Wenn das englische Duo ANAAL NATHRAKH ein neues Album vorstellt, kann man sich sicher sein: Das wird keine leichte Kost. So wie die Interviews mit Sänger Dave auch nicht unbedingt das sind, was man als leichte Konversation betrachten kann. Nicht umsonst stellt Dave sich vor mit den Worten: „I’m Dave. I came to wreck everything and ruin your life. God sent me.“
Das Thema Krieg ist im Metal ja verbreitet, häufig ergehen sich Bands in stumpfen Gewaltfantasien. Ihr jedoch habt auf dem neuen Album Songs, die von Gedichten inspiriert sind, die von Soldaten im ersten Weltkrieg geschrieben wurden.
Der Soldat und Poet, der für mich am stärksten heraussticht, ist Wilfred Owen, er schrieb das Gedicht „Dulce et Decorum Est“. Es war die Inspiration für unseren Song „Obscene as cancer“. Er war so was wie ein Student von Siegfried Sassoon, der wiederum das Gedicht geschrieben hat, welches den letzten Song, „Are we fit for glory yet?“, auf unserem neuen Album inspiriert hat. Owens Gedicht ist ein starker Ausdruck dessen, was beinahe unmöglich zu kommunizieren ist, so wie ich das sehe. Oder wie beschreibt man es, mitten in einem Giftgasangriff zu sein? Es ist undenkbar, aber Owen schafft es, uns wenigstens ein Gefühl dafür zu geben, und das brauchen wir, denn wir leben in einer Welt, in der dies möglich ist. Manchmal sogar in „unserem Auftrag“. Das herzzerreißendste Detail an Owen ist wohl, dass er eine Woche vor Kriegsende verstarb. Es gibt wohl kaum etwas Tragischeres. Andere Dinge haben uns auch inspiriert, zum Beispiel die Gemälde von Otto Dix, auch Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“. Ich denke, es ist wichtig, diese Quellen zu nennen, denn uns interessiert die menschliche Perspektive, nicht die nationale. Auf Owens Werk wurde ich in der Schule schon aufmerksam und habe es bis heute nicht vergessen. Das Gleiche gilt für das Sassoon-Gedicht.
Es gibt eine Studie, die besagt, dass wir in den friedlichsten Zeiten seit 1947 leben. Die Anzahl der Menschen, die im Krieg gestorben sind, ist zwischen 1947 und 2007 stetig gesunken, auch sind in den Siebzigern und Achtzigern mehr Menschen in Europa durch Terroranschläge gestorben als heute. Warum haben wir dennoch mehr Angst vor Krieg und Terror als früher?
Wir haben Angst vor Terror, weil uns gesagt wird, wir müssten uns vor Terror fürchten. Und es wird uns gesagt, weil jemand daraus Nutzen ziehen kann. Frag dich immer: Cui bono? Meine Eltern starben beinahe bei einem Terroranschlag in den Siebzigern, dennoch lebten sie ihr Leben nicht in Angst. Das heißt natürlich nicht, dass diese Anschläge nicht verheerend gewesen sind. Schlimme Dinge passieren jeden Tag auf der ganzen Welt. Aber es ist eindeutig, dass große Teile der Gesellschaft auf Grund einer wahnsinnigen Presse viel stärker verängstigt sind als früher. Es war damals zum Beispiel politisch erwünscht, die Gefahr des IRA in England herunterzuspielen. Also wurde über bestimmte Dinge auf eine bestimmte Art berichtet. Nicht vertuscht, aber auch keine Angst geschürt. Heute? Nun, das kannst du selbst entscheiden. Und die Studie, die du erwähnst: Ich bin mir nicht sicher, ob sie relevant oder gar richtig ist. Ich bin mir sicher, es gab kein Jahr ohne Krieg, vielleicht sind die Zeiten friedlicher, aber wir sind immer noch weit von Frieden entfernt. Meinem Empfinden nach gab es in den letzten Jahren mehr Konflikte, nicht weniger.
Auf der Doomsday Clock, die angibt, wie nahe wir uns der nuklearen Zerstörung befinden, ist es zwei Minuten vor Mitternacht, das scheinen viele Menschen nicht zu realisieren. Nur 1953 waren wir schon mal so nah dran. Ist das eine reale Bedrohung in deinen Augen?
Diese Bedrohung fühlt sich für mich surreal an. Es ist eine Bedrohung von unvorstellbaren Konsequenzen, was niemand von uns je erlebt hat. Es gibt also keine Referenz. Aber du stellst eine gute Frage: Die Menschen haben mehr Angst, bei einem unwahrscheinlichen Terroranschlag zu sterben, als dass wir in Gefahr sind, dass die Welt zerstört wird. Wir sind so nah an dieser Gefahr wie zu dem Zeitpunkt, als die Menschheit wirklich dachte, die Welt würde untergehen. Ich mag ja die Idee, unsterblich zu sein, denn ich würde gerne wissen, wie es weitergeht – vorausgesetzt, die Welt geht nicht unter. Vielleicht sollten wir alle „Threads“ schauen, den BBC-Film aus den Achtzigern und gut aufpassen ...
Euer Album heißt „A New Kind Of Horror“. Aber ist das wirklich so? Erleben wir nicht nur wieder alten Horror in neuer Gestalt?
Momentan würde ich beides sagen. Alte Schrecken verschwinden nur selten gänzlich. Krieg ist eine Konstante, so wie Feindseligkeit, Manipulation und so weiter. Aber ist schon wahr, dass viele der alten Themen in neuer Gestalt wieder auftauchen. Und es gibt neue Arten des Horrors, nicht nur neue Formen wie Raketen, die überall auf dem Planeten einschlagen könnten, oder Manipulation von Big Data wie kürzlich bei Cambridge Analytica und anderen Firmen. Oder der Kampf zwischen dem verfallenden Neoliberalismus und der populistischen Rechten. Das könnte uns zu neuen Horrorszenarien bringen, die vielleicht historisch anmuten, aber einen ganz neuen Weg einschlagen. Ein Teil der Motivation hinter dem Albumtitel ist es, ähnliche Gedanken wie diese zu provozieren. Aber hör nicht auf mich, was ich denke, ist unwichtig. Ich kann darüber sprechen, was ich denke, und vielleicht ist das interessant. Aber wir versuchen nicht, allen zu sagen, was sie denken sollen. Hoffentlich sind da draußen wenigstens ein paar Leute, die für sich selbst denken.
Okay, sagen wir, es ist alles vorbei, es schlägt Mitternacht auf der Doomsday Clock und die Raketen sind in der Luft. Du hast noch 15 Minuten. Was wäre dein Soundtrack?
Chopin. Ich weiß, es klingt hochgestochen für einen Metal-Musiker, aber Chopins Musik, vor allem die Nocturnes, ist etwas sehr Persönliches für mich. Es ist sehr wichtig für mich seit meiner Kindheit und etwas in meinem Kopf stellt immer eine Verbindung zu meiner Mutter her. Ich könnte auch was Krasses oder Subversives nennen. Oder „Crawl out through the fallout“ oder etwas ähnlich angeblich Lustiges. Aber nein. Für mich wäre es Chopin.
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