CYANIDE PILLS

Foto© by Per Ake Warn

Blau auf’m Bau

Was ist nur mit den Kids von heute los? Warum war die Pandemie wie Urlaub? Wieso stehen Trunkenheit und Faulenzerei so hoch im Kurs? Und überhaupt, warum zum Teufel ist das neue Album „Soundtrack To The New Cold War“ das Beste, das CYANIDE PILLS jemals veröffentlicht haben? Dies alles und noch viel mehr weiß Mr. Phil Privilege, seines Zeichens notorisch grantiger und zugleich höchst amüsanter Frontmann der Band aus Leeds, zu beantworten. Und auch warum das Quartett die einzig wahre und gleichzeitig gefährlichste Punkband der Welt ist, die den Geist von 1976 noch immer lebt, macht er im Interview unmissverständlich klar.

Sechs lange Jahre sind seit eurem letzten Album vergangen. Was ist in der Zwischenzeit so passiert?

Sechs Jahre, ist das wirklich schon so lange her? Es hat aus einer Reihe von Gründen so lange gedauert, aber der Hauptgrund ist, dass wir faule Säcke sind. Dann kam die Pandemie und nach der Pandemie wurden wir wieder zu faulen Säcken. In Wirklichkeit haben wir schlecht bezahlte Jobs ohne Zukunft, die uns zu viel Zeit rauben. Wir müssen Miete und Rechnungen bezahlen, also ist es nicht möglich, viel Zeit mit Musik zu verbringen. Böden müssen gekehrt, Reifen gewechselt, Zement gemischt werden. Wir müssen als Roadies arbeiten oder in Nachtclubs schuften und Überstunden können nicht abgelehnt werden, weil die Lebenshaltungskosten ständig steigen. Wie auch immer, am Ende haben wir das Album fertiggestellt.

Wie hat sich die Pandemie auf euer Bandleben ausgewirkt? Sind die neuen Songs ein Ergebnis dieser Ära und konntet ihr die gefühlte Leere irgendwie mit Kreativität füllen?
Der Lockdown hatte den gegenteiligen Effekt auf uns. Man sollte meinen, man könnte all die freie Zeit kreativ nutzen, um neue Musik zu schreiben. Aber wir verbrachten die meiste Zeit damit, zu trinken und in der Sonne herumzuliegen. Es gab keine Arbeit, also dachten wir, scheiß drauf. Es war wie ein Urlaub, ein seltsamer Urlaub. Kein Verkehr, keine Flugzeuge, großartiges Wetter, die Natur schien zum Leben zu erwachen, die Menschen blieben drinnen, so dass die Tiere für kurze Zeit etwas mehr Platz hatten. Wir hätten eigentlich eine wertvolle Lektion lernen sollen und unsere Denkweise über die Arbeit, über das alltägliche Hamsterrad und die Art, wie wir unser Leben leben, ändern können. Doch als der Lockdown endete, war leider alles wieder so wie vorher. Wie auch immer, unser Proberaum war geschlossen, also haben wir uns ein paar Monate lang betrunken. Wir wussten, dass wir ein Album machen mussten, weil Ian von Damaged Goods uns anrief und fragte: „Wo ist das verdammte Album, das ihr mir versprochen habt?“ Dann gingen wir in unser Studio, ein altes Gebäude im Garten eines großen alten Vorstadthauses. Es wurde einst genutzt als Billardzimmer für Soldaten, die unter den Folgen des Ersten Weltkriegs litten. Dort konnten sie sich erholen und die Schrecken des Schützengrabens vergessen. Ich schätze aber, sie wurden direkt wieder zum Schlachten geschickt, sobald sie sich erholt hatten. Ob sich das wohl auch auf unseren Sound ausgewirkt hat? Ach, egal. Wir proben einmal in der Woche, denken uns eine Melodie aus und spielen sie immer wieder, bis sie gut klingt. Wir wollen nicht, dass die Dinge zu poliert klingen, also lassen wir ein paar Songs absichtlich unfertig. So ist es aufregender. Man könnte zwar denken, dass der eine oder andere Song fertig ist, aber wir wissen: das Gegenteil ist der Fall. Und dann landet er letztendlich doch auf der Platte, also können wir ihn nie fertigstellen.

Euer neues Album heißt „Soundtrack To The New Cold War“ – wahrscheinlich könnte es derzeit keinen passenderen Titel geben.
Ja, der neue Kalte Krieg ist real und die derzeitige Weltpolitik hat ihn uns eingebrockt! Ganz normale Menschen wie wir, Menschen in allen Ländern, die einfach nur ihr Leben leben wollen, müssen die Konsequenzen unserer sogenannten Führer ertragen. Ganz ehrlich, brauchen wir diese Arschlöcher überhaupt? Schau dich doch nur einmal um, die Welt ist im Arsch. Wir werden von den Allerschlimmsten regiert. Gauner, Scharlatane, Kriegstreiber, Propagandisten, gierige Psychopathen, die keinen Respekt vor dem menschlichen Leben haben. Mit Frieden ist kein Geld zu verdienen. Und wer leidet am meisten? Wer zahlt den Preis? Nicht sie! Dank unserer lieben Führer leben wir also wieder einmal in dunklen, gefährlichen Zeiten – genauso wie sie es wollen. Haha, das war eine Tirade! Klingen wir jetzt wie Verschwörungsgläubige? Das ist gut. Hinterfragt alles!

Wo wir schon bei den Inhalten der neuen Songs sind: Gibt es auf dem Album einen roten Faden und stehen die Lieder in einem übergeordneten Kontext?
Die Texte sind insgesamt nur Kommentare zu dem, was wir im alltäglichen Leben um uns herum beobachten. Krieg, Spionage, Korruption, Zensur, Waffenhändler, Gefängnis, Liebe, Musik ... Wir singen einfach über das, was wir sehen. Keine Sorge, es ist nicht alles nur düster. Es kann auch durchaus amüsant zugehen und es gibt eine ganze Menge fröhlicher Melodien auf der Platte.

„The kids can’t be trusted with rock’n’roll“ ist der Opener. Was ist mit den Kids heutzutage los, warum sind sie so unzuverlässig geworden?
Vor langer Zeit, als wir anfingen zu touren, trafen wir auf ein paar alte Punks. Die fragten uns zu unserer Musik aus und behaupteten, wir seien irgendwie fake. Kannst du das glauben? Quasi wie die MONKEES oder so, haha. Halt so typisch hochnäsiges Geschwätz wie „Du warst nicht dabei, Mann“ oder „Ich habe so und so im Jahr 1978 live gesehen“. Wir wurden sogar einmal als Coverband beschimpft, die ihre eigenen Songs schreibt. Aber was soll das bitte überhaupt heißen? In „The kids can’t be trusted with rock’n’roll“ geht es genau darum. Na ja, wie auch immer, wir sind jetzt alt. Die echten Kids von heute, die Teenager, die machen ihre eigene Art von Punk. Der klingt einfach anders, weil sie in einer anderen Zeit aufgewachsen sind. Also geht es den Kids gut. The kids are alright!

Und worum geht es in dem Song „Pecking order“?
In „Pecking order“ geht es um Klassenkampf. Um die wenigen Privilegierten, die Reichen, die Snobs. Um diejenigen, die mit einem silbernen Löffel im Mund geboren wurden und denken, sie seien besser als der Rest von uns, nur weil sie Geld und Macht besitzen. Ein Gesetz für sie, ein anderes Gesetz für dich. Das ist Teil des britischen Lebens. Für den Rest von uns ist das Leben ein absoluter Kampf, besonders im Moment. Der Song handelt davon, dass sie diese Macht verlieren, wenn die Leute merken, dass das System ungerecht ist. Das nennt man dann einen Aufstand. Und das passiert von Zeit zu Zeit, aber leider nicht so oft, wie wir es uns wünschen würden.

Da du ja gerade politische Umbrüche angesprochen hast, muss ich daran denken, dass euer neues Album auch euer erstes Post-Brexit-Werk ist. Wie hat sich die Situation bei euch verändert, welche Auswirkungen hatte das auf die Szene und eure Band?
Brexit – ich hasse diesen scheiß Begriff! Der Austritt hat das Leben für die Menschen hier in Großbritannien schwieriger gemacht. Das Versprechen einer besseren Zukunft außerhalb der EU war eine Lüge. Eine verdammte Lüge, an die leider immer noch die Hälfte des Landes glaubt. Wie auch immer man dazu stehen mag, wir sind schlechter dran, das ist eine Tatsache. Wir haben überhaupt keine Vorteile gesehen. Keine. Null. Und es macht auch das Leben für kleine Bands, die auf Tournee sind, deutlich schwieriger. Aber wenn wir erst einmal unterwegs sind und für unsere Punk-Brüder und -Schwestern in Europa spielen, ist das schnell wieder vergessen.

Ihr wart ja erst kürzlich hier in Deutschland auf Tour. Wie lief es? Wie hat sich das Touren in der Zeit nach der Pandemie entwickelt?
Dank der Pandemie und ihrer Folgen ist alles teurer geworden, quasi doppelt so teuer wie zuvor. Aber wir neigen dazu, nicht darüber nachzudenken. Fragt einfach unseren Tourmanager, wir lassen ihn sich darum kümmern, damit wir es nicht selbst tun müssen. Nein, halt, fragt ihn lieber doch nicht! Er wird ausflippen und euch stundenlang anschreien, haha. Weißt du, wir touren ja nicht, um damit unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Denn dafür haben wir unsere Sackgassenjobs! Wir touren, weil es uns Spaß macht, und egal, was unsere Regierungen auch noch anrichten werden, wir werden weiterhin Spaß haben!

Hast du den Eindruck, dass das Publikum noch immer etwas vorsichtiger ist und sich bei Konzerten anders verhält als früher?
Nein, nicht wirklich. Jeder, der zu uns kommt, hat viel Spaß. Genau wie früher. Die Leute scheren sich einen absoluten Dreck um den ganzen Mist und wollen Spaß haben, genau wie wir. Möge es so weitergehen! Also kommt vorbei, springt herum, pogt und spuckt den Bassisten an. Er ist der Jüngste und hat das stärkste Immunsystem.

Wie verlief der Aufnahmeprozess zur neuen Platte und warum ist das Album sogar noch besser als „Sliced And Diced“?
Danke für die netten Worte! Was die Aufnahmen angeht, haben wir das getan, was wir immer tun: Wir haben uns bei Carl Rosamond im Studio eingerichtet und genau so gespielt wie bei den Proben. Das ist eine schnelle Angelegenheit und wir fackeln da nicht lange herum. Wenn es nicht kaputt ist, reparieren wir es nicht. Es ist jedes Mal dasselbe. Erst machen wir unsere Sachen, dann macht Carl seine Sachen und dreht an Knöpfen herum, die Dinge bewirken, die wir nicht verstehen. Es ist echt toll, im Studio zu sein. Da können wir für eine kurze Zeit alles vergessen und uns nur auf den Punkrock konzentrieren. Wir hoffen, dass wir eine Platte gemacht haben, die genauso gut ist wie unsere anderen – vielleicht sogar noch besser, aber das müsst ihr selbst beurteilen. Das Artwork ist auch ziemlich cool und die Platte selbst gibt es auf schönem gesprenkeltem Vinyl.

Das war die perfekte Überleitung, Phil, denn die Vinylkrise ist ja immer noch ein virulentes Thema. Wie sind da eure Erfahrungen, inwieweit betraf das auch die Veröffentlichung eures neuen Albums?
Ja, Mann, sechs Monate Wartezeit sind echt verdammt lange. Unser Album wurde also schon vor einem halben Jahr fertiggestellt! Es ist doch seltsam, man schreibt Texte über aktuelle Themen und wenn die Platte herauskommt, hat sich bereits wieder alles komplett verändert. Für Musikschaffende ist es demnach sauschwierig, den Finger am Puls der Zeit zu haben. So lange auf die Platte zu warten, war eine Qual für uns alle. Zum Glück werden momentan wieder neue Presswerke eröffnet, so dass sich die Wartezeiten hoffentlich verkürzen.

Zu guter Letzt: Wann kommt ihr wieder rüber auf das europäische Festland, was sind eure Pläne, außer faul sein und euch betrinken?
Verdammte Scheiße, das war aber ein echt langes Interview. So viel haben wir seit unserer Schulzeit nicht mehr geleistet. Das hier ist ja länger als „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi! Wenn er das Buch heute schreiben würde, wäre es nur halb so dick und hieße einfach „Krieg“. Denn hier gibt es keinen Frieden. Okay, Spaß beiseite. Für den Sommer haben wir noch nichts geplant, aber wir touren vom 15. bis 27. November durch Europa, im Oktober geht es hoffentlich über den großen Teich in die USA und im Dezember durch Großbritannien. Wir hoffen, wir bringen den perfekten Soundtrack für den neuen Cold War mit.