Bereits seit ihrem 1998er-Debüt ist die Band von Conrad Keely nicht irgendeine Rockband, sondern die Vorzeige-Artrock-Band der letzten und dieser Dekade, auf die sich bisher sowohl Musikfans als auch Kritiker immer einigen konnten. Auf der Suche nach der anthropologischen Einheit, eine Art „roter Faden“ in der Geschichte der Menschheitskulturen, haben sie sich mit ihrem mittlerweile sechsten Album auf Forschungsreise in ihrer eigenen Geschichte begeben. „The Century Of Self“ ist ein Album geworden, das seinesgleichen sucht und wieder die unverwechselbare Handschrift Keelys trägt, jedoch klingt das Ganze dieses Mal etwas wütender. Grund genug Sänger, Gitarrist, Schlagzeuger und Maya-Experte Keely Fragen über seine Musik und den nicht ganz unwichtigen Labelwechsel zu stellen.
Beginnen wir mal mit dem aktuellen Line-Up der Band: Mittlerweile seid ihr zu sechst – so viele Mitglieder hattet ihr noch nie, oder?
Eigentlich hat sich gar nicht viel geändert: Da sind die drei Gründungsmitglieder, ich, Jason und Conrad, dann noch unsere drei Tourmusiker. Dazu gehört unser zweiter Drummer Aaron, den ich auch nicht mehr missen möchte. Obwohl wir die drei nicht zum festen Kern zählen, haben sie einen enormen Einfluss auf die Musik. Vor allem Jay, dem Bassisten, habe ich gesagt, dass er sich total an seinem Instrument austoben sollte. Er spielt also richtige eigene Melodien, genau wie ich es wollte.
„The Century Of Self“ passt sehr gut in die Reihe eurer bisherigen Veröffentlichungen. Jedoch finde ich, dass das Album mehr in Richtung „Source Tags And Codes“ tendiert als etwa zu „Worlds Apart“. Das Ganze klingt wieder ein bisschen „lauter“.
Lauter? Hängt das nicht immer davon ab, wie weit man seine Anlage aufdreht? Solltest du „noisiger“ meinen, gebe ich dir Recht. Obwohl wir es nie darauf angelegt haben. Wenn du sagst, dass das Album gut zu unseren anderen passt, haben wir genau das erreicht, was wir uns vorgenommen haben. Es hat etwas damit zu tun, dass ich mich während des Schreibprozesses zu der neuen Platte hingesetzt habe und unseren ganzen alten Platten durchgegangen bin. Ich habe dann versucht, unsere Entwicklung nachzuvollziehen, und erinnerte mich an die Dinge, die ich eigentlich mit der Band verwirklichen wollte und die ich noch nicht vollendet habe. Es war quasi der Startpunkt der Aufnahmen, all die ungenutzten Ideen zu sammeln und damit den Grundstein für die neue Platte zu legen.
Wie kommt es dann, dass du die Texte dieses Mal sehr persönlich und autobiografisch gehalten hast?
Seltsamerweise ist einer der persönlichsten Songs auf dem Album, „Pictures of an only child“, auch der erste Song, den ich vor fast 15 Jahren schrieb, bevor es ... TRAIL OF DEAD gab, und der bis jetzt noch nie auf ein Album von uns gepasst hat. Bis zu „The Century Of Self“ schien mir dieser Song zwar immer zu persönlich für eine ... TRAIL OF DEAD-Platte, jedoch wollte ich ihn unbedingt mal aufnehmen. Im Kontext mit den anderen Sachen, über die ich dieses Mal schrieb, nämlich Dinge aus meiner frühesten Kindheit, die Angst vorm Älterwerden und so Zeugs, über das man nachdenkt, wenn man mitten in den Dreißigern ist, passte er aber dann doch schlussendlich. Ähnlich wie „Naked sun“ auf unserem letzten Album wartete dieser Song in einer Art Kokon darauf, endlich veröffentlicht zu werden.
„The Century Of Self“ klingt dennoch sehr homogen.
Das letzte Album schien für uns wie ein Patchwork. Es gab keine richtungsweisende Idee. Dieses Mal haben wir uns vorgenommen, dem Ganzen einen geschlossenen Sound zu geben.
Aber ein richtiges Konzeptalbum ist es dann doch nicht geworden, oder?
Auf eine gewisse Weise schon. Zwar haben wir es noch nicht erforscht, wie wir dem Album eine erzählerische Einheit geben können, aber musikalisch und vom Artwork her, folgt es schon einem Konzept. aber wir werden definitiv ein Konzeptalbum machen, bis jetzt gab es nur noch keine Geschichte, die wir unbedingt so verpacken wollten.
Dabei erwecken das von dir gemalte Cover mit den Büchern im Regal und den Verweisen auf Songtitel und ältere Albumtitel auf den Buchrücken sowie das instrumentale Intro doch sehr stark den Eindruck eines inhaltlichen Konzeptes. Ihr definiert euch selber als Art-Rocker. Kann man das so sagen und gehört dann ein spezielles Artwork genauso dazu wie ein Intro?
Auf jeden Fall. Wir als Komponisten sagen zwar, dass Rockmusik an sich schon eine Kunstform ist, die genauso wie eine Oper oder ein Bild etwas transportiert. In einer Zeit, in der jedoch die Kommerzialisierung aller möglichen Dinge fortschreitet, geht die eigentliche Kunst einfach hinter den Klischees verloren. Ich bin froh, dass es Künstler gibt, die sich ihrer Aufgabe, Grenzen zu überwinden, bewusst sind, und dazu zähle ich auch uns. Für mich sind Bands wie NICKELBACK deshalb auch eher eine negative Inspiration, über die ich sagen kann: Ich werde alles versuchen, um nie so zu klingen. Um das auf das neue Album zu beziehen: Ich habe dieses Mal versucht, mich nur positiv inspirieren zu lassen, und das macht dann auch den Unterschied aus.
Wer oder was übte denn eine inspirierende Wirkung auf dich aus?
Ich bin vor ein paar Jahren nach Brooklyn gezogen und hier gibt es eine sehr inspirierende Musikszene. Ich brauchte nur ein paar der lokalen Konzerte zu besuchen, um meinen Horizont zu erweitern. Es waren dann zum Bespiel Bands wie YEAHSAYER – die auch bei den beiden „Insatiable“-Songs auf dem Album singen – und die DIRTY PROJECTORS, die ich in der letzten Zeit für mich entdeckt habe. Beide haben eine sehr eigene Art zu singen ... Dann gibt es da noch die SCHOOL OF SEVEN BELLS, die mich zum Beispiel zu dem Song „Bells of creation“ inspiriert haben. Oder die FLEET FOXES aus Seattle, die wie die anderen Genannten viel mit Harmonien und wundervollen Gesangsmelodien machen, und mittlerweile einen großen Einfluss auf mich haben.
Wo du gerade schon von den „Insatiable“-Songs sprichst, erkläre mich doch bitte, was dahintersteckt, dass es auf dem Album mit „Insatiable one“ und „Insatiable two“ zwei Songs gibt, die eigentlich ein Song sein müssten.
Der „Song“ war eigentlich als Filmmusik gedacht. Eine Freundin von mir wollte einen Film über Vampire machen und der damalige Titel war „The Insatiable“. Ich schrieb also einen sehr gruseligen Song, in der Hoffnung, dass auch der Film in die Richtung tendierte. Skurrilerweise entpuppte sich der Streifen dann als Trashfilm und ich vermute mittlerweile, dass er nie veröffentlicht wird. Nun stand ich da mit meiner Idee eines lupenreinen Vampirsongs und behielt ihn dann doch lieber für mich. Die Lyrics schrieb ich, als der Irak-Krieg in vollem Gange war. Dank der damaligen Bush-Regierung entwickelte ich eine sehr zynische Sicht auf die Menschheit und verarbeite das dann auch in diesem Song. Der Schlussteil mit dem Chorus „I am a monster/I exist“ spricht aus der Sicht von etwas, das kein Mensch ist, uns aber beobachtet. Ihn nannte ich „Gigantus“ – eine Art Yeti – und er schaut sich nun das Treiben der Menschheit an und bildet sich ein Urteil darüber.
Um noch einmal auf das Albumcover zurückzukommen: Es zeigt einen Jungen, der offenbar entsetzt einen Totenschädel anschaut. Das Ganze passiert in einer Art Bibliothek. Was wolltest du damit ausdrücken?
Das Konzept dahinter beschreibt den Moment in unserem Leben, in unserer Kindheit, in dem wir realisieren, was der Tod eigentlich bedeutet. Der Junge realisiert beim Betrachten des Schädels seine eigene Sterblichkeit und was mit Menschen passiert, nachdem sie gestorben sind: sie zerfallen. Dieser Moment der Bewusstwerdung findet bei jedem von uns in unterschiedlichen Lebensabschnitten statt. Bei mir geschah es mit sieben oder acht – meiner Meinung nach recht spät. Andere Menschen, die mit Krieg oder Hungersnöten aufwachsen, erleben es hingegen viel früher. Ich fand dieses Konzept sehr interessant. Schließlich ist es doch so: Wenn du einmal realisiert hast, dass du sterben wirst, wird dein Leben nicht das Gleiche sein. Ein sehr wichtiger Moment in unserem Leben, der all unsere Entscheidungen irgendwie beeinflusst.
Das Jahr 2012 hat in diesem Sinne auch eine recht große Bedeutung: Am 21.12.2012 endet die gegenwärtige Periode im Kalender der Maya und scheinbar machen sich ein paar Leute Gedanken über eine Art Apokalypse. Euer Name leitet sich aus einer Redewendung der Maya ab. Klär mich doch bitte darüber auf, was es mit der ganzen Endzeitstimmung auf sich hat und was du davon hältst.
Die Maya gehen von einem zyklischen Kalender aus und auch davon, dass das Leben ständig rotiert. Dieser Kalender hat, soviel ich weiß, etwas mit der Beziehung zwischen der Sonne und der Erde zu tun und eine lange Periode endet 2012. Egal, ob es nun bedeutet, dass die Welt enden wird oder dass nur eine große Umstellung stattfindet: Die Welt, so wie wir sie kennen, wird es ohnehin nicht mehr lange geben. Wobei das weniger mit dem Maya-Kalender zu tun hat, sondern viel mehr mit uns selber. Schau dich nur einmal um, viel länger können wir unsere Art zu leben nicht mehr weiterführen und irgendetwas wird passieren. Ich bin jedoch optimistisch. Selbst wenn zwei Drittel der Menschheit komplett verschwinden würde, wäre dass nicht unbedingt eine schlechte Sache – erst recht nicht für unseren Planeten.
Äußert sich diese Stimmung denn auch in deinen Bildern? Wie intensiv betreibst du diese Kunst?
Für mich gibt es unheimlich viele Inspirationsquellen. Eigentlich kann ich sagen, dass ich das male, was mir Spaß macht. Ich entwerfe neben meinen eigenen Malerei noch Cover für befreundete Bands wie zum Beispiel THE SWORD. Dazu kommt, dass ich Tourplakate designe und nebenbei mittlerweile schon die eine oder andere Ausstellung geben kann. Mir macht das sehr viel Spaß und ich werde in Zukunft auch noch mehr Zeit damit verbringen. Ich habe schon als Jugendlicher Cover entworfen, lange bevor es ... TRAIL OF DEAD gab.
Wie stehst du eigentlich als Künstler, der sich sowohl komplett um die Musik seiner Band kümmert als auch das Artwork entwirft, zu dem Thema Downloads und der „Zerstückelung“ von Alben?
Solange Leute einzelne Songs haben wollen und dafür dann auch bezahlen, ist das eine gute Sache für uns. Meiner Ansicht nach soll jeder machen, was er will. Wenn ihm oder ihr nun mal nur ein Song auf einem unserer Alben gefällt und dieser dann gekauft wird, ist das gut. Schließlich ist das Wichtigste für uns, dass man sich mit unserer Musik beschäftigt. Ich hoffe, es gibt genug Leute, die immer noch zu schätzen wissen, wie viel Arbeit in einem Album steckt. Das Internet gibt uns die Freiheit, viele Sachen sehr schnell kennen zu lernen. Sollte jemand in einem ärmeren Land unsere Alben illegal herunterladen, ist das immer noch okay für mich. Hauptsache, sie haben unsere Musik gehört. Mir bedeutet das mehr als das große Geldverdienen. Natürlich weiß ich auch, dass die Leute, die unser Album kaufen, etwas sehr Gutes in den Händen halten, das auch seinen Preis hatte. Im Gegensatz zu anderen Bands, die von der Angst, keine Alben mehr zu verkaufen, regelrecht blockiert sind und musikalisch lieber stagnieren, ist uns in erster Linie die Entwicklung unserer Musik wichtig.
Mit Richter Scale Records habt ihr nun euer eigenes Label. Wie kam es überhaupt dazu, dass ihr Interscope nach langer Zeit verlassen habt?
Eigentlich wollten wir den Schritt weg von der Plattenfirma schon beim letzten Album vollziehen. Damals fühlten wir uns aber noch nicht fähig, auch noch den ganzen Businesskram selbst zu erledigen. Mit der Zeit reifte aber unsere Idee, komplett für die Band verantwortlich zu sein, vom Tourkalender über das Artwork bis hin zur Werbung. Nun bin ich froh, meine eigene Musik auf meinem eigenen Label zu veröffentlichen und niemandem mehr erklären zu müssen, was ich mit dem Design für ein Album ausdrücken wollte, bevor er sein Okay gibt. Ursprünglich hatte ich aber ein sehr romantisches Bild von Major-Plattenfirmen. Es war zumindest bei mir früher so, dass die ganzen Bands, mit denen ich als Kind aufgewachsen bin, bei den großen Firmen waren. Ich bin nicht automatisch mit Punk großgeworden, ich habe ihn für mich entdeckt, als ich zur Highschool ging. Davor bekam ich viel von diesem bombastischen 70er Jahre-Art- oder Progrock mit und der wurde nun mal von Majors vertrieben. Während unserer Zeit bei Interscope dachte ich naiverweise, dass ich das Majorlabel verändern könnte und die Kunst wieder an die erste Stelle vor den Verkaufszahlen platzieren konnte. Nun ja, dieser Traum scheiterte dann an dem extremen Kontrollwahn, der Manipulation und Geldgier der Verantwortlichen. Es war zum Beispiel sehr frustrierend, mit einem minderbemittelten A&R der Plattenfirma, der absolut keine Ahnung – geschweige denn eine Meinung – von Musik hatte, über die Wahl eines Produzenten zu diskutieren oder ihm das Design zu erklären. Ich fühlte mich letzen Endes wie ein Idiot und wollte nichts mehr mit solchen Leuten zu tun haben. So kam es dann zur Gründung von Richter Scale Records.
Ganz ohne fremde Hilfe kommt ihr dann aber doch nicht aus. Mit Inside Out/Superball habt ihr euch zumindest für Europa einen Partner ins Boot geholt, der eigentlich eher „klassische“ Rockbands vertritt.
Das Wichtigste war für uns, dass wir nicht mit Leuten zusammenarbeiten wollten, die uns sagen, wie unser Album klingen sollte oder wie das Artwork auszusehen hat. Mit den anderen Bands auf Superball Music habe ich mich noch nicht beschäftigt. Mir reicht die Musikszene hier in Brooklyn, um meinen Horizont ständig zu erweitern. Ich interessiere mich nicht dafür, was in Europa für Musik gemacht wird. Ich interessiere mich ja nicht mal mehr dafür, was gerade in Texas in Sachen Musik passiert.
Eine Frage habe ich aber noch: Die Entwicklung, die ihr mit eurer Musik durchgemacht habt – weg vom Noiserock, hin zu eher progressiveren Sachen – scheint nicht untypisch zu sein. Bei AT THE DRIVE-IN bzw. MARS VOLTA war es ähnlich, ebenso bei PORTUGAL. THE MAN. Ist das eine bewusste Abkehr von etwas?
Meiner Meinung nach hat das viel mit dem eigenen Reifeprozess und dem Älterwerden zu tun. Als wir noch jünger waren haben, liebten wir Noiserock, und wenn du zum Beispiel einen 16-Jährigen fragen würdest, welche Songs er von uns besser findet, kann ich es vollkommen nachvollziehen, wenn er sagt, dass es Songs von unseren ersten zwei Alben sind, weil sie einfach aggressiver sind. Mit der Zeit wollte ich meine Gefühle aber immer weniger mit dieser Art von Musik ausdrücken. Ich fühlte mich weniger frustriert und wütend, und so suchte ich zumindest nach etwas, um meine Emotionen besser zu verpacken. Wenn ich nun wieder eher noisigere Songs schreibe, sagt das auch viel über mich aus. Andererseits wäre es auch idiotisch, immer noch die Musik zu machen, die uns damals als Teenager inspiriert hat. Damals verkörperten diese Songs unsere Gefühle und genauso wird es auch mit Songs sein, die wir in zehn Jahren schreiben werden. Egal, wo wir dann sind und welche Musik wir machen – alles folgt einer natürlichen Entwicklung.
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