Billy Childish

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No sympathy for the record industry

Raus aus der Musik ist Billy Childish nicht, schließlich veröffentlicht er alle Nase lang eine neue obskure Single auf irgendeinem Kleinstlabel. Aber ohne, dass es jemand so recht gemerkt hat, fand seit der Geburt seiner Tochter vor rund sechs Jahren kein Konzert mehr statt – und fast hätte Billy sein im Interview geäußertes Traumziel erreicht, endlich keine Konzerte mehr spielen zu müssen, sondern sich voll und ganz dem Musizieren im Studio sowie dem Malen widmen zu können. Letzteres ist sowieso längst der „Hauptberuf“ des Engländers mit dem markanten Schnauzbart, er lebt davon. Aber keine Konzerte mehr jenes Mannes, der einst mit THEE HEADCOATS das LoFi-Garage-Punk-Genre begründete und seitdem Myriaden von Platten unter zig Bandnamen veröffentlicht hat? Undenkbar! Dachten sich auch die Macher des Kölner „Weekend“-Festivals und überzeugten Childish von einem Auftritt. Klar, dass ich die Chance nutzte, ein Interview zu machen.

Billy, der Backstageraum sieht aus wie ein Kinderzimmer, mit Spielecke. Deine kleine Tochter ist dabei, dein Teenager-Sohn, deine Frau Julie und natürlich Schlagzeuger Wolf. Sieht eher aus wie ein Familienausflug als wie eine Band auf Tour.

Ja, aber es ist auch unser erster Auftritt seit sechs Jahren. Seit meine Tochter geboren wurde, haben wir nur ein oder zwei Shows gespielt — die ist jetzt bald sechs.

Warum diese Pause?


Ich wollte schon seit den Zeiten der MIGHTY CAESARS immer mal aufhören, Musik zu machen, aber ich kam irgendwie nie dazu. Ich redete aber immer davon aufzuhören. Und irgendwann spielten wir dann nicht mehr und hatten auch nicht die Absicht, es jemals wieder zu tun. Es ist ziemlich abnormal, dass wir jetzt doch wieder auftreten. Wir haben nie viel Aufhebens darum gemacht, keine Konzert mehr zu spielen, ich wollte nichts erklären müssen – wir hörten einfach auf. Und jetzt spielen wir eben wieder mal ein Konzert. Ich mag die Musikszene einfach nicht, mochte sie noch nie. Ich kann die Clubs nicht leiden, ihre PA-Systeme nicht, ich mag es nicht, wenn die Leute mich über die Displays ihrer Telefone beobachten, ich mag die Security nicht, ich will nicht über modernes Equipment spielen, ich will nicht vor einem Publikum spielen, das einen modernen Sound erwartet – das alles passt nicht dazu, wie wir es gerne mögen. Das führt alles zu aufreibenden Diskussionen, das zermürbt.

Was nervt dich besonders?

Zum Beispiel haben wir vor einer Weile mal eine Session für die BBC gespielt, für Radio 6. Da sagte der Toningenieur zu uns, mit unserem alten Zeug könnten wir da nicht spielen – das sagt so ein Zwanzigjähriger zu mir! Ich habe das satt, diese Sprüche von wegen: „Das könnt ihr so nicht machen!“, die musste ich mir schon 1981 anhören und habe es gehasst. Das hat man irgendwann satt. Und die Musikszene, die mich interessiert, existiert so einfach nicht mehr. Vor ein paar Jahren gab es dann dieses Garage-Rock-Revival ...

Du meinst im Zuge des WHITE STRIPES-Erfolges?

Ja, das kam alles über Nacht, und plötzlich gehörte es zum Standardprogramm von London-Musiktouristen, ein Konzert von uns zu besuchen. Mit der Folge, dass wir vor Leuten spielten, die eigentlich keine Ahnung hatten, wer wir sind, worum es uns geht. Hauptsache, ein weiterer Punkt auf der Liste der Touri-Attraktionen ist abgehakt. Dafür habe ich einst aber nicht angefangen mit dem Musikmachen. Tja, und so verloren wir eben immer mehr das Interesse daran, Konzerte zu spielen. Wir haben sowieso schon immer aus einer ganz andere Motivation heraus Musik gemacht als so ziemlich alle anderen. Dieser ganze Mist, der immer zum Thema LoFi gesagt und geschrieben wird – das klingt immer so, als ob ich mich nicht für unseren Sound interessieren würde. Dabei sind wir eine der wenigen Musikgruppen, die eine sehr konkrete Vorstellung davon haben, wie ihr Sound zu sein hat. Deshalb verweigern wir uns allem, was unseren Interessen zuwiderläuft: Produzenten, Booking-Agenten und Manager, so was brauchen wir nicht. Wir kontrollieren alles selbst, und das gehört untrennbar zu unseren künstlerischen Bestrebungen. Und wir wollen nicht für dumm verkauft werden, sondern wollen, und das möchte ich bitte nicht als anmaßend verstanden wissen, wie Künstler behandelt werden, nicht wie eine Ware. Mit so einer Einstellung landet man im Musikgeschäft freilich in einer Sonderrolle, obendrein streben wir nichts davon an, was in diesem Geschäft gemeinhin als erstrebenswert betrachtet wird.

Gehst du selbst noch auf Konzerte?

Ich habe damit 1978 aufgehört. Ich habe wenig bis kein Interesse an gegenwärtiger Musik, ja, ich höre generell fast gar keine Musik. Und so habe ich mich vom Musikmachen im Laufe der Jahre immer weiter entfremdet. Das Einzige, was ich daran mag, ist das Spielen. Warum? Weil es dem Malen so ähnlich ist, und ich bin nunmal ein Maler. Das ist meine Hauptbeschäftigung. In der Kunstwelt führe ich übrigens die gleichen Diskussionen wie in der Musikszene, an der Kunst interessiert mich eben auch nur das Malen an sich, nicht das ganze Drumherum. An der Musik mag ich den Klang an sich und am Malen die Farben, das ist das Gleiche. Die Musikbranche übrigens ist noch konservativer als die Kunstszene. Nimm das Werk von Baselitz etwa, auf Musik übertragen entspricht es einem Nummer-eins-Hit, der mit einem alten Kassettenrecorder aufgenommen wurde. Das beweist, wie viel intoleranter es in der Musik zugeht, denn ein auf diese Weise entstandener Song bekäme niemals eine Chance, das wäre viel zu lo-fi. In der Kunstwelt hingegen würde sich keiner trauen, Baselitz als naiv oder primitiv zu bezeichnen, er weiß schließlich genau, was er tut – ob man das jetzt mag oder nicht. In meiner Zeit mit den MILKSHAKES hingegen wurden wir reviewt auf der Basis, dass wir versuchen würden, zu klingen wie THE SMITHS, aber keine Ahnung hätten, wie das geht. Dabei interessierten uns THE SMITHS oder die New-Romantic-Welle so was von überhaupt nicht. Wir waren eine Rock’n’Roll-Band, gehörten zu jenem kleinen Teil der Punk-Bewegung, der auf Rock’n’Roll stand, wohingegen die Mehrheit im Punkrock auf Glam abfuhr.

Was hat dich an Punkrock damals angezogen?

Der Grund, weshalb ich mich 1977 für Punkrock begeisterte, war, dass mich das an die British Invasion von 1965 erinnerte. Das David Bowie-Element war nicht so mein Ding.

Um auf eure Konzertpause zurückzukommen: Hast du das Live-Spielen nicht irgendwann vermisst?

Ganz gelegentlich. Auf der Bühne zu stehen ist ja okay, mir macht nur das ganze Drumherum keinen Spaß. Heute etwa sind wir früh morgens mit dem Zug in London losgefahren, durch den Tunnel, ich mag einfach keine Flughäfen, und jetzt sitzen wir hier seit Stunden herum und warten, bis wir spielen können. Das macht mir keinen Spaß, der eigentliche Auftritt schon. Dabei sind die Leute hier sehr freundlich und die anderen Bands und Musiker auch. Ich habe mit denen aber wirklich nicht viel gemeinsam, ich fühlte mich dieser Szene nie richtig zugehörig. Bei den HEADCOATS hieß es immer: „We will not tolerate the rock’n’roll lifestyle.“ Johnny sagte das immer. Wir waren nie darauf aus, „cool“ zu sein. Mich interessiert nur der Klang der Gitarre, wie er aus einem bestimmten Verstärker dröhnt. Es gibt Leute, die behaupten, uns sei der Sound unserer Aufnahmen egal gewesen, doch das ist völlig unzutreffend, wir haben uns sehr sorgfältig um bestimmte Details gekümmert, die niemandem außer uns selbst aufgefallen sind. Wir waren immer der Ansicht, dass es zwar sein kann, dass vielleicht in einem Song mit einem Solo irgendwas nicht stimmt und man den Track deshalb womöglich neu aufnehmen sollte, dass wir dadurch aber die ganze Aufnahme verändern würden – und somit entschieden wir uns dagegen, ganz bewusst. Es braucht Mut, so etwas nicht noch mal zu ändern, es ist viel einfacher, es zu tun. Aber damit verfälscht man es ja auch. Beim Malen ist es genauso, das muss Ablaufen wie automatisch, oder beim Schreiben, da geht es um absolute Spontaneität. Und manchmal ist es an einem Bild nur ein Punkt, den ich noch hinzufügen muss, ein Detail, das nur mir auffällt, niemand anders, aber solange ich das nicht mache, stimmt es nicht. Das andere Problem mit dem Malen sind die Brüche, die Fehler, die ein Bild haben muss. Hat es die nicht, ist zu perfekt, ist die Poesie zerstört. Und so ist es auch mit unserer Musik. Wir stecken sehr viel Mühe in die Produktion unserer Alben, die sind wirklich sehr stark produziert – und zwar mit dem Ziel, am Ende so zu klingen, als seien sie überhaupt nicht produziert.

Und das geht wie?

Der Trick dabei ist, nur minimal produktionstechnisch einzugreifen. Ich weiß, wie man digital arbeitet, aber damit so umzugehen, dass man das nicht hört, erfordert viel Erfahrung und Hingabe. Ich werde immer mal gefragt, was wir mit der Band so machen, und ich sage dann, wir veröffentlichen Schallplatten, auf Vinyl. Ach, das sei ja gerade ziemlich angesagt, bekomme ich neuerdings zu hören, und ich sage dann, wir haben noch nie was veröffentlicht, das nicht auf Vinyl erschienen ist. Mit Trendbewusstsein hat das rein gar nichts zu tun, sondern nur damit, dass uns unsere Musik wichtig ist. Oder ein anderes Beispiel: Zu Zeiten der MILKSHAKES gab es kaum noch eine Band mit einem richtigen Schlagzeug, alle arbeiteten mit Drumcomputern. Die hielten uns für blöd, dass wir mit so einem antiquierten Schlagzeug ankommen! Dabei ist das Gegenteil richtig. Und wir blieben bei Vinyl, weil es besser klingt! Ich sagte damals schon, dass CDs Müll sind und ein großer Fehler – und ich behielt recht. Wir können uns heute glücklich schätzen, dass es immer noch genug Leute gibt, die sich für uns interessieren, dass es noch sinnvoll ist, Vinyl zu pressen. Ja, CDs von uns gibt es auch, weil viele Leute das eben haben wollen. Für das Glück, dass sich noch jemand für uns interessiert, haben wir aber auch hart gearbeitet.

Wie spontan ist das, was du tust – und wie dickköpfig, wie geplant?

1977 hörte ich von der Idee von Punkrock, dass es darum geht, dein eigenes Ding zu machen, und diese Vorstellung gefiel mir. Dahinter steckte kein Plan, wir machten einfach, und machten einfach weiter und wunderten uns, warum es nicht alle so machen wie wir. Ich hatte gar keine andere Wahl. Ich habe als Maler ja ungefähr so einen umfangreichen kreativen Output wie als Musiker, und dahinter stecken weder Plan noch Strategie. Im Gegenteil, die Menge an sich wird schon als kontraproduktiv angesehen. Aber ich habe mich eben der Musik und dem Malen verschrieben, ich kann nichts dagegen tun. Die Bilder male ich, weil sie gemalt werden müssen. Manche mag ich auch gar nicht, aber da muss ich dem Bild eben gehorchen. Und mit der Musik verhält es sich genauso: die machen wir, weil sie eben genau so sein muss.

All die Platten, die in den letzten Jahren erschienen sind, obwohl ihr keine Konzerte gespielt habt, enthalten die alte Songs oder sind das jeweils aktuelle Aufnahmen?

Das sind alles neue Aufnahmen. In dem Jahr, in dem ich eigentlich mit dem Musikmachen aufhören wollte, veröffentlichten wir letztlich fünf Alben. Das war das Jahr, als ich mit meinem Freund Neil die SPARTAN DREGGS gründete. Neil war einst bei THE FIRE DEPT., und das war meine Lieblingsband. Er wollte endlich wieder was aufnehmen, und so wurden meine Frau Julie und ich seine Band. Da ging es in erster Linie darum, ihm zu ermöglichen wieder Musik zu machen. Wir machten das erste Album, und ich war mir sicher, dass niemand ein weiteres Album der Band hören will – und so machten wir noch drei. Alles Sachen, von denen wir uns nicht vorstellen konnten, dass sich jemand dafür interessiert, Gedichte und dazu Rock’n’Roll. Also ja, alles, was in den letzten Jahren rauskam, waren aktuelle Aufnahmen, mit Ausnahme der Peel-Session der POP RIVETS. Mit der Musik ist es wie mit meinen Ausstellungen: was man da zu sehen beziehungsweise zu hören bekommt, ist in der Regel höchstens ein halbes Jahr alt. Aktuell sind auch schon wieder zwei Alben in der Mache, eines von CTMF und eines von THE DEAR WATSONS.

Apropos THE DEAR WATSONS: Wann ist es jeweils an der Zeit, sich einen neuen Namen auszudenken für deine Band?

Ach, das hängt ganz davon ab ... CTMF geht zurück auf den Bandnamen THE CHATHAM FOUR aus dem Jahr 1976, das war meine erste Idee für einen Bandnamen, als ich damals in einer Punkrock-Band spielen wollte. Der Name wurde nie verwendet, es gab nur ein paar Songtexte, und so fand ich, dass es an de Zeit ist – ich konnte mich sogar noch an die Texte erinnern. THE DEAR WATSONS wurden gegründet, weil ich Lust hatte auf ein paar R&B-Songs und der Meinung war, dass wir für dieses Projekt einen guten Namen brauchen. Ich fand, THE DEAR WATSONS ist ein schön doofer Name. Außerdem zitiert er THEE HEADCOATS.

Faszinierend finde ich es immer, die Hintergründe etwa deiner Songtitel und -texte zu recherchieren. Etwa den von „Die Hinterstoisser Traverse“ von 2013, bei der es um den Hinterstoißer-Quergang an der Eiger-Nordwand geht, bei deren Begehung 1936 vier Bergsteiger ums Leben kamen.

Darauf kam ich, weil ich den daran beteiligten Bergsteiger Toni Kurz malte. Ich interessiere mich für extrem vieles, und die Geschichte der Hinterstoißer-Traverse ist so faszinierend, dass ich das für einen guten Plattentitel hielt. Außerdem hast du sicher schon bemerkt, dass ich ein Faible für die deutsche Sprache und deutsche Themen habe. Daher rührt es, dass etwa Hans Fallada in meinen Texten auftauchte. Deutsch spreche ich leider nicht, ich kann nur etwas „Gig German“ seit den MILKSHAKES-Zeiten, also was man halt auf der Bühne so braucht.

„Punk ist nicht tot“, hast du auch mal gesungen.

Das war ein Plakatslogan zur ersten Tour der POP RIVETS in Deutschland. In einem Text eines aktuellen Songs auf einer Single auf Squoodge tauchen auch wieder ein paar deutsche Zeilen auf, aber an die kann ich mich schon nicht mehr erinnern.

Was fasziniert dich an der deutschen Sprache? Damit stehst du ja in einer alten britischen Tradition?

Ja, irgendwie schon. Woran das liegt? Das hängt mit dem Zweiten Weltkrieg zusammen, und damit, wie lächerlich die deutsche Sprache für die Briten klingt, wenn sie aus dem Mund von Adolf Hitler kommt. Diese Aussprache zu veräppeln hat sich tief in die britische Arbeiterklassenkultur eingebrannt. Es ist so, dass meine Generation in den Sechzigern noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieg aufwuchs. Wir spielten als Kinder eigentlich immer nur Krieg, wir waren völlig fasziniert von dem Thema. Dazu kommt, dass ich mich schon immer für deutsche Kunst und Kultur interessiert habe, ganz unabhängig von der Kriegsthematik. Diese Faszination ist also sicher eine Generationssache, von Leuten meines Alters und älter. Und natürlich gibt es da auch eine humoristische Seite. Es ist auf jeden Fall auch was Unterbewusstes, schließlich haben der Erste und der Zweite Weltkrieg das moderne Europa hervorgebracht. Da gibt es immer noch viele unaufgearbeitete Traumata im europäischen Unterbewusstsein. Humor ist eine Art, damit umzugehen, das zu verarbeiten. Immerhin wurde in England zu jener Zeit, anders als während der Sechziger Jahre in Deutschland, auch über den Krieg geredet, von unseren Eltern und Großeltern, die mitgekämpft hatten. Als wir in den Siebzigern erstmals in Deutschland auf Tour gingen, wurde dort das Thema noch totgeschwiegen, man hat nicht über das gesprochen, was als Schuld empfunden wurde. Das hat natürlich zu Problemen geführt, aber diese Schuldgefühle hatten wir in England nicht – wir hatten ja auch nicht unter einem faschistischen Regime leben müssen.

Die SEX PISTOLS sahen das anders, sie sangen: „God save the Queen and her fascist regime“.

Ja, aber das hatte ja was damit zu tun, dass unsere königliche Familie deutsche Familienbande hat. Und es gab immer mal Gerede über rechte politische Vorlieben bestimmter Mitglieder der Königlichen Familie. Und König Edward VIII, der 1936 abdankte, war als Vertreter der Appeasement-Politik bekannt. Vom britischen Faschistenführer Oswald Mosley ging meiner Meinung nach weniger Gefahr aus – die Briten hatten schon immer große Angst vor einer Revolution, speziell nach der Französischen Revolution. Und auch später, während der großen Streiks, herrschte eine große Angst vor einer kommunistischen Umwälzung. Und rückblickend lassen sich einfach historische Ereignisse immer sehr leicht analysieren, aber welcher britische Soldat beispielsweise konnte denn nach seiner Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg die Situation in Russland richtig einordnen? Damals wusste keiner genau, was da lief, was unter Stalin geschah, aber heute gibt es klare Hinweise darauf, dass der Kommunismus ein großes Problem darstellt. Als George Orwell gegen Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte, einen Verlag für „Animal Farm“ zu finden, sagte man ihm, er könne nicht die Führer der Revolution als Schweine darstellen – das war zu einer Zeit, als Russland ein Verbündeter Englands war und Stalin geschätzt wurde. Stalin wurde später als Massenmörder entlarvt. Was, wenn Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg kommunistisch geworden wäre? Damals war die Linke weit stärker als die rechten Parteien.

Und heute stehen in Russland immer noch oder wieder Stalin-Statuen.

Russland hat heute seine eigenen Probleme. Unterbewusst schleppen die viele Altlasten mit sich herum. Ich habe da mal ausgestellt und mich mit Russen meines Alters unterhalten, und was da so gedacht wird, auch über den Zweiten Weltkrieg, war schon ... seltsam. Da war eine Frau, die wirkte nach außen sehr kalt und kontrolliert, doch man merkte, wie nahe ihr das ging. Die war da noch nicht mal geboren, aber die emotionale Last empfinden die Menschen selbst heute noch.

Über 20 Millionen Russen starben damals, ein Vielfaches der Toten im Rest von Europa.

Ja, im Vergleich ist das enorm – im Verhältnis etwa zu rund einer Million Briten. Und das Land war zudem völlig verwüstet. Wie gesagt, was Geschichte mit den Menschen anstellt, was unter der Oberfläche so brodelt, das fasziniert mich.

Gibt es eigentlich etwas, was dich nicht interessiert? Wenn man sich die Inhalte deiner Songs mal anschaut, ist da wirklich alles dabei, inklusive alter Haustierrassen.

Es gibt sicher eine Menge Themen, die nicht so viel hergeben, aber sehr vieles kann interessant sein. Ich interessiere mich sehr für Geschichte, schon als Kind fand ich das Zeitalter Napoleons spannend, besonders den Aufbau seiner Marine. Zu meinen Pfadfinderzeiten, so bis 14 etwa, galt meine spezielle Neugier dem Leben und der Kunst der Höhlenmenschen, Cro-Magnon und so weiter. Ich habe nicht studiert, bin nicht akademisch gebildet, habe aber vielseitige Interessen. Es ist einfach faszinierend, was die Menschen so alles anstellen, wie verrückt sie sein können.

Es gibt Menschen, die von dir sehr fasziniert sind. Auch bis hin zum Stalking?

Nein, aber wir spielen ja auch fast nicht mehr live, denn meist gibt es bei jeder Show ein oder zwei von denen. Manche Menschen übertreiben es sicher etwas mit ihrer Begeisterung für mein Tun, aber so weltberühmt bin ich ja nicht, ich leide also nicht sehr darunter.