Es ist alles eine Frage der Wahrnehmung, des Blickwinkels. Billy Childish, das ist der unermüdliche Musiker, Sänger, Songwriter, der seit über vierzig Jahren unter Namen wie THEE MILKSHAKES, THEE HEADCOATS, THE POP RIVETS, THE BUFF MEDWAYS, THE CHATHAM SINGERS, THE SPARTAN DREGGS und aktuell als WILD BILLY CHILDISH & CTMF auf der Bühne steht, der Garage-LoFi-Punk (neu) definierte und sich weder um beste Aufnahmetechnik noch um spielerische Raffinesse schert, der eine der längsten Diskografien der Musikgeschichte angehäuft hat mit hunderten Alben und Singles. Billy Childish ist aber auch William Hamper, der Maler. Einst war William-Billy mit Tracey Emin liiert, sie verschaffte ihm auch den Namen für seine Kunst, „Stuckism“, weil er „stuck“, stecken-, stehengeblieben sei, wie sie lästerte. Die Musik ist in den letzten Jahren für den Maler Hamper im Vergleich zu seiner Malerei nur ein kleiner gewordener Teil des Lebens, von seinen Bildern lebt er. Diesen anderen Billy Childish nimmt der Musikfan freilich kaum wahr – und unter anderem darüber spreche ich mit ihm anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Albums „Last Punk Standing“ via Damaged Goods Records.
Billy, was hast du heute gemacht?
Ich war in meinem Studio und habe Bilder gemalt. Mein Studio ist hier in Chatham in der alten Werft. Und jetzt sitze ich zu Hause und will gleich noch ein paar Blues-Songs spielen, ein paar Ideen entwickeln, die ich dann morgen aufnehmen werde.
Wie muss man sich dein Studio, dein Atelier vorstellen? Als einen großen Raum voll mit Leinwänden, Bildern, überall Farbspritzer?
Es ist ein sehr großer Raum mit Holzdielenboden und hohen Wänden aus Holz. Und hunderten Gemälden. Es ist ein georgianisches Gebäude, direkt neben der alten Seilerei, auf dem Gelände der historischen Werft von Chatham, wo ich als junger Mann einst arbeitete. Es sieht wirklich so aus, wie man sich ein Maleratelier für ein Filmset vorstellen würde, so vor sechzig oder hundert Jahren.
Raum ist im Großraum London, zu dem Chatham ja noch gehört, ein teures Gut, ein Luxus.
Nun, Chatham ist nicht London. Ich habe nie in London gelebt, sondern immer hier in Chatham, wo ich geboren wurde. Chatham ist eine der Medway-Städte und war ein großer Marinestützpunkt, der aber schon lange geschlossen ist. Die Docks sind geblieben, und da habe ich meinen Raum. Die mögen mich da, es ist unstressig, und erst neulich habe ich da eine große Ausstellung gehabt.
Ich denke mir, dass es für Künstler angesichts von fortschreitender Gentrifizierung und steigender Mieten immer schwerer wird, die nötigen Räumlichkeiten zu finden. Wie machen das andere Künstler?
Ich weiß es nicht, mehr oder weniger teuer ist es heute ja überall. Mein Sohn studiert mittlerweile in Central London Malerei an der Slade School of Fine Art und dem fällt es echt schwer, was Bezahlbares zum Wohnen zu finden. In Central London findet man praktisch nichts. Aber so ist das ja mittlerweile in allen größeren Städten, und auch auf dem Land, speziell im Südwesten von England leben einfach zu viele Menschen, es gibt zu wenig Wohnraum.
Hattest du denn schon immer ein Atelier dieser Art?
Nein, die ersten dreißig, vierzig Jahre malte ich bei meiner Mutter im Wohnzimmer oder Schlafzimmer. Erst vor rund zehn Jahren, als ich mit fünfzig über Nacht als Maler Erfolg hatte, machte ich das „Upgrade“ zu einem größeren Raum. Meine Bilder konnten maximal so groß sein, dass sie noch durchs Treppenhaus passten. Jetzt kann ich so große Bilder malen, wie ich will: wenig Raum, kleine Bilder – großer Raum, große Bilder.
Menschen, die dich als Musiker kennen, als Billy Childish, fällt es immer noch schwer zu verstehen, denke ich, dass in anderen Kreisen, in der Kunstwelt, William Hamper weit bekannter ist – und die wiederum den Musiker kaum auf dem Schirm haben. Wie ist das für dich, ist das wie eine gespaltene Persönlichkeit?
Ich male ja schon, seit ich denken kann. Ich bin vor allem ein Maler, meine ersten Bilder malte ich mit zwölf. Meine Schullaufbahn endete früh, ich arbeitete auf den Docks, aber mit 17 schaffte ich es dann, nach der Arbeit zur Kunstschule zu gehen. Ich malte also, bevor ich Musik machte, und lernte auf der Art School Menschen kennen, die Musik machten. Dann wurde ich Sänger in einer Band. Ich malte aber auch immer, und zu jener Zeit fing ich auch an zu dichten, schrieb Texte für die Band. Mit zwanzig lernte ich dann Gitarre spielen, zuerst war ich ja nur Sänger einer Punkrock-Band. Unter dem Namen Billy Childish malte ich nie, sondern immer unter meinem richtigen Namen William Hamper. Meine erste Ausstellung war einst in Hamburg, und oft spielte meine Band aus Anlass einer Ausstellung, also war schon einigen Leuten bewusst, dass ich auch male. Für mich existiert da keine Trennung, auch weil ich mich nicht als Maler ansehe, außer, wenn ich gerade male. Genau wie ich mich nicht als Musiker begreife, außer ich mache gerade Musik. Ich möchte nicht über das definiert werden, was ich mache. Ich habe es ja auch nicht darauf angelegt, als Maler Karriere zu machen, ich hatte einfach nach vielen, vielen Jahren Glück. Vielleicht habe ich ja auch eines Tages mit meiner Musik Glück.
Wie ist das Kunstgeschäft denn so? Besser oder schlimmer als das Musikbusiness?
In mancher Hinsicht ist es leichter als das Musikbusiness, in anderer Hinsicht verrückter. Die Kunstwelt ist kleiner als die Musikwelt, das ist alles etwas exklusiver als im Musikbereich, in dem man mehr Platz hat. Es gibt viel Platz, um beides zu machen, Musik und Malerei, aber wenn es dann um den Profibereich geht, wird es schon enger, und ehrlich gesagt bewege ich mich als Maler und Musiker in einem Niemandsland. In der Kunstszene bin ich in der Hierarchie wohl am unteren Ende des oberen Endes angesiedelt. In der Musik hingegen bin ich ein Nobody.
Komm, das war „fishing for compliments“.
Nein, ich versuche nur meine Position zu begreifen, in der Musik- und in der Kunstwelt. In der Musikwelt bin ich ein Niemand, auch wenn ich in so einer Kultsituation bin, weil ich ich schon so lange dabei bin und möglicherweise ein paar Leute beeinflusst habe, die erfolgreiche Musiker sind. Aber es war nie mein Ziel, ein erfolgreicher Musiker zu werden, genau wie es nie mein Ziel war, als Maler Erfolg zu haben. Ich habe einfach immer gemacht, was ich machen wollte, und hatte irgendwann mit der Malerei Glück. Also Glück im Sinne von Akzeptanz. Ich strebe nicht nach Akzeptanz, es kümmert mich nicht, ob mir die widerfährt oder nicht. Interessant an der Kunstwelt ist für mich, Bilder malen zu können, so wie mich an der Musikwelt interessiert, dass ich Platten machen und meine Lieder spielen kann. Es ist doch überall so: das, was am populärsten ist, ist das Schlechteste. Das ist wie beim Essen. Die meiste Musik ist McDonald’s-Musik, sie hat keinerlei Nährwert und ist, was mich betrifft, völlige Zeitverschwendung. Der Massenmarkt interessiert mich nicht. Und es macht mir auch nichts aus, ein Nobody zu sein, es gefällt mir sogar.
Zuletzt unterhielten wir uns Ende November 2015 in Köln ...
Ich erinnere mich, davor hatten wir sechs Jahre oder so kein Konzert gespielt. Nun, letztes Jahr gab es ein Konzert in Berlin anlässlich einer Ausstellung. Und in London spielten wir 2018 auch. Es waren wohl so zwei, drei Konzerte im Jahr seitdem.
Hast du deine „Konzertunlust“ also überwunden?
Ach, es ist eher so, dass mir die Umstände eines Konzertes nicht gefallen. Wir verwenden sehr alte Instrumente und Verstärker, und mir gefällt der Sound der modernen PA-Systeme nicht. Es ist für uns deshalb schon alleine aus dem Grund schwierig, Konzerte zu spielen, weil kaum ein Veranstalter die Art von Equipment hat, die wir bevorzugen. Mein Problem ist, dass es mich interessiert, wie Musik klingt, und deshalb bin ich wählerisch und die meisten Menschen verstehen das nicht. Die Leute denken, die heutige Technik sei der alten überlegen, aber ich halte die moderne Technik für schlechter. Ich stimme also mit der Mehrheit der Musikwelt nicht überein in der Einschätzung, was guten Sound ausmacht. Mein Ansatz wird immer als „LoFi“ beschrieben, aber das trifft es nicht. Die wollen Supermarktgemüse, ich aber will Gemüse aus dem eigenen Garten. Mein Gemüse hat auch mal komische Formen, es sieht nie gleich aus, das aus dem Supermarkt sieht glatt und perfekt aus. Der moderne Musikhörer hat seine Äpfel eben am liebsten perfekt, glänzend und frei von Geschmack. Und das halten sie dann für höchste Qualität, aber da liegen sie falsch. Und ich habe recht.
Mit so einer Meinung steht man recht alleine da.
Es ist keine Meinung, sondern eine Tatsache. Und die Menschen wollen darüber nicht diskutieren, sonst müssten sie ja zugeben, dass sie falsch liegen. Das ist wie bei der Analogie zu Lebensmitteln, die ich eben verwendete. Wenn du wirklich darüber nachdenkst, was ich da gerade gesagt habe, wirst du feststellen, dass ich recht habe. Nicht weil ich will, dass es stimmt, sondern weil es ganz offensichtlich stimmt. Wir haben uns schon immer für analoge Aufnahmeverfahren interessiert, und heute will jeder, der sich wirklich für hochwertige Aufnahmen interessiert, mit analoger Technik arbeiten, nur dass sich kaum jemand damit auskennt. Das ist wie mit der digitalen Fotografie: die ist ja vor allem damit beschäftigt, wie klassische Fotografie zu wirken. Und so ist das höchste Ziel digitaler Aufnahmetechnik analoge Aufnahmeverfahren nachzuahmen. Heute ist es für viele Musiker das höchste der Gefühle, einen alten Vox-Verstärker zu besitzen – und wir wurden lange verspottet, weil wir nur mit solchen arbeiten wollten. Wobei ich nicht mit Vox arbeite, sondern mit Selmer.
In einer Welt, in der alles immer perfekter und glatter und algorithmisierter wird, bist du ja tatsächlich so was wie „the last punk standing“, der letzte aufrechte Punk.
Nein, damit bin nicht ich gemeint – ich bin vielleicht der letzte Hippie. Der Albumtitel ist keine Referenz auf mich, er lautet zwar „Last Punk Standing“, aber in dem Song wird die Frage gestellt: „Who will be the last punk standing?“ Als Albumtitel klingt das aber nicht so gut. In dem Song wird eigentlich nur eine alberne kleine Geschichte erzählt. Und die Frage ist ja auch eher unsinnig, sie ist nicht wörtlich zu verstehen. Wenn, dann sollte man sie so verstehen, dass es darum geht, wer noch für die gerechte Sache aufsteht. Wer ist übrig, der sagt, was wirklich Sache ist? Wer kann dir Informationen geben, worum es bei Rock’n’Roll-Musik überhaupt geht? Vor 25 Jahren erwartete im Gegensatz zu heute niemand, dass der Sound bei einem Konzert so ist wie auf CD. Da ging es noch um das Erlebnis, um das Miterleben, deine Präsenz – und nicht um den Blick durch eine Kamera. Die Menschen haben sich von der Musik entfernt. Es gibt zwar einen egalitären Effekt durch all das, jeder kann involviert sein, aber keiner interessiert sich mehr dafür, worum es eigentlich geht. Und ich stelle dann eben die Frage, wer noch übrig sein wird, um zu erklären, was wirklich echt und wahr ist. Hahahaha!
Könnte dein Sohn das sein?
Der ist jetzt 19. Vielleicht, aber es wird sich immer in irgendeiner Ecke, wo es noch Leben und Menschlichkeit gibt, wo die Strahler der Massenkultur nicht hin reichen, noch ein ungebrochener menschlicher Geist finden. Es wird immer Kids geben, die ein altes Buch lesen oder alte Platten hören. Und die sich dann die Frage stellen werden, warum diese alte Blues-Platte aufregender klingt als irgendeine neue Produktion. Warum klingt Mississippi Fred McDowell besser als Madonna oder Lady Gaga? Warum klingt Leadbelly wie die personifizierte Seele der Menschheit? Die Kids werden das herauszufinden, sie werden in Bibliotheken auf die Bücher alter Dichter stoßen, sie werden merken, dass sie nicht alleine sind und dass sie diese Fackel weitertragen können. Und das ist großartig.
Dein Sohn Huddie hat vor ein paar Monaten eine Single veröffentlicht mit seiner Band THE SHADRACKS, und du hast die auch produziert. Der Apfel scheint nicht weit vom Stamm gefallen zu sein. Seid ihr euch sehr ähnlich?
Ihm hat aktuelle Musik noch nie wirklich gefallen, aber ihm gefallen auch Sachen, die ich mir nicht anhöre. Er ist da etwas offener als ich, aber das trifft auf fast jeden zu. Als er früh in seinen Teenagerjahren begann, sich für Musik zu interessieren, fragte er meine Frau, was er sich denn mal anhören solle, und sie überspielte ihm die RAMONES und so was auf seinen iPod. Und er wollte von mir wissen, was ich so höre, wobei wir zu Hause nicht viel Musik hören. Also überlegte ich, was ihm gefallen könnte, und irgendwie interessierte er sich nie besonders für moderne Musik. Wir haben ihn nicht in eine bestimmte Richtung geschoben, sein Interesse entwickelte sich einfach so. Meine Tochter, die jetzt neun ist, war schon sehr früh von Sachen wie THE DOWNLINERS SECT angetan, aber heute ist sie eher von Computermusik begeistert. Aber sie spielt Schlagzeug und ist insgesamt musikalischer als ich, sie kommt da eher nach meiner Frau Julie, die ja Bass spielt. Sie hatte einst auch Klavierunterricht. Meine Tochter kann zudem gut singen, und im Vergleich sind Huddie und ich weniger musikbegabt als die beiden.
Wann kommt das Album von THE HAMPER FAMILY?
Hm, also ich und auch Huddie sind nicht wirklich gut in Sachen Blues, obwohl ich versuche, etwas Blues-Gitarre zu lernen. Und ich fragte Huddie, ob er nicht Lust hätte, in der Richtung was zu machen. Meine Tochter lernt Schlagzeug, und ja, möglich wäre so eine Familienband schon, man weiß ja nie. Aber Julie und ich haben keinen Ehrgeiz, dass aus unseren Kindern Musiker werden. Ganz ehrlich, es ist ja kein angenehmes Leben, das man als Musiker führt, haha. Wir ermutigen sie also nicht auch noch. Maler, das ist schon was anderes, hahaha. Und die Kleine interessiert sich sehr für Comics, mal sehen, wo das hinführt. Unsere Kinder sollen machen, was sie wollen, solange es legal ist und es sie glücklich macht.
Du bist Jahrgang 1959, am 1. Dezember steht ein runder Geburtstag an.
Ja, ich habe am gleichen Tag Geburtstag wie der deutsche Maler Karl Schmidt-Rottluff.
Bedeutet dir so ein runder Geburtstag etwas?
Ich bin nicht so der Party-Typ, aber meine Frau veranstaltete zu meinem Fünfzigsten eine Party, und es könnte gut sein, dass sie auch jetzt wieder was vorbereitet. Mir ist so was nicht so wichtig. Aber tja, das Alter, man merkt das eben hier und da. Bis ich 55 war, hatte ich perfekte Augen, jetzt brauche eine Brille. Ansonsten praktiziere ich seit dreißig Jahren Yoga, bin noch recht biegsam. Ich bin noch nicht zu gebrechlich, haha. Und ich war, wie schon gesagt, nie der Party-Typ, aber bis zu meinem 33. Lebensjahr habe ich viel Alkohol getrunken, war Alkoholiker. Aber so der soziale Typ, der sich zum Networking auf Partys rumtreibt, war ich nie. Das fand ich immer langweilig. Außerdem habe ich auch mit keiner der Bands je richtig heftig getourt, wir hatten nie einen Agenten. Und auch nie ein Label, das uns sagte, was wir zu tun haben. Wir haben nie einen Plattenvertrag unterschrieben. Ich hatte also ein recht faules Leben.
Dafür hattest und hast du einen immensen kreativen Output.
Weil ich schnell bin. Schneller als der Durchschnitt. Ich sehe das so: Bring es schnell hinter dich, dann kannst du dich ausruhen. Ich bin im Grunde also nur faul.
In der Pressemitteilung zum neuen Album wird angedeutet, dass es dir letztes Jahr nicht so gut ging.
Ja, ich hatte einen schweren Nervenzusammenbruch, vor anderthalb Jahren. Der Bruder meiner Frau hatte Selbstmord begangen und bald darauf der Bruder eines Freundes, und da brach ich zusammen. Ich bekam Medikamente, sollte die auch langfristig nehmen, entschloss mich aber, die bald schon wieder abzusetzen und mich mit pflanzlichen Substanzen zu behandeln. Es war eine schwere Zeit, ich fühlte mich jeder Bedeutung in meinem Leben beraubt, das war nicht gerade lustig ...
Wir denken immer, wir hätten unseren Körper und unseren Geist unter Kontrolle – und stellen in solchen Situationen fest, dass das nicht der Fall ist.
Genau! Ich habe ja dazu noch die Vorgeschichte, dass ich als Kind missbraucht wurde und insgesamt einen ziemlich miesen Familienhintergrund habe. Ich habe Psychotherapien gemacht in meinen Dreißigern, und irgendwann denkst du, du hast wieder alles unter Kontrolle. Doch dann kommt so ein Nervenzusammenbruch wie eine Dampflok aus einem Tunnel geschossen und es ist echt schockierend, dass einem das passiert, obwohl man doch so an sich gearbeitet hat. Offensichtlich nicht genug. Mein Therapeut hatte mich sogar immer gelobt, ich mache alles richtig, so wie sie es jedem empfehlen, mit meiner Kunst und so. Da fragt man sich dann, was man denn noch alles tun soll. Das ist eine ganz schöne Herausforderung, gerade wenn es einen dann wieder überkommt, wie letzte Woche ... Alles ergab plötzlich keinen Sinn mehr. Das Glas war leer. Das ist wirklich erschreckend.
Spiegelt sich das in deiner Kunst wider?
Also heute habe ich Totenschädel gemalt, hahaha. Ich male ja gerne die Natur, Bäume, was immer mir in den Sinn kommt. Aber Tod und Schädel, das hat mich immer schon interessiert. Ich habe auch schon Stilleben mit Schädeln gemalt. Ich denke aber nicht, dass meine Bilder einen direkten Bezug zu meinem jeweiligen Geisteszustand haben. Ich kann das düsterste Bild überhaupt malen und bin bestens gelaunt, oder ein strahlendes Bild, obwohl ich mich sehr melancholisch fühle. Klar, was immer ich male, ist psychologisch mit etwas in mir drin verbunden, aber es ist eben nicht ein direkter Ausdruck meiner aktuellen Gefühlslage. Wenn ich male, folge ich keinem Plan, und niemand kann in meinen Bildern lesen, wie ich mich fühle. Ich male, was immer dann gerade meine Fantasie ist. Ich halte nichts davon, aus all dem ein großes Theater zu machen.
Mir fällt in letzter Zeit verstärkt auf, dass Menschen in Bands bereit sind, über ihre Gefühlslage zu sprechen, ihre Probleme, Depressionen und so weiter. Ich frage mich, ob das Zufall ist, ob Menschen aus unserer Szene eher bereit sind, darüber zu sprechen, oder ob die Gesellschaft da offener geworden ist.
Ich denke, Künstlerpersönlichkeiten haben in der Hinsicht eine höhere Sensibilität. Und sie sind empfindsam genug, das anderen Menschen gegenüber zum Ausdruck bringen zu können. Und wahrscheinlich haben sie auch eher eine Neigung zu solchen Problemen. Ich meine, unsere Gesellschaft ist doch durchzogen von Psychosen und wir Menschen sind wie Tiere im Käfig – wie wir leben, wie wir uns verhalten. Wir sind wie Affen im Zoo, die das falsche Futter bekommen. Womit wir wieder bei der Ernährungsanalogie sind und wieder zurück bei der Musik. Wir leben alle sehr unnatürlich und so überrascht der Zustand der Gesellschaft auch nicht. Die Geschichte des letzten Jahrhunderts mit zwei Weltkriegen zeigt das, und auch, was sich die Menschen sonst so alles antun. Und damit sind wir wieder ganz am Anfang, bei der Landwirtschaft – die Menschen hätten nie aufhören sollen, Jäger und Sammler zu sein, hahaha. Mit der Landwirtschaft fingen alle Probleme an. Jäger und Sammler, das waren kleine Gruppen von Menschen, da waren nie genug auf einem Haufen, dass eine Armee daraus wurde, dass man einen Krieg anfangen konnte. Dafür gab es keine Ressourcen. Wenn du keine Lebensmittel lagern kannst, hast du auch keine Stadt, und ohne Stadt kannst du nicht in den Krieg ziehen.
Im Urlaub in Sardinien habe ich mich damit beschäftigt, mit der Nuraghen-Kultur in der Bronzezeit. Wann warst du zuletzt im Urlaub?
Ich gebe eigentlich nichts auf Urlaub, aber manchmal überredet man mich dazu. Wir fahren schon mal zum Camping aufs Land mit den Kids in England. Wir bauen uns einen Lagerplatz im Wald, machen ein Lagerfeuer – so wie ich das als Kind auf dem Land immer gemacht habe.
Klingt nach der perfekten Familie in Greta Thunberg-Zeiten: Reisen nur mit dem Zug, Campingurlaub im eigenen Land ...
Das wäre schön, aber nächste Woche fliege ich nach Kalifornien. Frau und Tochter sind schon da, meine Frau stammt aus Kalifornien. Schon ewig wurden wir gebeten, mal wieder in Kalifornien zu spielen, jetzt spielen wir in Oakland. Mein Sohn und ich fliegen nach Oakland und ruinieren unsere CO2-Bilanz, haha. Den Zug und den Wald würde ich bevorzugen, aber was soll ich machen? Ich selbst war aber über zehn Jahre nicht mehr in den USA, doch was soll Julie machen? Die will ja ihre Familie regelmäßig sehen.
Wie sieht es mit Konzerten in Deutschland aus?
Berlin hatten wir ja erst, aber Paris im November ist eine Chance. Vielleicht wird es ja nächstes Jahr wieder was mit Köln, mal sehen. Außerdem: wenn wir zu oft spielen, langweilt das die Leute vielleicht.
Billy, besten Dank, alles Gute und gute Besserung.
Danke, aber ... wir haben noch nicht über die Brexit-Crazyness gesprochen.
Ich war mir nicht sicher, ob du darüber reden willst.
Oh, ich habe mich sehr dagegen engagiert. Wir sind eine Patchwork-Familie. Ich bin Engländer, mein Sohn ist Belgier, weil seine Mutter Belgierin ist, meine Frau ist Amerikanerin, meine Tochter auch. Ich habe nichts gegen die Engländer, aber ich habe mich in der deutschen und europäischen Kultur immer wohler gefühlt. Ich meine, ich will auch nicht Europäer sein, ich will überall zu Hause sein, aber im Zweifelsfall bin ich lieber Europäer als Engländer. Oder, weil ich ein Hippie bin – ich bin Teil des Universums.
Ich war wie gesagt gerade im Urlaub, und allein die Erfahrung, wie schön es ist, Grenzen einfach überqueren zu können, hat mich wieder für Europa begeistert.
Das ist genau mein Punkt! Man kann so viel an Europa kritisieren, die ganze Bürokratie der EU. Unsere Regierung hier wollte Rache für die nicht umgesetzte Austeritätspolitik und deshalb gab es diese Volksabstimmung, die man sowieso nicht hätte machen sollen. Dabei geht es mir bei Europa vor allem um eines: um offene Grenzen – und das wollten die anderen alle nicht! Ich meine, wer stimmt freiwillig für weniger Freiheit? Wie dumm kann man sein? Damit sind wir wieder bei den Zootieren in ihrem Käfig. Und bei den Jägern und Sammlern, zu deren Zeit es ja nicht mal den Ärmelkanal gegeben hätte – damals war da ja eine Landbrücke zwischen England und Europa.
Da war noch nichts mit „splendid isolation“.
Nein, haha, die wird erst in Zeiten der mechanisierten Kriegsführung zum Vorteil. Womit wir bei Winston Churchill sind – und dem Idioten Boris Johnson, dessen Held der ist. Nur dass Churchill sagte, es brauche eine europäische Union. Churchill war nach dem Krieg total für Europa. Er wusste, dass das britische Empire Geschichte war, dass seine Stärke in einem geeinten Europa liegt. Und dieser Idiot Johnson sucht sich Churchill als Held und gibt den Brexit-Boy ... Und erst dieser Farage ... wir haben echt ein paar richtig amtliche Arschlöcher in diesem Land!
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