ausgelassen tanzen. Die Beats werden düsterer, weil die Lage sich verfinstert. Nur zu tanzen wird diesem Album aber nicht gerecht. Dafür sind die Themen zu präsent und zu wichtig. „Die Natur ist dein Feind“ erwartet auch von dir Veränderung, Reflexion und Wut. Kannst du das nicht? Dann bleib lieber bei den alten, ganz alten Alben und feiere die stampfende Struktur. Wenn du aber mitgehen magst, dann breiten EGOTRONIC sich auch in deinem Wohnzimmer aus, auf dem Weg zur Arbeit und zu deiner Oma. Sie haben an Relevanz über die Tanzflächen hinaus gewonnen.
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