BÖSE BUB EUGEN

Foto© by Band

Honigbrot und Marmelade - Punk in der Schweizer Provinz (Teil 2)

Vor gut vierzig Jahren formierte sich mit DER BÖSE BUB EUGEN eine der wichtigsten Swiss-Wave-Bands der Achtziger Jahre. Im Juni 2022 wurde ich von Roger Weidmann gefragt, ob ich ihn bei einem Rerelease unterstützen könne. Ich sagte umgehend zu, und eine sehr erfreuliche Zusammenarbeit zwischen ihm, den ehemaligen Bandmitgliedern und weiteren involvierten Personen führten zum Doppelalbum „Vielleicht auch ganz anders“, das Mitte September erschienen ist. Dieses beinhaltet einen schönen Überblick des musikalischen, textlichen und bildlichen Œuvres der Band.

Das ausführliche Gespräch zwischen Rämi und mir erstreckt sich über drei Ox-Nummern. Teil 1 begann in Nr. 169 mit „Punk Tag 1“, schon lange vor der Gründung von DER BÖSE BUB EUGEN, und behandelte die Zeit bis zu ihrer Tour mit DIE ÄRZTE 1984. In Teil 2 sprechen wir nun über alle ihre Veröffentlichungen und den Kontext des aktuellen Doppelalbums „Vielleicht auch ganz anders“ bis zu ihrer Auflösung 1989. Teil 3 wird die Zeit danach beinhalten, da sprechen wir vor allem über die Nachfolgeband EUGEN bis zu deren Auflösung 1998.

1983, vor vierzig Jahren, habt ihr als DER BÖSE BUB EUGEN angefangen – ist die runde Jahreszahl der Grund für das Vinyl-Doppelalbum „Vielleicht auch ganz anders“ mit altem Material?
Nein, das ist Zufall. Es gab in den letzten Jahren immer wieder Anfragen, ob wir eine Reunion planen oder die längst vergriffene Musik wieder zugänglich machen. Vor einem Jahr kam Roger Weidmann deswegen auf mich zu. Ich kannte Roger nicht, Veit Stauffer vom unterdessen geschlossenen RecRec-Plattenladen in Zürich hat Roger den Kontakt zu mir gegeben. Ich merkte rasch, dass es eine Herzenssache ist für ihn und er es ernst meint mit seinem Angebot, quasi als Mäzen zu helfen. Ich habe das ein wenig sacken lassen, so ein Projekt verlangt viel Arbeit und Zeit. Und dann war auch die Frage, was ich mir selbst antue, das alte Zeugs wieder hervorzuholen. Ich habe mir das in all den Jahren nicht mehr angehört. Hat das musikalisch heute einen Wert, ist das mehr als eine Anekdote? Könnte das jemanden interessieren, der jünger ist als ich alter Sack?

Das ist definitiv so!
Mag sein, wäre schön. Es ging für mich darüber hinaus auch um persönliche Fragen: Wer begegnet mir da? Es ist ja ein ganz anderes Ich aus der Vergangenheit, ein Ich, mit dem ich nach so langer Zeit nur noch lose zu tun habe in der Gegenwart. Gleichzeitig ist das alles doch ein Teil von mir. Ein wenig wie bei den Büchern von Annie Ernaux, es klingt auch nach Psychologen-Couch. Aber es war wichtig für mich, in dieser Beziehung emotional und im Kopf etwas Klarheit zu haben, worauf ich mich da einlassen könnte.

Und? Worauf hast du dich eingelassen?
Es war gut, das zu machen. Für mich selbst. Es ist zu guten Gesprächen und Begegnungen gekommen, auch anrührenden. Es war interessant, auf diese Weise von heute aus in die Achtziger Jahre einzutauchen. Im Bewusstsein, dass wir Kinder der Zeit waren. Und im Bewusstsein, dass die Kinder von damals alt geworden sind. Man schaut zurück, nicht mehr nach vorne. Das sollte man nicht verwechseln. Das verlangt auch Demut.

Auf jeder Seite der Doppel-LP wird mehr oder weniger eine Schaffensphase, die damals auch ein Album von euch beinhaltete, mit Songs, Texten und Fotos aufgearbeitet.
Das kann man grob so sehen, ja. Zuerst habe ich natürlich Fisch gefragt und Lenz, was sie davon halten. Fisch war einverstanden, wollte oder konnte sich aber nicht groß einbringen. Bei Lenz war das komplizierter. Ich dachte, wir stellen einfach die Lieder zusammen, die uns so in den Sinn kommen. Lenz insistierte aber auf Genauigkeit und ich dachte schon: Hilfe, das klingt ja, als stünde ich nun vor einem kritischen Editionsprojekt von apokryphen Robert Walser-Briefen oder so. Jedenfalls haben wir uns dann regelmäßig getroffen, viel gequatscht und die alten Sachen angehört. Das war eine super Erfahrung, weil Lenz und ich in all den Jahren nie mehr groß Kontakt hatten. Aber auch inhaltlich war die Arbeit ergiebig, weil mir vieles gar nicht mehr bewusst war und Lenz auch nicht.

Wie meinst du das?
Man hört einen alten Song oder schaut sich alte Fotos an. Was war da? Welche Idee hatten wir? Wie waren wir drauf, die Zeitumstände, die persönliche Situation? Da erzählt man sich dann oft ganz Verschiedenes. Es ist wie Ping-Pong. Alter Kram ist wie der Ball, es geht hin und her. Am Ende hat man ein Ergebnis, auf das man sich einigen kann. Zu diesem Ping-Pong gehört auch die Zusammenarbeit mit Ursli Weber, der die Bänder restauriert hat. Oder mit Ädel Elsener, der die Grafik machte. Das war immer ein guter, lustiger Austausch. Auch Ädel hatte viele Ideen, die beiden haben auch wie ein Spiegel funktioniert oder ein Korrektiv. Mit dem Ergebnis sind wir ziemlich zufrieden.

Seite 1 beinhaltet sechs Songs: Als Opener „Verfaulte Geschichten“ – ich weiß immer noch nicht, was damit gemeint ist – von der „Nimmerland“-LP, der neben dem Song „Augen wie Revolver“ auch aus einer späteren Phase von euch stammt.
Was mit „Verfaulte Geschichten“ gemeint ist? Das weiß ich doch nicht! Beziehungsweise ich hab’s nur erfunden. Ich sag mal: Geschichten, die verfaulen, sind Geschichten und Erzählungen, die in Vergessenheit geraten und bei denen sich „Wahrheiten“ verschieben oder eben verschwinden. Ich fand das gut als Anfang, denn bei der ganzen Sache geht es genau darum, um den Versuch der Rekonstruktion, um das Erinnerungs-Ping-Pong, von dem ich gesprochen habe. In „Verfaulte Geschichten“ ist das so beschrieben mit dem Typen, der an Ungefähres denkt ... Ich hatte immer so einen Agenten vor Augen oder einen alten Nazi. Es hatte damit zu tun, dass Anfang der Achtziger Jahre vieles in der Luft lag, Politisches, Gesellschaftliches, über das nicht geredet wurde, in der Öffentlichkeit nicht, in der Schule nicht. Nicht einmal nur, weil man nicht reden und Dinge verschweigen oder unter dem Deckel halten wollte, sondern weil es keine Sprache gab dafür.

Das ist auch ein Thema bei „Der lange Mann“ von der MC-Single, ein Song der 1984 auf Hotchas Label Calypso Now erschien und ein kleiner Radiohit wurde. Auf der ersten Seite ist auch „Pagoden-Ede“ und „Leichenwagen“ von der ersten 12“, die ihr selbst herausgebracht habt. Zu „Leichenwagen“ habt ihr sogar schon einen Videoclip gedreht, wo der Lenz mit Helm und Fliegerbrille auf einem Dreirad die Gasse runterfährt. Daraus stammt ja auch das Coverfoto für das Mini-Album.
Der kleine Film zu „Leichenwagen“ entstand aus Naivität, Zufällen und Berechnung. Zu der Zeit begann MTV, den Musikmarkt zu bestimmen. Filme zu Musik waren der heiße Scheiß! Das wollten wir auch. Dann kommen wir ins Fernsehen und alle kaufen unsere Platte, haha! In der Schule gab es Super-8-Kameras im Zeichenunterricht, dort liehen wir uns eine aus. Jürg Odermatt, der auch das Foto gemacht hat für das Cover der Mini-LP, interessierte sich fürs Filmen. Wir haben drei Sets erfunden und er hat dann gefilmt, zusammengeschnitten und geklebt. Wir haben das an einem Sonntagmorgen gedreht in der Schaffhauser Webergasse, wir hatten ja keinen richtigen Leichenwagen wie DIE TOTEN HOSEN und von uns konnte auch niemand Auto fahren: Also haben wir das mit dem Kinderfahrrad gemacht, mit einem Erdbeer-Körbchen als Behältnis und für die Leiche eine Kinderpuppe. Wir schickten den Film zum Schweizer Fernsehen, die hatten so eine Musiksendung und der kleine Clip lief tatsächlich dort. Wenn ich das heute angucke, ist das schon ziemlich roh und direkt. Weil es 1984 ja noch fast nichts gab im TV und im Radio nur eine Sendung, hat uns das bekannt gemacht.

Wie seid ihr bei der Songauswahl fürs Rerelease vorgegangen?
Wir haben die Chronologie zu Hilfe genommen, aber nur als Gerüst. Wichtiger war uns, dass jede Albumseite von der musikalischen Dramaturgie her Sinn ergibt und die Lieder in der Reihenfolge stimmig wirken. Auch die Sound-Unterschiede sollten nicht wehtun beim Hören. Es ist auch so, dass zwei, drei Lieder auf dem Doppelalbum sind, die wir überhaupt nicht mehr auf dem Zettel hatten: Was? Das haben wir mal aufgenommen? „Vom schweren Leben“ ist ein Beispiel dafür.

Stimmt diese Geschichte? „Der lange Mann“ wurde eigentlich für die Mini-LP desselben Jahres aufgenommen, aber verworfen, weil ihr damit nicht zufrieden wart. Ironischerweise bekam die MC-Single viel Airplay und überschattete die Mini-LP. Das Lied wurde dann 1986 von euch für eure LP-Veröffentlichung „Regen im Park“ neu aufgenommen.
Nein, das stimmt nicht. Im Gegenteil! Der Grund war, dass wir uns als Teil der Kassetten-Szene verstanden. Wer sein Zeug auf Kassetten rausbrachte, war Indie. Vinyl-Platten waren Pfui. Ganz einfach, weil Vinyl teuer war, Kassetten billig. Dahinter stand natürlich eine Haltung. Hotcha vom Bieler Calypso Now war der Kassetten-Papst und hatte die Idee, Kassetten-Singles herauszubringen und damit die Musikindustrie zu unterwandern und zu zerstören. Super! Das fanden wir gut, wir haben immer alles selbst gemacht, DIY eben. Also sagten wir, „Der lange Mann“ erscheint nur auf Kassette. Dass das Lied dann in der Radiosendung „Sounds!“ dauernd gespielt wurde, überraschte uns, aber wir fanden es natürlich gut. Wir haben auch später immer wieder Kassetten gemacht und etwa für den „Chart Attack“-Sampler Lieder aufgenommen, die nur auf Kassette erschienen sind. „Der lange Mann“ haben wir für „Regen im Park“ nochmals aufgenommen im Irrglauben, dass das Lied noch besser wird.

1986: „Regen im Park“-LP

Seite 2 beinhaltet sieben Songs: sechs davon von der „Regen im Park“-LP. Als Opener „Gaudenz meint“, der viel Airplay erhält. Gefolgt von „Auf die Dächer“, „Novembertag“, „Seemann“, „Schal“, „Vom schweren Leben“. Und am Schluss „Pirmin“ von der „Nimmerland“-LP. Ich beschreibe hier mal die Platte aus dem Jahr 1986: Es gibt wesentliche Unterschiede zu dem vorhergehenden Schaffen. Ihr habt jetzt euren Sound gefunden, eure eigene Swiss Wave. So kommt die Gitarre praktisch ohne Verzerrungseffekte aus und bei einzelnen Songs sind untypische Instrumente wie Klarinette, Marimba oder Akkordeon zu hören.

Die Klarinette ist von Lenz, der hatte als Schüler Unterricht. Später ist er mit der Klarinette sogar ans Konservatorium gegangen, er spielt heute noch sehr gut. Fisch begann damals eine Lehre als Flachmaler, aber er wollte Schlagzeuger werden und für die Ausbildung musste man auch Marimba und Vibraphon spielen können, also her damit! Die Handorgel fiel Lenz mal in die Hände und er hat zu Hause damit herumgespielt. Als er mal eine Melodie erfunden hatte, fand ich, lass uns ein Lied machen für die Band ... zack, schon war „Gaudenz meint“ fertig.

Ungewöhnlich ist auch die Melancholie oder/und Fernweh, die sich durch das gesamte Album hindurchziehen. Es gibt auch eine stärkere Abkehr von der Provinz. Nicht nur seid ihr abermals nach Berlin ins Vielklang-Studio zu Matzge Bröckel für die Aufnahmen gereist, ihr habt auch eine zweite Heimat in Zürich gefunden. Ihr seid jetzt auf dem Label Organik von Mek Mey und im RecRec-Vertrieb. In Deutschland nahm das Weser Label von Claus „Fabsi“ Fabian das Album unter Lizenz. Das Foto für den Umschlag wurde von Yvon Baumann und die Grafik von Babs Hiestand, ehemals Sängerin von F.D.P., gemacht, beides bekannte Persönlichkeiten in der Zürcher Szene.
Babs war damals mit Mek May zusammen, sie haben auch einen gemeinsamen Sohn, Milos, der kam damals auf die Welt. Babs war Grafikerin, wie ihre Eltern, die macht das glaube ich heute noch. Die Cover-Ideen kamen von uns, die Fotografin Yvon Baumann hatte ein gutes Gespür für uns. Sie arbeitete damals oft mit dem Journalisten Michael Lütscher zusammen, der für die Wochenzeitung Tell einen größeren Bericht schrieb ...Was war die Frage?

Wie kam der Kontakt zustande mit den Leuten von RecRec?
Ich war schon früher oft in Zürich, wegen Konzerten, den Plattenläden und ab Herbst 1985 ging ich an die Uni. Wir spielten oft in Zürich. In der Kanzleibaracke, wo heute das Kino ist, gab es am Sonntagabend Sofa-Konzerte, dort waren wir oft eingeladen. Das organisierten Leute aus dem RecRec-Umfeld, das PA war früher das AJZ-PA, das vor dem Abriss gerettet wurde. Es war diese Nach-AJZ-Stimmung Mitte der Achtziger Jahre. Halb Aufbruch, halb Depression. Wie der Kontakt zustande kam mit Mek und RecRec, weiß ich nicht mehr genau ... Eine Rolle spielte sicher der Grafiker Peter Bäder. Peter war aus Schleitheim in der Nähe von Schaffhausen, er hatte mich viel früher mal eingeladen, mit DER PEIN als Vorband von THE WORK im AJZ zu spielen. THE WORK war eine RecRec-Band, Peter Bäder hat viele Grafiksachen gemacht. Vielleicht kannten die uns von daher. Jedenfalls fanden wir uns sympathisch und wir waren auch ein wenig stolz, dass uns ein Label haben wollte und wir nicht mehr alles selbst machen mussten wie bei der Mini-LP.

Noch etwas fällt mir auf. Bei den Songs geht es jetzt mehrheitlich nicht mehr um männliche Protagonisten, sondern um das weibliche Geschlecht, um persönliche Gefühle und Geschichten. Es macht den Eindruck, dass du, Rämi, zu der Zeit verliebt bist oder in einer frischen Beziehung steckst. Wie kam es dazu?
Klar war ich verliebt! Ist man doch immer in dem Alter ... Wir hatten schon auf den Kassetten immer wieder „Mädchenlieder“, wie wir sagten. „Motorradmädchen“, „Mädchen“, „Mädchenheld“, später „Mädchen vom andern Stern“ ... es wimmelte von Mädchen! Als Lenz und ich das wieder hörten, bekamen wir ein wenig rote Ohren ... Nur schon das Wort Mädchen, das gebraucht man gar nicht mehr heute. Aber das ist ein anderes Thema. Wir hatten Freundinnen, klar. Meine Freundin war Malerin, Anna Meyer. Von ihr ist das Bild mit der Nonne auf dem Cover der „Nimmerland“-LP. Was du melancholisch nennst, hatte auch mit der Stimmung damals in der Schweiz zu tun, glaube ich. Wir fühlten uns nicht melancholisch. Wichtig für diesen Wave-Sound auf „Regen im Park“ war auch Matzge Bröckel, der Produzent. Als wir die Aufnahmen wieder angehört haben, ist uns bewusst geworden, wie wichtig Matzge für den Klang, den Sound war. Wir hatten die Lieder, aber nicht viel Ahnung im Studio. Matzge hat uns da sehr geschickt angespornt, unseren Ehrgeiz gekitzelt und er war auch ziemlich streng mit uns. Er hatte auch Vorstellungen, wie das klingen könnte. Ich spielte im Studio zum Beispiel erstmals über einen Roland-Verstärker mit diesem hellen, glasigen Klang. Lustig war, als Tobi Müller, der die Linernotes für das Doppelalbum geschrieben hat, behauptete, dass wir das Gitarren-Intro von „Novembertag“ bei Bryan Adams’ „Run to you“ geklaut hätten. Bryan Adams? Hilfe, eher uncool. Vergleicht man die beiden Anfänge ... passt genau! Ein Zufall, von der Zeit geboren.

Der letzte Song, „Pirmin“, ist auch eine Single-Auskopplung vom zweiten Album „Nimmerland“, das zwei Jahre später rauskam. Die 7“ erschien kurz vor den Olympischen Winterspielen 1988 in Calgary und war eine Art Hommage an den Skirennfahrer Pirmin Zurbriggen, der als Favorit nach Kanada reiste. Der Text über Pirmins schönes Lachen und seine Papstbesuche hüpfte allerdings zwischen übertriebenem Lob und leisem Spott hin und her. „Ein Rämi-Song sorgt für Gesprächsstoff, weil er sich über den ‚heiligen‘ Pirmin Zurbriggen lustig macht“, war in den Medien zu lesen. „Ich wollte Pirmin nicht verletzen, denn als Sportler faszinierte er mich – ich bin früher selbst Skirennen gefahren. Wenn er aber glaubt, Pariser seien des Teufels, weil sie dem Papst nicht passen, finde ich das schon sehr naiv‘“, erklärtest du. Vor Zurbriggens Abflug nach Kanada überreichte die Band dem Skirennfahrer eine Single in der Abflughalle. Das Foto von der Übergabe wurde damals von etlichen Schweizer Zeitungen abgedruckt.
Pirmin haben wir ans Ende der zweiten Albumseite platziert, weil es einen guten Handorgel-Bogen gibt zum Opener „Gaudenz meint“. Offensichtlich ist, dass wir uns aufmerksamkeitsökonomisch, wie man heute sagt, ausrechneten, dass ein Lied über Pirmin Zurbriggen nützlich ist für uns. Der war in der Schweiz ein Star damals, Sport mochte ich eh immer. Zurbriggen war als gläubiger Katholik eine ergiebige Figur für den Text. Es war noch ungewöhnlich, über einen Sportler auf diese Weise ein Lied zu machen. DIE GOLDENEN ZITRONEN machten etwas Ähnliches mit Thomas Anders und dem Lied „Am Tag, als Thomas Anders starb“. Okay, das war kein Sportler, aber als Sänger von MODERN TALKING war der auch prominent. Jedenfalls hat das gut funktioniert, die Single war sogar kurz in der Schweizer Hitparade. Die Aktion am Flughafen hatte RecRec eingefädelt, die hatten einen Bekannten, Andreas Meyer, der bei der nationalen Fotoagentur arbeitete. Ändu hat das Bild gemacht beim Abflug der Olympia-Delegation in Kloten. Die Rechnung ging für uns auch auf, weil man im vornherein nicht wissen kann, was im Sport passiert: Zurbriggen hatte eine Knieverletzung und die ganze Schweiz bibberte wochenlang, ob er bei den Olympischen Spielen starten kann. Man sprach vom „Knie der Nation“. Wir brachten vor Olympia die Single raus. Und dann gewann er Abfahrts-Gold! Ich weiß noch, wie ich nach der Arbeit im Jamarico in einem Spielsalon an der Langstraße in Zürich das Rennen schaute und jubelte.

1988: „Nimmerland“-LP

Im November 1986 erschien das BAD BRAINS-Album „I Against I“ auf SST Records. Es wurde in unseren Kreisen total euphorisch aufgenommen. Vor allem die Inhaber und Leute um den Plattenladen Jamarico in Zürich puschten das Album enorm. Soweit ich mich erinnern kann, hast du zu der Zeit auch einige Jahre dort Teilzeit hinter dem Tresen gearbeitet und ich habe dich dort zum ersten Mal persönlich angetroffen.

War das so? Also ich kann mich nicht erinnern, wir hatten dort ja doch den einen oder anderen Kunden. Und Kundinnen auch.

Was ich sagen will: Ich bin ja 1983 nach dem RESIDENTS-Konzert im Volkshaus Zürich, das von RecRec und Jamarico organisiert wurde und wo ich mitgearbeitet habe, nach New York ausgewandert und war im Frühling ’87 für kurze Zeit zurück in der Schweiz und stieg bei der Oi!-Band MICKEY UND DIE MÄUSE als Sänger ein. Wir benannten uns um in THE GEEKSTOMPERS und probten in dem von uns besetzten Raum hinten in der Aktionshalle in der Roten Fabrik. Die BAD BRAINS spielten damals auch in der Roten Fabrik.
„I Against I“ von den BAD BRAINS war tatsächlich ein Album, das uns beeindruckte – diese Reibung zwischen Reggae und Hardcore war völlig eigenständig und neu, nach den früheren Verschmelzungen bei den CLASH, RUTS, Jah Wobble und anderen. LIVING COLOR haben dann das Geld eingesackt, das eigentlich den BAD BRAINS gebührt hätte ... aber das ist ein anderes Thema. Die Sache mit meinem Job im Jamarico verlief so, dass ich im Winter 1986 beschloss, nach dem Grundstudium ein Zwischenjahr einzulegen. Also fragte ich im Schallplattenladen Musicland hinterm Hirschenplatz im Zürcher Niederdorf den Thomas Berther, ob er vielleicht einen Job für mich habe. Ich war oft dort, lag ja quasi am Schulweg. Thomas schickte mich zu Woody Jakob am Helvetiaplatz und ich bekam den Job. Das Musicland verkaufte damals vor allem die neuen Metal-Platten, dank Direktimport, wie geschnitten Brot. Martin „Ain“ Stricker von HELLHAMMER respektive CELTIC FROST arbeitete im Musicland – Musiker als Verkäufer waren auch geschäftlich keine schlechte Idee. Ich arbeitete oft mit Martin, wir freundeten uns an, ein super Typ, das muss ich dir ja nicht erzählen.

Nein. Martin war ein enger Freund von mir. Wie war dein Verhältnis zu ihm?
Ich arbeitete immer gerne mit ihm, er starb ja leider plötzlich, am 21. Oktober 2017. In jener Zeit im Jamarico hatte er es ja manchmal schwer mit dem CELTIC FROST-Gitarristen Tom, die beiden hatten so eine On-Off-Beziehung. Ich mochte Martin sehr, wir haben sogar ein paar Proben gemacht für ein Projekt. Es scheiterte, alleine schon deswegen, weil seine damalige Freundin eine Katze in der Wohnung hatte und ich mit meiner Allergie jeweils höllisch litt. Martin war als Metal-Typ sehr sensibel und hatte so seine Kämpfe auszufechten, mit sich selbst, in der Band. Es gab ja aus seiner Kindheit einen katholischen Leidens- und Unterdrückungszusammenhang. Martin konnte stundenlang und hochinformiert über apokryphe mittellateinische Texte oder Praktiken der Teufelsaustreibung referieren. Er machte auch nie einen Hehl daraus, dass er von seinem Elternhaus einen katholischen Dachschaden davongetragen hatte, aus dem er künstlerisch Energie bezog. So etwas konnte ich nicht vorweisen. Das Musicland und das Jamarico, die zu der Zeit den gleichen Besitzern gehörten, waren damals auch Kontaktbörsen und Treffpunkte für allerlei Experten für absonderlichen Schabernack. Auch mit Dani Affolter, Tour-Roadie von Stephan Eicher, habe ich dort gerne zusammengearbeitet.

Ich vermute, dass dich dieses Umfeld und die Musik, die dort gepusht wurde, stark beeinflussten?
Ja, das war sicher so. Es gab nicht nur immer die neuesten Platten, sondern auch ständige Diskussionen, was nun gut ist, was sich verkaufen könnte, was cool ist und was eher nicht. Es war wie im Buch „High Fidelity“ von Nick Hornby. Wir verkauften von Michael Jackson bis zu PUBLIC ENEMY, von SLAYER bis zu Whitney Houston, von Sizzla bis zu LOS LOBOS, viele Bootlegs und Spezialistenzeugs, auch Resident-DJs wie Dani König gingen ein und aus. Die Jamarico-Leute wollten natürlich Geld verdienen, sie mussten Löhne bezahlen, auch meinen. Mir gab das die Möglichkeit, das Geld fürs Leben zu verdienen und Zeit für die Band zu haben. Für Martin war das auch so, auch für Dani Affolter.

Auf Seite 3 der Wiederveröffentlichung hört man beim Song „Bei Mosers“ vom „Nimmerland“-Album das BAD BRAINS-Riff von „House of suffering“. Gab es eigentlich „die Mosers“? Sie kommen in mehreren Songs vor.
Das wurden wir schon damals oft gefragt ... Nein, Frau Moser und ihr Mann habe ich mir ausgedacht, als Stellvertreter für den spießigen Typus des Schweizerischen. „Rummosern“ ist ja ein schönes Verb. Die Berner Band ZÜRI WEST hatte wenig später auch so eine ähnliche Figur, den „Hanspeter“, der für so eine gewisse liebenswerte Slacker-Unentschlossenheit stand.

Neben der LP erschien bei Organik auch eine CD-Version mit neun zusätzlichen Songs von früher. Warum eine CD?
Mek May vom Organik-Label wollte unbedingt, dass „Nimmerland“ auch auf CD erscheint. Es war die Zeit, als Vinyl allmählich von CDs verdrängt wurde auf dem Markt. Mit der Einführung war auch ein Kulturkampf verbunden, ganz ähnlich wie bei den Kassetten. Eine Erfindung der Industrie, um noch mehr Kohle zu scheffeln. Wir fanden: Okay, wenn Mek das machen will, sind wir einverstanden. Weil CDs viel teurer waren als Vinyl-Alben, muss man auch mehr bieten, fanden wir. Also packten wir neun ältere Lieder auf die CD. Keiner von uns hatte zu der Zeit einen CD-Spieler, war viel zu teuer. Und auch ein wenig pfui.

Begleitet wurden diese Veröffentlichungen von einer großen Tour, „Kein Schlaf bis Bümpliz“ war das Motto vom 3. März bis 16. Dezember. Circa 42 Konzerte in der Schweiz, Deutschland und Österreich. Teilweise war das eine von Migros finanziell unterstützte Tour. Ihr wart ja auch dafür bekannt, dass ihr über Jahre in jedem „Krachen“ live gespielt habt. Ich vermute, es gab kaum eine Band in der Schweiz, die so intensiv live gespielt hat wie ihr.
Wir waren immer viel unterwegs und haben überall gespielt, wo man uns wollte. Die Entwicklung vom Verschrobenen zum Rockigen hatte sicher mit den vielen Konzerten zu tun. Schon beim Album „Regen im Park“ und vorher spielten wir oft, gleichzeitig haben wir dauernd neue Lieder gemacht und weiter im Proberaum aufgenommen. Die rote 7“ „Augen wie Revolver“ ist so entstanden oder die Lieder für den Kassetten-Sampler „Chart Attack“, die beiden Songs „Alles“ und „Nimm diese Blume“. Aber wochenlang auf Tour waren wir nie. Nicht nur in der Schweiz gab es eigentlich nur am Freitag und Samstag Konzerte, den Sieben-Tage-Betrieb von heute – außer es ist gerade Corona – gab es damals noch nicht. Wir liebten es, mit Richard rauszufahren und irgendwo zu spielen, weg von Schaffhausen, nur weg. Man traf nette Leute, schloss Bekanntschaften, es ergab sich ein Netz mit Kontakten. DIE SCHLIMMEN FINGER, STUNDE X, DIE GOLDENEN ZITRONEN mit Rocko Schamoni haben wir so getroffen, natürlich auch Schweizer Bands wie die MANIACS, DANGERMICE, TROTZ ALLEM, FREDS FREUNDE, BABY JAIL, SWINGING ZOMBIES, B-STANLEYS, BERMUDA IDIOTS ... wir haben da eine lange Liste gemacht im Buch zum neuen Doppelalbum. Mit der Migros gab es für die „Nimmerland“-Tour sogar etwas Budget für ein paar Scheinwerfer, die wir immer dabeihatten, und mit Werner Dönni einen Mann, der die PA aufbaute und als Soundmischer dabei war. Und natürlich Richard Meier, unser Fahrer und Mischer vom ersten bis zum letzten Tag.

Wie hat sich das mit euren Jobs oder dem Studium vereinbaren lassen?
Ich richtete es mir mit dem Jamarico-Job ein, aber mir war immer klar, dass ich das Studium abschließen will. Im Winter 1989, nach zweieinhalb Jahren, habe ich im Jamarico aufgehört und weiter studiert. Fisch war zu jener Zeit noch in der Lehre als Maler, er machte dann Jobs und fing an mit dem Schlagzeugstudium. Lenz arbeitete mal hier, mal da, vor allem auf dem Bau, er war nur mal kurz an der Uni. Einige Zeit später hat er dann Mathematik studiert.

„Nimmerland“, der Name des Albums, nimmt Bezug auf ein Lied der ersten LP der Band HERTZ aus dem Jahr 1981, die ja als die Wegbereiter des Swiss Wave schlechthin gelten – davor ab 1976 schon TAXI. Gab es diesen Einfluss von HERTZ?
Ja, wobei Nimmerland ein schönes Wort aus der Literaturgeschichte ist ... aber wir wollen das hier nicht vertiefen. Ich mochte die erste HERTZ-LP und auch das zweite Album „4 Männer“ immer sehr. Dieses Eckige, Steife, Hölzerne, dazu die Hochdeutsch-Schweizerischen Text ... mich erinnert das heute noch an das Künstlerduo Fischli/Weiss. Auch das Wort Nimmerland gefällt mir immer noch, erinnert nicht nur an den deutschen Vormärz, auch an Lummerland von Jim Knopf und der Lokomotivführer. Wir hatten ja auch immer das Kindliche oder Naive im Gepäck. Oder ist das Nimmerland jenes Land, das sich auch unsere Generation als Idee zusammengedacht hat?

Das „Nimmerland“-Album habt ihr ja schon im Juli 1987 in eurem Übungsraum aufgenommen. Abgemischt wurde es im Februar 1988 von Jon Langford von den MEKONS im Magnetix Studio in Wetzikon. Ihr seid als Vorgruppe seines Nebenprojekts THE THREE JOHNS am 6. April 1986 in der Grabenhalle in St. Gallen aufgetreten. Gab es da schon den ersten Kontakt oder wurde dies erst später durch RecRec eingefädelt?
Eingefädelt hat das in meiner Erinnerung Mek May. Das Konzert mit den THREE JOHNS war gut, die beiden Johns waren sehr nett, der dritte war ja eine Rhythmusmaschine. In Wetzikon war Heiri Vogel der Techniker, einer der Vogel-Brüder. Ein komischer Vogel. Mit Jon haben wir uns aber gut verstanden, es war immer sehr lustig mit ihm. Es gab eine ziemlich noble Beiz in Wetzikon, Jon wollte Fisch. Er dachte wohl, dass da etwas kommt wie Fish & Chips, aber es war Forelle. Er kaute dann ewig auf den Gräten rum und auf die Frage, ob es schmecke, sagte er nur: „Bones ...“ Er war ja Engländer und wir fanden, dass er mehr von der Musik und weniger von den Texten her mixt. Er hat das gut hinbekommen, die Aufnahmen waren qualitativ etwas grenzwertig. DIY eben.

1989: „Himmel, Hölle und der Fisch“-LP

Seite 4 beinhaltet fünf Songs: Alle sind von eurem dritten Album „Himmel, Hölle und der Fisch“. Hier kommt alles zusammen. Erfolgreichstes Album mit Single-Auskoppelung. Erschien neben Vinyl und CD auch noch als Musikkassette. Für die Aufnahmen wurden abermals Matzge Bröckel vom Vielklang-Studio und Jon Langford verpflichtet.

Nach der „Nimmerland“-Tour fingen wir sofort an, neue Songs auszuarbeiten. Wir waren ziemlich im Schuss. Bis Weihnachten 1988 hatten wir mehr oder weniger das ganze Album beieinander und bereits die Demos fertig. Berlin war zwei Mal gut gewesen, also gingen wir wieder nach Berlin, wir wollten nach „Nimmerland“ wieder in Deutschland aufnehmen. Vielklang war unterdessen umgezogen in die Stresemannstraße, neben das legendäre Hansa-Studio. Matzge hatte Lust, wieder mit uns zu arbeiten. Im März 1989 nahmen wir die Songs auf, im Juli flog Jon Langford ein und machte den Mix. Die Aufnahmen waren anstrengend, unsere Ansprüche gestiegen, auch die von Matzge. Aber wir waren erfahrener und hatten die Dinge unterdessen im Griff. Na ja, einigermaßen.

Yvon Baumann fotografierte das sehr gelungene Coverfoto, das auch als riesiges Tourplakat Verwendung fand. Peter Bäder, der Hausgrafiker von RecRec, war für die Gestaltung zuständig. RecRec und EFA machten den Vertrieb. Jogi Neufeld, der ein halbes Jahrzehnt ein weit über die Region St. Gallen hinaus innovatives Booking in der Grabenhalle gemacht hat, war jetzt euer Booker und hat eine weitere ausgedehnte Tour geplant. Ihr gehörtet zu den erfolgreichsten Indierock-Bands der Schweiz und habt euch konsequent nicht an den Mainstream verkauft.
Du sagst erfolgreich ... Waren wir erfolgreich? Es blieb in der Zeit etwas Geld übrig, aber zum Leben reichte es nicht, es war mehr Taschengeld. Die YOUNG GODS aus Genf oder ZÜRI WEST aus Bern verkauften viel mehr Alben, etwa zur gleichen Zeit erschienen „L’eau Rouge“ von den YOUNG GODS und „Bümpliz Casablanca“ von ZÜRI WEST. Da hinkten wir deutlich hinterher. Wir waren auf eine eigene Art störrisch. Sowohl künstlerisch als auch geschäftlich. Wir hatten und wollten keinen Manager, Jogi war ein prima Booker. Aber letztlich waren wir zu eigensinnig, um das Ganz so auf Beine zu stellen, dass die Band ein Kleinunternehmen mit Arbeitsteilung werden konnte wie das andere Bands gemacht haben.

Seid ihr eigentlich in den Charts gewesen im deutschsprachigen Raum? Gab es TV-Auftritte?
In den offiziellen Charts waren wir nicht, soweit ich weiß, außer mit dem schon erwähnten Pirmin-Lied. Im Schweizer Fernsehen hatten wir einen Auftritt in der Musiksendung „Zebra“. Ich erinnere mich daran, weil Polo Hofer auch in der Sendung war. Polo war allein, hing den ganzen Nachmittag in der Kantine herum und kippte tassenweise Weißwein. Ein sehr freundlicher, umgänglicher Typ, vor der Kamera ein absoluter Profi. Und natürlich auch die Begegnung mit einer Legende, der in meiner Kindheit mit RUMPELSTILZ einen Platz hatte.

Neu ist auch, dass Lenz bei der Mehrheit der Songs den Leadgesang übernahm.
War das neu? Wir haben uns eigentlich von Anfang immer abgewechselt mit Singen, oft auch zweistimmig. Lenz hat mehr Leadgesang gemacht, weil ich es nicht auf die Reihe bekam, gleichzeitig zu singen und Gitarre zu spielen – Lenz war geschickter. Bei den Arbeiten für das Doppelalbum, vielleicht auch ganz woanders, ist mir wieder aufgefallen, dass Lenz ein richtig guter Sänger geworden ist, er hat auch viel gearbeitet dafür. Wir haben gemeinsam mit Fisch viel investiert in die Gesangs-Arrangements.

Der titelgebende Song „Himmel, Hölle und der Fisch“, der sich nicht auf dem Rerelease befindet, da er sich musikalisch von euren anderen Stücken deutlich unterscheidet, bringt mich nochmals zu Jamarico zurück. Neben den schon genannten BAD BRAINS und H.R. war auch Glenn Danzig mit seinen Bands SAMHAIN und danach DANZIG dort ein großes Thema. Ich selbst habe mich damit nie wirklich groß befasst, doch höre ich da diesen Einfluss? Den Text von eurem Lied finde ich als ehemaliger Katholik natürlich sehr lustig.
Das DANZIG-Album fanden wir gut, diesen skelettierten Blues, von Rick Rubin runtergeschnitzt. SAMHAIN und MISFITS, die hatten einfach dieses super „Plan 9“-Artwork. METALLICA haben das später ja groß gemacht. In jenen Jahren wurde die Metal-Geschichte richtig groß. SLAYER, ANTHRAX, SUICIDAL TENDENCIES, auch die ersten SST-Bands verkauften wir gut. Manchmal gingen wir nach Feierabend im Jamarico rüber ins Volkshaus, ich erinnere mich an einen Gig von SLAYER, bei dem es schon im Foyer so laut war wie bei MOTÖRHEAD direkt vor der PA im Saal – mindblowing! Auch PUBLIC ENEMY spielten im Volkshaus auf der ersten Europatour, ich erlebte selten so viel Energie auf einer Bühne, auf eine ganz andere Weise als bei Gitarrenmusik.

Ihr seid irgendwie immer wilder geworden in jenen Jahren.
Wir wurden schon zu einer Art Rockband, aber beileibe nicht im Sinne der oben genannten Bands. Wir waren immer noch zarter, verschrobener auch. Wenn es darauf ankam, konnten wir zwar auch Pöbel-Skins aus dem Saal bugsieren wie einmal in Baden. Aber andererseits erinnere ich mich an ein Konzert von uns in der Kanzlei-Turnhalle mit fIREHOSE, der Nachfolge-Band von MINUTEMEN. Niemand kannte damals fIREHOSE, sie waren Vorband. Als Mike Watt mit seinem Bass beim Soundcheck loslegte, kehrten wir die Reihenfolge sofort um – wir spielten zuerst, weil wir niemals diese Energie hinbekommen hätten.

Laut einer Aussage von dir in einem Interview aus der Zeit spielt ebenfalls die Doom-Metal-Band SAINT VITUS eine Rolle dabei, die ja auch großen Einfluss auf CELTIC FROST hatte.
SAINT VITUS spielten sogar mal in Schaffhausen! Ja, wir waren Fans und unser Lied „Himmel, Hölle und der Fisch“ war wohl eine kleine Verbeugung. SAINT VITUS waren mit dieser tonnenschweren Verlangsamung von Rock extrem eigensinnig und viel mehr als Metal oder Doom. Bezeichnend war, dass sie bei SST herauskamen. SST veröffentlichte damals ja sehr unterschiedliche Musik, von Free-Jazz über Skatepunk und die Grunge-Vorläufer bis eben zu SAINT VITUS. Das waren auch komische Typen, so Provinzler, Höhlenmenschen, die ins Feuer starren, gebratene Wildschweine essen und warten, bis der Grizzly aus der Dunkelheit auftaucht. Die hatten sich ihren eigenen Kosmos gebaut. HELLHAMMER, die Urformation von CELTIC FROST, waren auf ihre eigene Weise ja auch Provinz-Solitäre. Nicht in den USA, sondern in der Zürcher Agglo-Einöde bei Bassersdorf. Martin war ein großer Fan von SAINT VITUS.

Auf der CD gibt es zwei weitere Songs: „Lady Blue“, der auch auf der B-Seite der Single-Auskoppelung von „Zehn Jahre“ ist, und ein über neunminütiger Track mit dem Titel „Eugen Joghurt 1990“, der mir komplett unbekannt ist. Ich vermute, dass dies eine Art DER BÖSE BUB EUGEN-Medley ist?
Medley ist gut, haha. Dani Affolter versuchte sich auf der Mundharmonika, es war auch eine Referenz an unsere Anfänge, einfach drauflos spielen. Dass der Song nur auf der CD erschien, hatte immer noch mit der Haltung zu tun, dass mehr bekommen soll, wer mehr zahlt: Eine CD kostete noch immer einen Zehner mehr als Vinyl, also wollten wir mehr bieten – eben das Joghurt-Lied. War mehr so ein Scherz am Rande, aber immerhin mehr Musik für mehr Geld. Gleiches gilt für „Lady Blue“. Wer die 7“ kauft, soll ein extra Lied bekommen. Und umgekehrt: Wer alles haben will, muss auch die 7“ kaufen, haha.

Im Sommer 1988 hatten sich DIE ÄRZTE zum ersten Mal aufgelöst. Gab es Bestrebungen eurerseits, in Deutschland und auch Österreich zu diesem Zeitpunkt mehr präsent zu sein?
Wie gesagt hatten wir keinen Manager, der so einen Business-Gedanken hätte haben können, dass nun der Platz von DIE ÄRZTE frei wird. Wir bekamen in Deutschland keine größere Tournee mit dreißig, vierzig Terminen zusammen. Das hätten wir machen müssen, zwei oder drei Mal im Jahr. Wollte man uns nicht? Hatten wir keine Lust, waren wir zu faul? Es war zudem auch so, dass der Tour-Lifestyle nicht gerade begeisternd war. Und wir waren eben auch typische Schweizer: Musik war für uns nicht die einzige Lebensoption. Es gab auch noch anderes.

Wart ihr nicht auch mit DIE GOLDENEN ZITRONEN unterwegs?
Ja, wir kannten die Goldies seit ihren Anfangstagen, wir spielten mit ihnen erstmals in Villingen-Schwenningen so um 1985 rum, oder ’86. In Bremen hat Fabsi vom Weser Label bei sich zu Hause mal ein schönes Gartenfest ausgerichtet. Dort haben wir gequatscht und Fußball gespielt, das war ja eine Band mit sehr unterschiedlichen, interessanten Charakteren voller Ideen.

Und wie war das auf Tour mit DIE GOLDENEN ZITRONEN?
Im Mai 1989 haben sie uns für ein paar Konzerte eingeladen, es war ein grandioses Debakel. Das erste Konzert war in Bonn, wir sind hingefahren und Lenz ging zum Bahnhof und fuhr wieder nach Schaffhausen zurück, ohne jemandem etwas zu sagen. Riesenärger! Fisch und ich standen ziemlich doof da. Wir übten dann mit Christian „Reverend“ Dabeler ein paar Lieder ein, der Reverend war als Roadie dabei. Ein Glück! So konnten wir wenigsten ein paar Stücke spielen bei den Gigs danach. Es passte zu dem, was ich vorhin gesagt habe: Wir waren irgendwie störrisch. Lenz schob eine Krise, das will ich hier nicht vertiefen. Irgendetwas war faul geworden an der Sache, wir wussten nicht genau was.

Weißt du es heute?
Was weiß man schon? Wir waren Schulhof-Kids und haben in den paar Jahren ziemlich viel in die Band gesteckt, aus Freude am Spaß, aus Leidenschaft. Da wird es auch menschlich, Freundschaften, Beziehungen, die sich verändern. Auch die Musik, die Szene oder das ganze Umfeld hatten sich rasend gewandelt aus diesem Geist der Achtziger Jahre. Und klar, wir hatten neben der Band unsere Fallschirme. Ich mit der Schreiberei und der Uni, Fisch mit dem Schlagzeugstudium, Lenz ebenfalls, er hat dann ja später eine Weile Klarinette studiert und später Mathematik. Als Lenz in Bonn abhaute, war das so ein Signal. Es war nicht Zufall. Die Goldies waren zu der Zeit dabei, mit ihrem Erfolg als Fun-Punker im Schlepptau von DIE TOTEN HOSEN ein kleines Rock-Unternehmen zu werden. Sie haben das dann abgebrochen Anfang der Neunziger Jahre und mit dem Album „Punkrock“, das sie in England mit Wild Billy Childish aufgenommen haben, eine Art zweite Karriere gestartet. Unbewusst wollten wir das auch nicht, so eine Rockband-Maschine werden. Lenz hat das gespürt. Ich weniger, damals wenigstens.

Du sagtest viel später in einem Interview: „Ich glaube, ‚Himmel, Hölle und der Fisch‘ ist technisch sicher die beste Platte von allen, die wir gemacht haben. Künstlerisch wahrscheinlich nicht, zudem führte sie die Band in eine kreative Sackgasse. Das war mit ein Grund, warum Lenz danach die Band verließ.“ Kannst du das noch detaillierter ausführen?
Als ich mich mit Lenz wieder durch den ganzen Katalog gehört habe, war ich erstaunt, wie gut wir am Ende spielen konnten. Das soll ich gewesen sein? Ich kann heute vielleicht knapp noch einen Griff auf der Gitarre. Uns ist aber auch aufgefallen, dass wir immer etwas Widerborstiges und Eigensinniges beibehalten haben in den fünf Jahren. Die Art und Weise, also wie wir Musik gemacht haben, woher die Ideen kamen und was die Motivation war, hat sich gleichzeitig stark verändert und wir haben ein musikalisches Bewusstsein entwickelt, das auch auf die Musik um uns reagierte. „Rockmusik verhandelt das Erwachsenwerden, nicht das Erwachsensein“ – dieser Satz von Tobi Müller in den Linernotes zum Doppelalbum ist mir dazu hängengeblieben. Wir waren irgendwie erwachsen geworden. Wir hatten Energie, waren ehrgeizig und dieser Ehrgeiz hatte auch dazu geführt, dass wir in jeder Hinsicht ein Level erreichten, auf dem das Erwachsensein hätte anfangen müssen. Aber wer hat schon Bock aufs Erwachsensein – sicher nicht in der Musik, das endet ja im Jugendknast.

Es ist doch gut, wenn man sich jung fühlt beim Älterwerden!
Klar. Aber sich wiederholen war keine Option, nie. Es kam zu Abnutzungserscheinungen, Stücke schreiben, im Studio aufnehmen, Konzerte ... eine Mühle. Auch in unseren Beziehungen in der Band wurde manches kompliziert. Vor allem Lenz war auf der Suche, was er machen wollte im Leben. Die Band bot keine Perspektive, es gab ja kein Geld für niemanden. Ich selber war musikalisch immer limitiert, ich konnte weder Singen noch Gitarre spielen, ich wusste immer um meine Grenzen. Ich war wohl immer mehr an Texten und Ideen interessiert und musste immer brutal ackern, um am Start zu sein mit den Fingerchen am Gitarrenhals. Aber ich hatte immer Ideen. Die „künstlerische Sackgasse“, die du erwähnt hast, hatte auch mit Veränderungen in der Musik um uns herum zu tun.

Rock’n’Roll will doch never die!
Die Rave-Geschichten aus England und die frühen Techno-Sachen lagen in der Luft, neue Ideen und Konzepte, auch technologisch. Dazu gibt es die Anekdote mit Westbam, der damals im Vielklang-Studio an der Stresemannstraße in einem Nebenraum an seinen ersten Tracks gearbeitet hat. Wir staunten fasziniert: Aha, so kann man auch Musik machen? Nur mit Platten anderer, Sampler, Drum-Machine? Auch die politischen Verhältnisse änderten sich mit dem Mauerfall. Wir waren bis dahin wohl eher „vorpolitisch“ in dem Sinn, dass wir auf die unmittelbaren Verhältnisse und repressiven Stimmungen der ungeschriebenen Gesetze reagierten und uns so den Raum schafften, um gehört zu werden. „Raum“ auch im wörtlichen Sinn, die Achtziger Jahre waren auch die Zeit, in der überall Jugendzentren aufgemacht wurden und für Freiräume gekämpft wurde. Mit dem Mauerfall, der Kopp- und der Fichen-Affäre, der Stop-The-Army-Initiative und der EWR-Abstimmung in der Schweiz, bekam das Politische einen neuen Aggregatzustand – unmittelbarer, direkter. Für die Armeeabschaffungs-Platte haben wir ja auch ein Lied beigesteuert.

Laut Jogi Neufeld war es relativ einfach für euch, Konzerte in der Schweiz zu buchen. In Deutschland und vor allem in Österreich war dies zu der Zeit um einiges schwieriger bis fast unmöglich. Es gab offenbar auch keine groß organisierte „Himmel, Hölle und der Fisch“-Tour, sondern es wurden relativ spontan nach Erscheinen des Albums etliche Konzerte gegeben. Warum war dies so?
Wir wollten in Deutschland mehr spielen, aber es klappte eben nicht. Jogi machte einen super Job, da war nichts spontan! Aber es stimmt natürlich, dass wir in Deutschland und in Österreich nur einen halben Fuß auf den Boden brachten. Wir fanden keinen Booker, der sich für uns den Arsch aufriss, und wir selber hatten genug zu tun in der Schweiz – wir spielten in sieben Monaten wieder weit über vierzig Konzerte mit „Himmel, Hölle und der Fisch“. Wir probten kein einziges Mal in dieser Zeit, lieferten Wochenende für Wochenende ab, „Bude voll People“, würde Rocko Schamoni mit DEICHKIND heute sagen. Nach einer kurzen Pause trafen wir uns im Spätsommer 1990 wieder im Proberaum, schauten uns an und fragten: Was jetzt? Es war uns klar, dass wir uns neu erfinden wollten. Aber uns fiel nicht ein, wie das gehen soll. Wir waren festgefahren. Lenz verließ die Band. Das war’s, fürs Erste jedenfalls. Fisch und ich wollten weitermachen. Aber das ist der Anfang einer ganz anderen, neuen Geschichte.

Teil 3 folgt in Ox #171!