ANTI-FLAG

Foto© by Josh Massie

Die Band, die Menschen eine Stimme gibt

Anfang Januar erscheint „Lies They Tell Our Children“, das neue Album von ANTI-FLAG aus Pittsburgh, PA. Ungewöhnlich diesmal: Die meisten Songs wurden dann schon vorab veröffentlicht, mit Video. Eine Folge der Erfahrungen, die Band während der Corona-Pandemie machte, die es unter anderem weitgehend verunmöglichte, das kurz vor dem ersten Lockdown veröffentlichte „20/20 Vision“-Album live vorzustellen. Wie schon bei vorherigen Interviews auch gelang es Justin, Chris #2 und mir nicht, uns kurz zu fassen. Zu intensiv und spannend war der Austausch, zu zahlreich die Themen. Hier nun die Essenz aus 100 Minuten Zoom-Konferenz.

Hier ist es kalt, weil keiner heizen will, weil das Gas so teuer ist. Bei euch auch?

Chris #2: Die Situation ist ähnlich, aber anstatt sich um die Gasknappheit zu sorgen, verschulden sich die Menschen immer mehr. Sie setzen ihre Energierechnung auf ihre Kreditkarte und beschließen, das später zu regeln. Die Menschen in den Staaten wissen einfach nicht, wie sie ihren Lebensstil an die neuen Umstände anpassen sollen. Wir werden hier einige große Probleme bekommen. Wir haben gehört, dass die Leute in Europa besorgt sind über die Toursituation, und irgendwie fühlt sich das für uns gerade ähnlich an wie 2008, als es wegen der Banken- und Finanzkrise wirtschaftlich so richtig abwärts ging. Ich weiß nicht, was wir dagegen tun können. Aber wir wissen, warum das immer wieder passiert, und wir als Mitglieder der globalen Gesellschaft lassen es zu – den Krieg und all diese Dinge.

Immerhin ... werden euch so nie die Themen für eure Alben ausgehen.
Chris #2: Das ist leider wahr. Das Ding ist: Hier werden immer wieder normale Menschen zu Opfern gemacht. Früher gab es ein gewisses Maß an politischem Verantwortungsbewusstsein, jetzt ist alles extrem polarisiert zwischen Demokraten und Republikanern. Und das hängt mit der Präsidentschaft von Donald Trump zusammen. Trump-Wähler wählen nicht die Republikaner, weil sie gemeinsam für etwas sind. Nein, sie wählen den, der das Gleiche hasst wie sie.
Justin: Das Schlimme ist, wann immer man Trump wieder irgendein Vergehen beweisen kann, dass er sogar daraus noch Profit schlägt. Dann schickt er seine Spendensammler los, er sendet E-Mails an die Menschen auf seiner Liste und sammelt, was weiß ich, vier Millionen Dollar ein! Nach dem Motto: „Sie sollten mir jetzt Geld geben, damit ich mich verteidigen kann.“ Und immer mehr Politiker in Amerika und vielleicht auch in Europa werden künftig diesem Modell folgen.
Chris #2: Früher haben solche Skandale Politiker zu Fall gebracht, jetzt macht es einen zum Helden. Und die Chancen, wiedergewählt zu werden, steigen sogar noch!

In Deutschland hat ein AfD-Politiker vor einem versehentlich noch offenen Mikrofon gesagt, er hoffe, dass die Gaskrise noch schlimmer wird, denn das würde ihnen neue Wähler bringen.
Chris #2: Und das kann eine Person nur sagen, weil sie wohlhabend ist und sich nicht um die steigenden Preise schert. Wer so redet, instrumentalisiert den Schmerz der Menschen, setzt auf Ausgrenzung, um Wählerstimmen zu gewinnen. Es ist einfach unhaltbar. Aber ich weiß auch nicht, was wir tun sollten, um dagegen anzugehen. Mir fällt nur das ein, was wir früher gemacht haben: Menschen mobilisieren, denen all das nicht egal ist. Uns Verbündete suchen, wie früher in der Schule, als alle, die irgendwie anders waren und seltsam aussahen, zusammengehalten haben. Und wir brauchen den direkten Austausch mit anderen.

In Deutschland haben wir ein anderes politisches System, nicht das Mehrheitswahlrecht der USA. Hier können sich auch Menschen aus im weitesten Sinne „unserem“ Kontext in Parteien und als Abgeordnete politisch einbringen. Was ist mit euch? Ihr redet viele von Verantwortung, seid ihr nie in Versuchung geraten, etwas zu erreichen, indem ihr für ein politisches Amt kandidiert? So wie beispielsweise Joey Shithead von D.O.A. in seiner Heimatstadt?
Justin: Wir haben nicht genug Geld für so was. Wenn du in Amerika kandidieren willst, musst du erst mal bei dir vor Ort ein Büro eröffnen, und da bist du schon bei bei hunderttausenden Dollar. Geld hat das politische System hier völlig korrumpiert. Bei Bernie Sanders’ Kandidatur lag die durchschnittliche Höhe pro Spende bei, glaube ich, 20.000 Dollar ... Es geht hier in der Politik und bei der Kandidatur immer nur um Geld, es ist so verdammt schmutzig. Ich habe kein Interesse, da mitzumachen. Ich denke, wir sind besser in unserer Rolle als Band, die Menschen eine Stimme gibt, die sonst keiner hört. So können wir für Dinge eintreten, die uns wichtig sind. Und du solltest nicht unseren Bandnamen vergessen ...
Chris #2: Der Nationalismus in den USA ist völlig verrückt. Ich garantiere, wenn einer mit einem Namen wie Joey Shithead in Pittsburgh für ein Amt kandidieren würde, hätte er eine größere Chance, gewählt zu werden, als jemand, der Mitglied einer Band namens ANTI-FLAG ist. Es ist weit weniger polarisierend, sich mit einem Namen wie Joey Shithead hinzustellen, als wenn einer von uns sagen würde, dass wir Nationalismus für falsch halten. Wir sind so außerhalb von allem mit unserem Namen und unserer Position, dass wir selbst auf der untersten lokalen Ebene keine Chance haben. In meiner Nachbarschaft hat eine Frau für die Bezirksvertretung kandidiert, für ein wirklich kleines Amt, und sie kam zu uns und sagte: Könnt ihr mir helfen und vielleicht bei einer meiner Veranstaltungen spielen? Und wir sagten ihr: Besprich das besser mal mit deinem Team. Denn wir wissen, für die Republikaner sind wir so etwas wie sozialistische Kommunisten, und die verfallen schon bei der bloßen Erwähnung unseres Namens in plumpe „Red scare“-Rhetorik. Die würden sogar einer Frau, die einfach nur für den örtlichen Schulausschuss kandidiert, die Hölle heiß machen.
Justin: Wir haben ja mal den Versuch gemacht, mit einer landesweiten Gewerkschaft zusammenzuarbeiten, und das hat denen wirklich geschadet. Da wurde über uns gesagt: Die hassen Amerika, die sind gegen amerikanische Arbeiter – und mit denen arbeitet ihr zusammen? Seitdem sind wir da offen und sagen allen aus der Politik, die uns um Unterstützung bitten, dass wir ihnen eher schaden als helfen.
Chris #2: ANTI-FLAG gibt es bald seit dreißig Jahren, und wenn man so lange dabei ist, hat man viel erlebt und gesehen, etwa wie sich das Internet entwickelt hat. Daher wissen wir auch, dass das Internet nicht „das Leben“ ist – was die meisten Leute heute nicht verstehen. Wenn sie also einen Kommentar auf ihrer Instagram-Seite bekommen, und da steht was von „antiamerikanisch“ in Bezug auf uns, dann verstehen die nicht, dass das vielleicht nur eine Person war, die wahrscheinlich tausend Meilen weit weg wohnt und gar keinen direkten Bezug zu uns hat. Aber so ein Kommentar macht die Menschen hier vor Ort verrückt, aus der Politik, aus der Gewerkschaft, aus der gemeinnützigen Organisation. Neulich haben wir eine 7“ mit Verweis auf eine Eishockey-Mannschaft gemacht, das ging darauf zurück, dass ich mal ein entsprechendes T-Shirt getragen habe. Kaum hatten wir das gepostet, gingen bei denen die Kommentare los: „Wieso macht ihr was mit dieser Band, die sind antiamerikanisch!“ Die von dem Eishockey-Team waren total schockiert und wir mussten sie beruhigen, dass das normal bei uns ist, sie sollen das einfach ignorieren. Manchmal schauen wir uns die Verfasser solcher Kommentare genauer an, und es scheint, dass manche Profile eigens dafür angelegt wurden. Aber so technikversiert sind wir nicht, um jetzt sagen zu können, das sind nur Bots oder so.

Um auf meine Frage zurückzukommen ...
Chris #2: Ich werde niemals nie sagen, denn ich weiß nicht, wie ich als alter Mann sein werde. Obwohl, ich fühle mich schon jetzt wie ein alter Mann, haha. Kann sein, dass sich das Diskussionsklima irgendwann ändern wird und dass ich mich dann doch für die Politik entscheiden könnte. Aber im Moment habe ich das Gefühl, dass es uns schaden würde, und ich weiß auch, dass wir die Zeit dafür nicht haben. Außerdem muss man in der Politik viel Geduld mitbringen, und die habe ich nicht. Ich will nicht warten, deshalb bin in ich lieber Polit-Aktivist in einer Band.

Dann reden wir doch mal über die Band. Ihr habt in Pittsburgh eine Show gespielt, „ANTI-FLAG performing as THE CLASH“. Soll das bedeuten, dass THE CLASH euer wichtigster Einfluss sind?
Chris #2: Ja. Es gibt keine Band, der wir mehr nacheifern.
Justin: Es gab mal eine Zeit, das waren vielleicht zwei Jahre, da habe ich echt nur THE CLASH gehört. Alle Platten, alle Live-Aufnahmen ... Mir ist erst hinterher aufgefallen, dass ich wirklich ausschließlich THE CLASH gehört hatte, haha.

Nicht die RAMONES, nicht die DEAD KENNEDYS? Wenn ich mir so eure T-Shirts anschaue ...
Justin: Klar habe ich auch andere Musik mitbekommen, aber bewusst aufgelegt habe ich echt nur THE CLASH – bis mir das dann eben selbst auffiel, haha.
Chris #2: Interessant, dass du auf unsere T-Shirts hinweist. Für Justin waren einst die RAMONES diese „Türöffner“-Band, für mich die DEAD KENNEDYS. Aber erst als ich THE CLASH hörte, wusste ich, was ich will. Die DEAD KENNEDYS sind cool und ich liebe alles bei denen, auch das Artwork von Winston Smith, die dicken Booklets und so weiter. Und ich denke, schon wenn man sich das Cover und Booklet unserer „For Blood And Empire“-Albums anschaut, wird dieser Einfluss klar. Und auch beim neuen Album „Lies They Tell Our Children“ ist offensichtlich, wo unsere Einflüsse liegen. Das Artwork reflektiert die Songs. Und schnellen Punk zu spielen, wie die RAMONES, die im Grunde Popmusik in hoher Geschwindigkeit machten, ist ein großer Einfluss auf ANTI-FLAG. Bevor wir anfingen, für die THE CLASH-Show zu proben, haben wir uns einige Live-Videos angeschaut, um zu sehen, wie sie etwa die Songs von „London Calling“ live umgesetzt haben. Wir haben damit dann ganz schnell aufgehört, denn wir schauten uns nur verstört an und fragten uns, wie wir das jemals reproduzieren sollen.
Justin: Was die da machten, war teilweise extrem ausgefuchst und sehr vielschichtig. Da gingen RAMONES und DEAD KENNEDYS oft geradliniger vor. Das hat uns ja auch zu Beginn motiviert: Ach, was die RAMONES da machen, das bekommen wir auch hin! Hätte ich damals THE CLASH als Vorbild gehabt, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dass ich das auch kann.
Chris #2: Wenn Jello Biafra etwas auf der Bühne sagte, nur eine beiläufige Bemerkung, war das oft die obskurste Referenz. Als Punk-Kid musste ich herausfinden, was der da meinte. Das war total spannend. Joe Strummer hingegen sagte beim Auftritt im New Yorker Shea Stadium damals nur: Wenn du wissen willst, was abgeht, frag den neben dir. Ich habe erst später kapiert, was für ein kluger Kommentar das ist. Und zu sehen, wie THE CLASH auf der Bühne agiert haben, ist für uns immer wieder inspirierend. So wie Mick und Joe interagiert haben, da sehe ich auch Justin und mich. Und ich will, dass wir auf der Bühne diese Energie von James Brown und Sam Cooke haben zwischen dem Publikum und der Band, dass wir die Trennung von Bühne und Publikum überwinden, weil wir ein Kollektiv sind. Das sind unsere Haupteinflüsse, die im Hintergrund immer da sind und die von unserem „Studium“ von THE CLASH herrühren.

Letztlich erstreckten sich Aktivitäten von THE CLASH gerade mal über zehn Jahre, das meiste spielte sich von 1976 bis 1983 ab, „Cut The Crap“ war ja dann nur noch so ein letzter Seufzer. Und wenn man sich mit Joe Strummer beschäftigt, mal Julian Temples Film „The Future Is Unwritten“ gesehen hat, ist man erschrocken, wie erschöpft Strummer nach diesen paar intensiven Jahren war. Rund zehn Jahre THE CLASH stehen fast dreißig Jahre ANTI-FLAG gegenüber. Wie habt ihr das geschafft?
Chris #2: Zum hat das etwas damit zu tun, dass die vier Mitglieder von ANTI-FLAG von 1993 bis 2010 straight edge waren.
Justin: Wenn man jünger ist, neigt man eher dazu, Drogen zu nehmen oder zu trinken oder etwas zu tun, das selbstzerstörerisch ist, besonders in einer Band, wo man leicht Zugang zu all dem hat. Da kann man schnell über Bord gehen. In den Jahren, in denen wir wahrscheinlich super selbstzerstörerisch mit Alkohol und Drogen umgegangen wären, haben wir keine Drogen genommen, und ich denke auch, die Entscheidungen, die wir getroffen haben, als wir schließlich doch mit dem Trinken angefangen haben, sind gut.
Chris #2: Wir sind in dieser Hinsicht vielleicht echt die seltsamste Punkband. Chris, Head und ich rauchen vielleicht mal ein bisschen Gras, aber das auch nur, wenn wir irgendwo was schnorren können, haha. Selber kaufen wir uns nie was. Justin trinkt mal ein Bier nach der Show, Pat ist immer noch straight edge. Und was auch noch hinzukommt: Wir waren nie berühmt. Berühmt zu sein, jung zu sein und auf Heroin zu sein, das ist eben keine gute Kombination und das war wahrscheinlich der Grund, warum der THE CLASH innerhalb dieser sechs Jahre um ein Vielfaches gealtert sind.

Vielleicht hat es ja auch geholfen, dass ihr nie nach Los Angeles gezogen seid, um dort Teil der Rockstar-Szene zu sein.
Justin: Definitiv. Wir sind in Pittsburgh geblieben, hier ist das eher Working Class.
Chris #2: All das sind Gründe dafür, dass die Band sich nicht aufgelöst hat, sondern erfolgreich ist. Damit meine ich nicht unbedingt Erfolg im Sinne von finanziellem Gewinn. Ein Beispiel: Wir haben jedes Wochenende Konzerte gespielt, seit wir von einer zehnwöchigen Tour in Europa zurück sind, und die waren großartig. Ich bin nach keinem Auftritt mit dem Gefühl von der Bühne gegangen, es vermasselt zu haben. Ja, wir sind professionell, und ja, wir sind immer noch eine Punkband. Bei jeder Show kann jeden Moment etwas schiefgehen, aber nur so wirkt alles real und lebendig. Wir vier geben uns nach der Show immer gegenseitig Feedback, aber immer im Bewusstsein, dass das Konzert grundsätzlich gut war. Selbst wenn wir mal erschöpft oder müde sind, schaffen wir es, unsere Songs und Ideen so zu vermitteln, dass es die Leute erreicht. Punkrock unterscheidet sich von jeder anderen Musik darin, dass du nicht durchkommst damit, einfach nur dein Programm runterzuspielen.

In eurem aktuellen Bandinfo steht der Satz, „ANTI-FLAG brought the rock back into punk rock.“ Was will uns das sagen?
Chris #2: Ich glaube, musikalisch sind wir heute besser, als wir es je waren. Das soll dieser Satz ausdrücken. Punkrock hat für mich nichts mit einem bestimmten Sound zu tun, sondern mit der Absicht dahinter. Es ist eine Aussage, die zum Ausdruck bringen soll, dass man den Sound von ANTI-FLAG früher vielleicht daran festmachen konnte, dass wir so und so viele Beats pro Minute spielen, dass wir maximal viele Akkorde in einen Song packen, oder was auch immer. Aber jetzt sind wir offen für andere Tempi, für andere Riffs, für verschiedene Arten Gitarre zu spielen. Es gibt mehr Harmonien auf dem neuen Album als auf jeder früheren Platte. Und ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals so hart am Gesang gearbeitet haben. Dem Bandinfo liegt ein Interview zugrunde, und darin wollten wir klar zum Ausdruck bringen, dass wir genauso intensiv an der Musik gearbeitet haben wie an den Inhalten. Abgesehen davon ... lese ich unsere eigenen Bandinfos nicht, hahaha.

Ich bin mir noch nicht sicher, wie gut mir euer neues Album gefällt. Da sind schon recht viele „moderne“ Einflüsse drin, von „modernem“ Hardcore, und daran muss ich mich vielleicht noch gewöhnen.
Justin: Deine Aussage überrascht mich ehrlich gesagt nicht. Wir spielen mit vielen jungen Bands zusammen und irgendwie haben wir uns von deren Energie anstecken lassen. Es gibt ein paar Songs, die eher dem entsprechen, was du magst, die also mehr in die traditionelle Punkrock-Richtung gehen. Aber wir haben durchaus auch Riffs, bei denen ich mich von diesen jüngeren Bands habe inspirieren lassen. Zu einem gewissen Grad war das also eine bewusste Entscheidung. Aber auf der anderen Seite haben wir bei einigen Songs die bewusste Entscheidung getroffen, zurück zu unseren Neunziger-Punkrock-Wurzeln zu gehen. Insgesamt spiegelt das Album, finde ich, die fast dreißig Jahre unserer musikalischen Entwicklung gut wider. Wir haben auch mit verschiedenen jungen Musikproduzenten zusammengearbeitet, und zwar, weil sie jung sind, also etwa fünf bis fünfzehn Jahre jünger als wir, vielleicht sogar noch mehr. Diese Art, an ein Album heranzugehen, finde ich spannend, denn ich will nicht wieder dieselbe Platte machen, die wir im Jahr 2000 schon gemacht. Als Gitarrist und Sänger würde mich das langweilen.
Chris #2: Wenn wir ein neues Album machen, stelle ich mir immer die Frage, was mich gerade inspiriert, klanglich, ästhetisch und so weiter. Verbindet sich die Musik mit dem, was die Band zu sagen versucht? Ich schaue mich um, was um uns herum kulturell passiert, so auch dieser neue Hardcore. Wir spielen auf Festivals zusammen mit diesen Bands, auch in Europa. Auf dem With Full Force etwa. Das war in der Woche, nachdem der Oberste Gerichtshof entschieden hatte, dass die bisherige Gesetzgebung zum Recht auf Abtreibung von den Bundesstaaten gekippt werden kann. Wir teilten uns die Bühne schätzungsweise zu zwei Dritteln mit anderen US-Bands – und niemand sagte was zu dem Thema! Keine Band hat auch nur einmal erwähnt, was da passiert ist. Und ich dachte mir, das ist der Ort, an dem wir unsere Ideen einbringen können! Auf einem reinen Punkrock-Festival gibt es sicher eine Menge Bands, die was zu solchen Themen sagen. Da war das aber nicht der Fall, und deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe an, solche Festival zu „unterwandern“. Zum anderen haben wir in den letzten Jahren mit SILVERSTEIN wahrscheinlich 150 Shows zusammen gespielt. Wir haben viele Male mit RISE AGAINST gespielt. Und natürlich wurden wir auf diese Weise von ihrem Melodic Hardcore beeinflusst. Und wie oft haben wir mit BILLY TALENT gespielt? Da hört und schaut man genau hin: Was machen die da, wie schaffen die es, das Publikum so mitzureißen? Und wie können wir unsere politischen Themen in diese musikalische Umsetzung einbringen? All diese Einflüsse sind also auf diesem Album zu finden, aber es gibt auch einige klassische Vier-Akkorde-Punkrock-Songs. Aber letzten Endes ist es natürlich nie unsere Absicht, eine Platte zu schreiben, die nach irgendwem anders klingt. Sondern es geht darum, was die besten Songs sind, die wir haben.

Abgesehen davon: Wer braucht denn all die alten Punks im Publikum? Als Band muss man doch auch neue, junge Fans gewinnen, die dann vor der Bühne Action machen. Die Alten stehen ja eh nur hinten rum. Und wenn man dafür versucht, sich auch musikalisch an deren Hörgewohnheiten anzupassen, finde ich das nachvollziehbar.
Justin: Ich erinnere mich, wie damals dieser ganze Screamo-Hardcore immer mehr Zulauf hatte. Alle um mich herum beschwerten sich über diese Bands, die Musik, aber ich fand sie cool, und es war mal was Neues. Ich habe mich noch nie irgendwie bedroht gefühlt, bloß weil ein junger Mensch kommt und etwas anderes macht. Ich liebe alten Oi! und SHAM 69, aber die sind doch nicht bedroht, weil die Kids heute andere Musik machen. Ich liebe die Idee, mich von etwas Rohem, Neuem anregen zu lassen. Das treibt mich an.
Chris #2: Wir sprachen gerade lange über THE CLASH, und ich fände es richtig seltsam, wenn wir heute ein Album veröffentlichen würden, das nach THE CLASH anno 1980 klingt. Spannender finde ich es, sich insofern von THE CLASH inspirieren zu lassen, als dass wir schauen, wie haben die sich damals beeinflussen lassen. Und dann Elemente anderer Musik aufzugreifen und zu schauen, wie wir da unsere Ideologie einbauen können. Abgesehen davon laufen ja alle neuen Einflüsse durch den ANTI-FLAG-Filter. Schon allein Pats Drumming sorgt dafür. Da wird es nie Doublebass geben und das ganze andere Zeug, das man aus dem Nu Metal kennt. Ich finde es interessant, wie viele junge Bands auf die geringere Aufmerksamkeitsspanne reagieren. Die Alben sind kürzer, die Songs sind kürzer.

Das funktioniert auch bei TikTok besser, glaube ich.
Chris #2: Keine Ahnung, ich nutze das nicht. Wir haben in Portland neulich mit einer neuen Band namens ALIEN BOY gespielt, und die erzählten uns vorher, wie oft sie ANTI-FLAG live gesehen haben, wie inspirierend wir für sie waren – und dann gingen sie auf die Bühne und klangen nicht, als ob sie jemals ANTI-FLAG gehört hätten. Das finde ich interessant. Und die haben mal eben in 25 Minuten 11 Songs gespielt – wir schaffen höchstens 17 in einer Stunde.

Vielleicht machen andere Bands einfach weniger lange Ansagen auf der Bühne ... Anderes Thema: „Konzeptalbum“ heißt es zu „Lies They Tell Our Children“. Bezieht sich das darauf, dass ihr viele Gastsänger habt diesmal, oder wie es heute heißt: „Features“?
Chris #2: Der Begriff „Feature“ kommt aus dem HipHop und wurde dann in das digitale Zeitalter übertragen. Wenn Leute Features machen, dann machen sie das heute mit dem Hintergedanken, dadurch jeweils auf den digitalen Plattformen auch die Aufmerksamkeit der Fans des Feature-Gasts zu bekommen. Wenn man also auf die Spotify-Seite unserer Feature-Gäste geht, tauchen unsere dummen Gesichter auch dort auf. Das war aber nicht unsere Motivation. Wir waren an den Stimmen dieser Leute interessiert, eben am „Gastgesang“. Das wird nun leider Feature genannt, für uns bleibt es Gastgesang.
Justin: Oft sind dieses „Features“ dann auch nur schwer rauszuhören oder nur sehr kurz. Wir haben es so gemacht, wie eine Punkband es macht.
Chris #2: Das Konzept ist simpel: Es ist kein Konzeptalbum in dem Sinne, dass es etwa eine zentrale Figur gibt, die auf eine Reise geht, und das geht dann über zwölf Songs.
Justin: Ein Krieger. Und Drachen.

Eine Rockoper!
Chris #2: Das ist die pervertierte Version des Konzeptalbums. Wir benutzen den Begriff im wörtlichen Sinne. Also dass wir vier Mitglieder der Band zusammenkamen und eine Idee entwickelten, was wir mit dem Album erreichen wollten, bevor wir ein einziges Stück Musik schrieben. Im Wesentlichen ging es also darum, die Probleme, mit denen wir im Jahr 2022 konfrontiert sind, bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen. Und so entstanden diese einzelnen Tracks zu jeweils einem Thema. Das ist das Konzept des Albums „Lies They Tell Our Children“. In den Siebziger Jahren gab es eine Werbekampagne des Ölkonzerns Mobile . Sie schalteten Anzeigen in der New York Times, die überschrieben waren mit „Lies They Tell Our Children“. Mit „Lügen“ meinten sie, dass der Klimawandel eine Lüge sei – und damit das, was in den Schulbüchern steht. Das Problem dabei ist, dass die eigenen Wissenschaftler der Ölkonzerne damals schon wussten, dass der Klimawandel existiert. Mit dem Geld, das sie mit dem Ölverkauf verdienten, machten sie dann auch noch Kampagne, um ihre Unternehmen als „grün“ zu vermarkten. Die ganzen Begriffe, die wir heute verwenden, etwa der „CO2-Fußabdruck“, stammen beispielsweise von BP, von deren Marketingabteilung, die sich die Idee des CO2-Fußabdrucks ausgedacht hat. Du und ich und wir alle müssen uns um unseren persönlichen CO2-Fußabdruck sorgen, während die Konzerne einfach weiter nach Öl bohren. Das war für uns also der Aufhänger des Albums. Und dann überlegten wir, worüber wir noch reden müssen. Über die Gesundheitsfürsorge und die moderne Medizin. Von da kommen wir auf die Politik der Reagan-Ära, deren Ziel es war, jede Chance auf eine staatlich organisierte Gesundheitsfürsorge in Amerika auszuschließen. Oder nimm „The hazardous“, das ist ein Lied über Redlining in Amerika.

Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Chris #2: Da geht es um die Kreditpolitik der Banken. Sie „redlinen“ Wohngebiete, was bedeutete, dass sie keine Kredite vergaben für Investitionen in solchen Gegenden. Das sind Gegenden, die als gefährlich gelten, in denen viele Schwarze leben, und so weiter. Mit der Folge, dass es in diesen Vierteln heute fünf Grad heißer ist als in anderen Stadtteilen. Warum? Weil sie keine Grünflächen haben, keine Parks, keine Möglichkeit, die Sonneneinstrahlungen zu mildern, und offensichtlich unterfinanziert sind. Und was ich am schlimmsten finde: Als man anfing, in diesen Vierteln Bäume zu pflanzen, plädierte die Polizei dafür, die Bäume wieder zu fällen, weil sie hinderlich seien bei der Jagd nach Kriminellen. Also fällten sie in den Siebziger Jahren die Bäume und rissen bei Häusern die Veranda ab. Und jetzt, auf einem sterbenden Planeten, haben diese Viertel keine angemessene Infrastruktur, die Leute können sich keine Klimaanlagen leisten und stehen buchstäblich in Flammen. Als wir über diese Themen diskutierten, wurde uns das Konzept des Albums sehr klar, und wir waren dann auch in der Lage, es umzusetzen. Und so definiert der erste Track die Umrisse des Konzepts. Das Schreiben des Albums war dadurch für uns interessant, aber auch eine Herausforderung, denn wir haben uns selbst damit Beschränkungen auferlegt und gesagt: Okay, du hast einen tollen Song, eine tolle Melodie, aber wie passt das in die Gesamtidee? Wenn man 13 Alben gemacht hat, muss man einen Weg finden, es für sich selbst spannend zu machen und nicht einfach das Gleiche wie vorher zu machen. Ob es funktioniert oder nicht, weiß ich nicht. Gib uns vier Jahre, dann wissen wir es, haha.

Was eure Feature-Gäste betrifft, war ich überrascht, wie gut die eingebettet sind in die Songs. Sie sind nicht besonders hervorgehoben.
Chris #2: Weil die Gäste für uns da waren. Das ist Absicht. Wenn wir bei „The fight of our lives“ wollten, dass Tim McIlrath von RISE AGAINST die Bridge singt und Brian Baker von BAD RELIGION am Schluss ein Solo spielt, dann haben wir das für uns gemacht. Das gibt uns das Gefühl, mit unseren Helden verbunden zu sein, die einst eine Inspiration für uns waren. Es ist keine Taktik, um mehr Alben zu verkaufen. Die Idee war für uns zu zeigen, dass ein bestimmter Song etwa von KILLSWITCH ENGAGE beeinflusst ist. Ich mag Jessie, war in seinem Podcast zu Gast, komme gut mit ihm aus. Mit ihm kann ich darüber diskutieren, wie schlecht unser Gesundheitssystem in der Corona-Pandemie gearbeitet hat und dass man durchaus Pfizer als Konzern kritisieren darf, ohne gleich als Anti-Vaxxer dazustehen. Ich fragte ihn, ob er bei „Modern meta medicine“ singen will, in dem es genau darum geht, und er sagte zu.
Justin: Die Idee mit den Gästen hat auch was mit der Pandemie allgemein zu tun. Wir waren alle voneinander getrennt und so hatten wir die Chance, auch mit anderen Leuten zusammenzuarbeiten. Es zeigt, dass es eine Community um diese Musik herum gibt, die sich mit den gleichen Themen beschäftigt wie wir. Und auch diesen Aspekt wollten wir mit den Gästen herausstellen.
Chris #2: Es half uns auch zu sehen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich hatte ein zweistündiges Telefonat mit Tim von RISE AGAINST, wir sprachen über den Song, über unsere Bands und die, mit denen wir mal gespielt haben, und plötzlich war Tim für eine kurze Zeit in unserer Band. Als sie dann auf Tour waren, schaffte er es, zu uns ins Studio zu kommen. Oder die Story mit Shane von SILVERSTEIN: Der war gerade in Europa und ging in Graz in das Studio unseres früheren Tourmanagers. Diese Beziehungen, diese Verbindungen sind uns sehr wichtig – ganz persönlich und jenseits dessen, ob sie ein „gutes Thema“ für ein Interview sind. Ich habe aber auch kein Problem damit, dass solche Aspekte für das Marketing eingesetzt werden. Viel wichtiger ist uns, wenn wir Shane von SILVERSTEIN treffen, zuletzt letztes Jahr auf Tour, und der uns erzählt, dass „Die For Your Government“ einst eine der ersten Platten war, die er sich als Teenager gekauft hat. Zu erkennen, dass wir uns gegenseitig wertschätzen, dass wir die gleichen Werte teilen, das ist die tiefe Bedeutung hinter dem Zusatz „Feat. Shane Told of Silverstein“.

Wie kam Campino von DIE TOTEN HOSEN auf das Album? Er ist bei „Victory or death (We gave ’em hell)“ dabei.
Chris #2: 2008 haben wir mit DIE TOTEN HOSEN gespielt, das war unsere erste Begegnung. Als wir überlegten, wen wir für diesen Song nehmen könnten, war die eine Idee Lars von RANCID, die andere Campino. Mit Lars wäre das sicher auch was geworden, aber dieser Song hat was von Shanty, Bar, Fußball an sich, und das kam uns ziemlich „Hosen“ vor. Durch gemeinsame Freunde haben wir ihn kontaktiert, er hat sich den Track angehört und gesagt: „Das ist ein toller Song, ich bin dabei.“ Als wir unseren Freunden bei ZSK und den DONOTS davon erzählten, wollten die wissen, wie wir das denn geschafft hätten. Ich antwortete, wir hätten einfach angerufen. Klar, es hatte sicher was damit zu tun, dass wir schon mal mit ihnen gespielt haben oder dass sich Campino beim Rebellion Festival unsere beiden Auftritte angeschaut hat. Er hat auch nicht nur einen Refrain aufgenommen, sondern er hat den ganzen Song gesungen. Er ist also immer wieder zu hören.
Justin: Ich glaube, die Idee mit Campino kam von mir, denn ich höre DIE TOTEN HOSEN gerne. Und bei dem Song hatte ich sofort seine Stimme im Ohr. Vor allem aber: wenn du jemals backstage warst bei einer von deren Shows, weißt du, dass das echt die punkest motherfuckers ever sind. Das sieht man schon daran, wie sie die Bands behandeln, die mit ihnen spielen. Und egal wo du in Europa auftrittst, triffst du einen von ihnen. In dieser Hinsicht hat es mich also nicht überrascht, dass Campino zugesagt hat. Das ist jemand, der Punkrock liebt und gerade auch den kreativen Teil davon.
Chris #2: Der erste Name, der mir in den Sinn kam, war wie schon gesagt Lars – und zwar, weil es wie ein Billy Bragg-Song klingt. Dann aber kamen wir auf DIE TOTEN HOSEN, weil die eben eine dieser ganz ursprünglichen, vom Rock stammenden Punkbands sind, wo also Rhythm’n’Blues die Wurzeln sind. Ich glaube, bei unserem Label sind nicht alle von dem Song überzeugt, aber das hat uns noch nie interessiert – die hielten damals auch „Brandenburg Gate“ für keine gute Idee. Und mit dieser Verbindung zu DIE TOTEN HOSEN kommen wir auch auf unser Festival-Anfänge in Deutschland zurück, das war 2008. Wir waren von 2003 bis 2008 mehrfach in Europa, aber wir spielten da eher in besetzten Häusern und so. 2008 spielten wir dann unsere erste Show mit DIE TOTEN HOSEN – und in unserem Backstageraum stand eine Flasche Champagner und daran war ein Zettel, auf dem stand: Danke fürs Kommen. Und dann hat Campino uns jeden Abend vorgestellt, bevor wir auftraten, und dafür gesorgt, dass es eine tolle Show wird. Da gab es hinter der Bühne keine Hierarchie, alle aßen zur gleichen Zeit, unterhielten sich, und das kannten wir so nicht. Wir wollten wissen, warum sie das machen, und sie haben uns erzählt, dass sie ein paar miese Erfahrungen gemacht hätten, als sie noch nicht so bekannt waren. Also hätten sie beschlossen, das anders zu machen, sollten sie mal so weit kommen. Das werde ich nie vergessen, und auch deshalb ist Campino bei diesem Song zu hören. Ich hoffe natürlich, dass es ein Hit im deutschen Radio wird.

Habt ihr schon eine Rechnung bekommen für seine Studiozeit?
Chris #2: Ich warte immer noch darauf, hahaha! Als wir mit den BROILERS gespielt haben, bei der letzten Show unserer Tour, war einer ihrer Techniker der Typ, der diesen Gesangspart mit Campino aufgenommen hat. Wir unterhielten uns und ich wartete nur darauf, dass er sagt: „Ach übrigens, ihr schuldet mir noch 1.000 Dollar.“ Er sagte aber nur „Toller Song!“ und ging weiter, Und ich so ... Uff!

Ihr habt seit Juli 2022 schon viele der Album-Songs veröffentlicht. Werden bis zum Release im Januar 2023 alle veröffentlicht sein?
Chris #2: Sieben von den elf. Das hat verschiedene Gründe. Wir wollten keine Platte machen, die wir zu Hause alleine aufnehmen, also unter Pandemie-Bedingungen. Und wir wollten, dass wir damit auch auf Tour gehen können. Also mussten wir warten, bis es wieder möglich war, mit mehreren zusammen im Studio zu sein. Im Januar 2022 haben wir damit angefangen, in dem Raum, den du hinter uns siehst. Bei „20/20Vision“ war es ja so, dass wir das im Sommer 2019 aufgenommen haben, und es kam erst im Januar 2020 heraus. Wir haben insgesamt 25 Shows damit gespielt – und das war es dann für die nächsten zwei Jahre. Wir hatten also einfach keine Lust, uns von irgendwem und irgendwas vorschreiben zu lassen, wann wir unsere Musik veröffentlichen können und wann nicht. Die Presswerke sind überlastet. Wenn du einen Auftrag im Mai einreichst, bekommst du die Platten nicht vor Dezember oder Januar geliefert, haben sie gesagt. Also dachten wir uns, okay, lasst uns einfach anfangen, Musik zu veröffentlichen, bevor wir all diese Shows spielen. Ich will eigentlich nicht, dass jemand eine Platte kauft, die ein Jahr zuvor entstanden ist. So war der erste Song dann sechs Monate, nachdem wir den aufgenommen hatten, raus.
Justin: Und wer weiß schon, ob wir dann, wenn die Platte kommt, mal wieder nicht auf Tour gehen können. So konnten wir ab dem Sommer touren und die Leute kannten schon die ersten Songs. Mit „20/20Vision“ waren wir in Europa und haben noch eine Show in Nordamerika gespielt und dann war’s das.
Chris #2: Es fällt uns schwer, diese Songs jetzt zu spielen. Wir haben die 2018 geschrieben und 2019 aufgenommen. „Don’t let the bastards get you down“ haben wir noch nie live gespielt. Wir müssten uns hinsetzen und lernen, wie man den spielt! Diesmal war am 15. Juni das Album fertig, und der erste Song erschien am 29. Juli. Wir waren also in der Lage, schon ein paar Songs live zu spielen, die wir teilweise gerade erst im Mai aufgenommen hatten. Das war total cool, weil wir mal nicht das tun mussten, was sonst jede Band macht: Du geht auf Tour und musst erst mal deine Songs spielen lernen ... Aber klar, wir, du und ich, sind schon älter und denken immer noch an ein Album, wie wir es auf den Plattenteller legen, und das ist dann die erste Begegnung damit. Aber das ist nicht mehr die Welt, in der wir leben. Ich hoffe, dass das wiederkommt, denn das war eine besondere Art, Musik zu erleben, ohne all diese „Pre-Drops“ und „Pre-Saves“ und wie das alles heißt. Und ja, wenn das Album im Januar kommt, werden acht der elf Songs schon veröffentlicht sein. Und um auf das Konzeptalbum-Dingens zurückzukommen: Wir finden es wichtig, für jeden Song ein Video zu machen, das das jeweilige Thema behandelt und erklärt. Wir versuchen also einfach, auf eine Situation mit kreativen Lösungsvorschlägen zu reagieren. Ob wir nun richtig oder falsch liegen, weiß ich nicht. Deshalb machen wir Kunst.

Ich habe auch noch eine Frage zu eurem Song „Imperialism“ ...
Justin: Ich ahne warum.

Im Text heißt es: „The heads of state are drinking up their vintage wine / While blowin’ smoke on human rights and apartheid / From Pittsburgh, PA all the way to Palestine“. Die Verwendung des Begriffs Apartheid im Kontext von Israel wird einigen Leuten missfallen.
Justin: Ich bin mir zu 100% sicher, dass wir drei der gleichen Meinung sind in Bezug darauf, dass es eine Menge Antisemitismus in der Welt gibt und dass diese Haltung absolut falsch ist. ANTI-FLAG haben schon immer gegen Antisemitismus gekämpft. Die Realität ist, dass das jüdische Volk schreckliche Verfolgung erlebt hat und die Geschichte des jüdischen Volkes wirklich tragisch und furchtbar ist, es hat großes Leid erfahren. Das erkennen wir völlig an. Aber Regierungen tun oft Dinge, die von der Mehrheit der Bevölkerung nicht unterstützt werden. Als die Vereinigten Staaten zum Beispiel in den Irak einmarschierten, haben wir dagegen protestiert. Und wir müssen uns im Klaren sein, dass das Handlungen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika waren, nicht Handlungen aller Menschen in den USA. Wenn also jemand sagen würde, dass alle Menschen in Amerika schlecht sind, auf der Basis, was die Regierung der Vereinigten Staaten getan hat, dann wäre das nicht gerechtfertigt. Denn viele Menschen in den USA waren gegen den Irak-Krieg. Und so gibt es auch viele Menschen in Israel, die mit der Politik ihrer Regierung gegenüber Palästina nicht einverstanden sind. Und deshalb wäre es falsch zu sagen, dass jeder Mensch in Israel Schuld daran trägt, was die israelische Regierung dem palästinensischen Volk antut. Was nun die Frage betrifft, ob es sich da nun um einen Apartheidsstaat handelt, so geht diese Aussage nicht auf uns zurück. Das sind Aussagen von Amnesty International, von Human Rights Watch, von der größten Menschenrechtsorganisation in Israel. Ich möchte, dass die Menschen sich ihre eigene Meinung dazu bilden können. Es gibt definitiv Menschenrechtsverletzungen, die von der israelischen Regierung in Palästina verübt werden. Wenn man das nicht anerkennen kann, ist man einfach nicht ehrlich, denn die Videobilder sprechen für sich selbst. Und viele Menschen in Israel sind mit den Menschenrechtsverletzungen in Palästina nicht einverstanden. Wir sprechen uns gegen Menschenrechtsverletzungen aus, egal wo sie stattfinden, ob in den Vereinigten Staaten sind, in Israel, in Russland oder in China. Ich habe auch keine Ideen für die Lösung der Probleme zwischen Israel und Palästina. Aber ich weiß, dass es eine ehrliche Vermittlung geben muss, damit Frieden geschlossen werden kann. Leider sehe ich nicht, dass das im Moment passiert, und ich sehe auch nicht, dass die Vereinigten Staaten das leisten.
Chris #2: Ich möchte noch hinzufügen, dass die Botschaft und das Ideal von ANTI-FLAG die Demilitarisierung von Konflikten ist. Es gibt jetzt gerade 72 große Konflikte. Wir fordern die Entmilitarisierung der Welt, mit unserem Bandnamen und mit unseren Liedern. Wir müssen uns um eine Welt bemühen, in der Waffenhändler keine Milliardengeschäfte mehr machen. Und nicht nur die USA, auch Deutschland ist ein wichtiger Akteur bei der Herstellung von Waffen. Von da gibt es einen direkten Bezug zu syrischen Geflüchteten. Und der Grund für all dies ist letztlich im Hyperkapitalismus zu suchen.
Justin: Bomben auf Menschen zu werfen, ist eben nicht der Weg, die Probleme der Welt zu lösen. Unser Song „Imperialism“ soll auf die Tatsache hinweisen, dass Kolonisierung und Imperialismus auf der ganzen Welt permanent stattfinden. Jede große Militärmacht ist auf die eine oder andere Weise daran beteiligt. Es ist unsere Aufgabe, darauf hinzuweisen.
Chris #2: Wenn ich mir die Kommentare zu dem Song im Internet anschaue, stelle ich fest, dass irgendwie jeder der Meinung ist, dass sein Land nicht in imperialistische Machenschaften involviert ist.
Justin: Das ist der Grund, warum wir in dem Musikvideo sehr darauf geachtet haben, alle Nationen einzubeziehen.