CODE ORANGE

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Musikalische Grenzgänger:innen

Nicht wenige Bands zerbrechen unter dem Druck neuer Veröffentlichungen oder, noch viel öfter, dem zu hoch gesteckten eigenen Anspruch. Das ist das eine, aber was ist, wenn einem noch knapp drei Jahre Pandemie einen Strich durch die Rechnung machen? Doch bei den Pittsburghern schien Aufgeben nie eine Option gewesen zu sein. Dass es aber auch keine leichten Zeiten für sie waren und wie es geglückt ist, dass sie nun am Ende eines weiteren Entwicklungsprozesses mit „The Above“ ein neues, ziemlich beeindruckendes musikalisches Ausrufezeichen setzen können, erfahre ich beim ausführlichen Gespräch mit Gitarristin Reba Meyers und Sänger Jami Morgan kurz vor ihrem Konzert in München.

Entspannt und gut gelaunt treffen wir uns im Nightliner der Band an einem heißen Sommertag in München zum Gespräch. Die Band hat bereits die ersten Festival-Auftritte auf dem Hellfest und Graspop Metal Meeting hinter sich, nun geht es zusammen mit LOATHE zum ersten Mal seit der Corona-bedingten Pause wieder in die europäischen Clubs. Auf die Erkundigung nach dem Verlauf der letzten drei Jahre gibt Reba Meyers unumwunden zu, dass sie eigentlich ungern an diese mitunter auch schwere Zeit zurückdenke. Zudem hätten sie sich als Band sowie als Individuen weiterentwickelt. Auf die Frage, ob es jemals in den letzten Jahren einen Moment gegeben hätte, in dem die Band unsicher gewesen ist, wie die weitere musikalische Reise für sie aussehen soll, kommt ein entschlossenes Nein von Sänger Jami. „Ich habe das Gefühl, dass es fast immer das Gegenteil ist. Wir haben so viel, was wir tun können, so viele Fähigkeiten innerhalb der Gruppe, unterschiedliche Wege, unterschiedliche Perspektiven.“ Natürlich hätte es Unsicherheiten gegeben während der Pandemiejahre. Über das Potenzial, ihre Form der Kunst so zu präsentieren, wie sie es wollen, allerdings nicht.

Während Reba sich selbst eher als einen Freigeist beschreibt, der den Songwriting-Prozess fließend angeht und mehr aus dem Moment heraus agiert, sind Jami und Shade, der zweite Gitarrist, das Korrektiv, das sich selbst und darüber hinaus immer wieder überprüfen muss, ob die Vision der Band noch stimmig ist oder nicht. „Ich denke, wenn ich mir etwas Ästhetisches oder Konzeptionelles in den Kopf setze, verliere ich mich ziemlich darin“, gesteht Jami. „Für dieses Album hatten wir uns aber einen Rahmen gesetzt, der groß genug war, dass es zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Wege geben konnte und diese Dinge für mich immer noch Sinn ergeben würden, als wir sie fertig hatten.“ Dabei die richtige Balance zu finden zwischen den immer noch vorhandenen aggressiven Hardcore/Metalcore-Elementen und ruhigen, fast schon meditativen Momenten, spricht beide stark an. „Ich denke, dass Reba sich darauf konzentriert, einfach das Beste zu machen, worauf sie gerade Lust hat, und ich denke, dass ich mich darauf fokussiere, ein gewisses Gleichgewicht zu wahren, um sicherzustellen, dass hoffentlich beides gut oder auf einem gewissen Qualitätsniveau ist. Reba hat eine wirklich natürliche Fähigkeit zum Songschreiben, die nicht jeder hat. Das Lied ‚Mirror‘ ist zum Beispiel ein wirklich gutes Beispiel dafür“, räumt Jami ein. „Es ist ein fantastischer Song, aber wie können wir ihm noch einen kleinen Anstrich verpassen, dass er in die Welt von CODE ORANGE passt? Das sind die Ansprüche, die ich dann habe.“

„Es ist wirklich immer eine coole Überraschung, wenn ich die fertigen Sachen dann höre und wie sie in alles andere hineinpassen“, ergänzt Reba. Dass die harten und zarten Momente auf dem neuen Album eine natürlich anmutende Symbiose eingehen, die so bisher noch auf keinem CODE ORANGE-Album zu hören war, freut beide sehr. „Ich weiß es wirklich zu schätzen, wenn du sagst, dass es auf natürliche Weise zusammenpasst. Diese verschiedenen Genres waren noch nie zusammen auf einem Album, es wird also definitiv unterschiedliche Leute ansprechen.“ Die Hintergründe dafür liegen für Jami ziemlich offensichtlich auf der Hand. „Mit zunehmendem Alter fängt man an, sich bewusst zu werden, wer man ist, und entwickelt deshalb auch mehr Vertrauen in die Dinge, die man tut. Das macht jeder für sich, aber wir als Einheit tun das auch. Ich denke, dies macht es einfacher, musikalisch selbstbewusster zu sein und auf bestimmten Spuren, die uns verbinden, musikalisch selbstbewusster zu klingen. Deshalb war ich beim Schreiben glücklich, besonders während dieses gesamten Zyklus. Ich habe das Gefühl, dass es sich viel einfacher anfühlt, weil ich weiß: Oh, das bin ich, das ist es, was ich tun möchte.“

Diese natürliche Ausgewogenheit macht sich auch im Sound bemerkbar, für den die Band das erste Mal auf neue Personen im Mixing und Mastering zurückgriff. „‚Underneath‘ damals war so dicht und baute so viel Druck auf“, fällt Reba rückblickend auf. „Ich liebe das Album und wie es sich entwickelt hat. Aber für mich war es wie eine Fixierung, gegen das, was auch immer es war, anzukämpfen.“ – „Die letzte Platte sollte einen vom Sound her erdrücken“, stellt Jami fest. „Es ist jedoch nicht so, dass wir zu Beginn des Prozesses zu diesem Album gesagt hätten, dass wir den anderen Weg einschlagen. Es hat sich einfach so ergeben. Rebas Wunsch, die Dinge etwas organischer, offener und lebendiger klingen zu lassen, führten wiederum zu kreativer Inspiration bei mir, auch auf ästhetischer Ebene.“

Dass die Band mit SMASHING PUMPKINS-Mastermind Billy Corgan einen auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich anmutenden Gast auf dem Album hat, wird – wenn man den ganzen Vibe des Albums in Betracht zieht – auf den zweiten Blick zu einer dann doch logischen und stimmigen Performance beider Welten. Wie es zu dieser Kollaboration kam, erläutert Jami mit einem Grinsen im Gesicht. „Es hat sich gegenseitig entwickelt, auf sehr natürliche Art und Weise. Wir wurden ihm vorgestellt, er mochte uns und schließlich begann ich zunächst mit ihm zu schreiben, dann zu telefonieren und schließlich haben wir uns getroffen.“ Die Arbeit an „Take shape“ beschreibt Reba als „wirklich magischen Moment. Ich erinnere mich noch, wie ich mit ihm sprach und schließlich er und Jami sich unterhielten und wir uns dann ein bisschen sorgten, eine solche Koryphäe in unser Ding mit einbeziehen zu dürfen, bei all der Komplexität, die wir bereits an den Tag legen, die vielen Menschen in unserer Band – ob das wohl gut geht? Aber im Endeffekt dachten wir einfach, scheiß drauf, warum nicht? Das Ergebnis ist jedenfalls ziemlich großartig geworden!“

Wie immer bei CODE ORANGE kann man viel zwischen den Zeilen lesen. Die visuelle und auch inhaltliche Ausgestaltung der Themen schafft Raum für Möglichkeiten und Fragen, auf die es zunächst keine konkrete Antwort zu geben scheint. Laut Pressetext soll „The Above“ eine digitale Reflexion auf unsere natürliche Umgebung sein, Schönheit und Ekel vereint in sowohl der textlichen Auseinandersetzung, der Musik als auch der visuellen Umsetzung. Was erstmal hochtrabend und philosophisch klingt, wird in der direkten Frage nach der Faszination der Band mit all dem digitalen und dem, was darunter – oder eben in diesem Fall darüber (above) – liegt, etwas konkreter. „Der Kern des Ganzen ist schlicht das Leben in unserer modernen Welt“, versucht sich Jami an einer Erklärung. „Dabei geht es nicht zwangsläufig nur um die Technologie, die uns umgibt. Es geht auch um das sich selbst finden, sich zurechtfinden in dieser Welt. Nicht in einem spirituellen Sinne, sondern eher auf einen selbst bezogen. Dieses Album ist dabei weitaus persönlicher als alles andere zuvor. Jeder Song berichtet vom Umgang von verschiedenen Personen mit verschiedenen Themen. Es geht nicht um Charaktere, es geht um mich, es geht um uns, es geht um Dinge, die wir durchgemacht haben, es geht um unsere Band, den Ruf unserer Band in dieser Welt.“ Dass Musik dabei ein wunderbares Ventil sein kann, weiß auch Gitarristin Reba. „Für mich war es schon immer schwer, mich auszudrücken, einen Weg zu finden, das zu verbalisieren, was ich im Inneren fühle. Ich war ein introvertiertes Kind und habe bereits früh einen Weg gefunden, mich über Musik mitzuteilen. Manchmal summe ich einfach eine Melodie vor mich hin, summe irgendwelche Wörter, die erst mal keinen wirklichen Sinn ergeben. Die Band und Jami helfen mir dabei, das schließlich in etwas Sinnvolles umzusetzen.“

Dass ein mittlerweile auf sechs Köpfe gewachsenes Bandkollektiv dabei nicht immer einfach zu bändigen und im Zaun zu halten ist, ist beiden nur allzu gut bewusst. „Das ist wirklich hart“, konstatiert Jami. „Wenn du in einer Band wie der unseren bist, mit so vielen verschiedenen starken Stimmen, wird es schwer, allen den nötigen Raum zu verschaffen, ohne dass die eine Person weniger Gehör findet als die andere. Es ist doch so, die Musik, die ich am meisten liebe, kam immer von Gruppen oder Künstler:innen, bei der maximal eine oder zwei Personen im Vordergrund standen. Aber dann denke ich mir, warum sollten wir uns nicht glücklich schätzen, über so viele verschiedene starke Ideen von verschiedenen Leuten zu verfügen? Es ist eine Herausforderung, definitiv, aber dieses Album ist wirklich das Beste, was wir diesbezüglich erreichen konnten. Etwas, das für uns als Gruppe funktioniert, aber hoffentlich trotzdem die Leute da draußen erreicht, sie fordert und frisch rüberkommt.“