ANTI-FLAG

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Amerikanische Abrechnung

Dass ANTI-FLAG es laut krachen lassen können, wissen wir. Dass diese vier Jungs aus Pittsburgh sich dabei klar politisch positionieren, wissen wir auch. Jetzt neu im Regal: „American Reckoning“ – ANTI-FLAG in leise! Ich bin ja selten ein Freund von Akustikalben, für mich gilt da meist: Kenne ich schon und bekomme ich jetzt noch mal in langweiligerer Form. An Intensität fehlt es den sieben akustischen Versionen von „American Spring“- und „American Fall“-Tracks – neben drei Coverversionen: „Gimme some truth“ (John Lennon), „For what it’s worth“ (BUFFALO SPRINGFIELD) und „Surrender“ (CHEAP TRICK) – aber sicher nicht. Frontmann Justin Sane erklärt uns warum.

Justin, RISE AGAINST haben vor kurzem auch ein Akustikalbum veröffentlicht. Habt ihr euch vielleicht abgesprochen?


Haha, ich wusste nicht, dass sie eine Akustikplatte machen, bis wir unsere eigene produziert haben. Das ist ein totaler Zufall. Aber ich finde das cool, ich bin froh, dass sie das gemacht haben. Aber das ist eine gute Frage, zumal wir ja zusammen touren.

Warum habt ihr euch gerade für diese Songs entschieden?

Einige Songs der letzten beiden Platten hatten wir schon live in Las Vegas aufgenommen. Eins davon war „Fabled world“ und das ist ein Lied, das für unsere Gesellschaft unverändert sehr relevant ist, besonders wenn man die Zunahme des Militarismus und die Art betrachtet, wie Donald Trump ihn in den Vereinigten Staaten verstärkt. Mit das Erste, was er als Präsident tat, war, einen Deal mit Saudi-Arabien abzuschließen. Und jetzt hat er ein Militärbudget von über 700 Milliarden Dollar für die Vereinigten Staaten genehmigt – und das schließt Geld für neue Atomwaffen ein. Als wir also die Songs für unsere Akustikplatte auswählten, achteten wir darauf, dass sie für die aktuelle politische Situation noch relevant sind. Songs wie „Racists“ oder „American attraction“ mussten wir nehmen. Letzteres ist ein Lied über Donald Trumps Amerika. Wir stellen darin die Frage, welche Art von Gesellschaft wir sein wollen. Sind wir ein Land, in dem Konsum, Nationalismus und ein autoritärer Führungsstil unsere Moral bestimmen? Wollen wir eine fremdenfeindliche und nationalistische Gesellschaft sein? Wollen wir einen Präsidenten, der Frauen, Moslems, Mexikaner, LGBTIQ-Menschen und Flüchtlinge angreift? Oder wollen wir einen Präsidenten, der tatsächlich die Moral vertritt, die wir teilen?

Wart ihr völlig frei bei der Auswahl der Songs?

Wir haben uns dahingehend nie etwas vorschreiben lassen. Wir bitten aber Leute um Rat. Ich denke, es ist manchmal wichtig, die Perspektive anderer Leute einzubeziehen. Bei einer Platte hat man meist einen Produzenten dabei. Der holt einen aus deiner Blase. Man kann in einer politischen Blase sein, in einer sozialen, einer akademischen und Musiker können in einer Band-Blase sein. Manchmal ist es schwierig, darüber hinaus zu blicken. Dann ist es wertvoll, jemand anderen wie den Produzenten oder Freunde anzuhören. Aber am Ende sind wir diejenigen, die die Entscheidungen treffen.

Habt ihr mit diesen Akustiksongs einige eurer Aussagen reflektiert? Hattet ihr das Bedürfnis, irgendwas zu korrigieren?

Für mich sprachen zwei Gründe für ein akustisches Album. Der erste ist, dass wir immer mehr akustische Lieder spielen. Ich denke, dass sich die Punk-Community in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren mehr der Folk-Tradition geöffnet hat. Tatsächlich haben wir in letzter Zeit so viel unplugged gespielt, dass wir folglich diese Platte veröffentlicht haben. Wir haben sie aus einer Laune heraus aufgenommen, in letzter Minute in Las Vegas. Das Event dort wurde ganz kurzfristig angekündigt und trotzdem kamen ein paar hundert Leute. Es wurde mitgeschnitten und am Ende dachten wir: Das klingt gut, lasst es uns veröffentlichen. Leute wie Chuck Ragan und andere Vertreter der Punk-Welt spielen ebenfalls immer mehr akustische Musik. Nach meiner Beobachtung ist die Punk-Szene in dieser Hinsicht heute sehr viel aufgeschlossener. Der andere Grund ist, dass Folk einen Song auch für andere Leute zugänglicher machen kann, in dieser Form ist die Botschaft leichter verständlich. Ich denke, dass einige Leute diesen Liedern nun eine Chance geben, was sie sonst vielleicht nicht getan hätten. Und so finden sie in ihnen vielleicht etwas, das sie inspiriert. Ich denke also, dass es eine spannende Möglichkeit ist, unsere Kunst in anderer Form zu präsentieren.

Ist das, was du gerade über Folk gesagt hast, der Grund, warum ihr BUFFALO SPRINGFIELD gecovert habt?

In Amerika ist das Stück wirklich populär. Und zwei Mitglieder von BUFFALO SPRINGFIELD, David Crosby und Neil Young, schrieben einige der bekanntesten Protestsongs der jüngeren Geschichte, die waren echte Vorreiter. Und natürlich ist es ein Lied, mit dem ich aufgewachsen bin, ich habe es ständig im Radio gehört. Als ich älter wurde, wurde ich neugierig, worum es in dem Song geht, und als ich es dann wusste, fand ich das wirklich interessant. Das war eine sehr frühe Erfahrung damit, dass Musik die Art und Weise, wie man denkt und wie man sich verhält, beeinflussen kann.

Dasselbe könnte man über das John Lennon-Cover sagen. Ich war wirklich überrascht, einen Lennon-Song auf einer ANTI-FLAG Platte zu entdecken. Ich hätte nicht gedacht, dass er als Hippie-Ikone einen Einfluss auf dich hatte.

Haha, ja. Ich denke, was John Lennon in seinem Leben sagte und tat, war sehr wahr und richtig. „All you need is love“, das stimmt einfach. Wenn sich alle mit Liebe, Einfühlungsvermögen und einer positiven Einstellung begegnen würden, wäre die Welt eine bessere. Deshalb ist es wichtig, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Menschen einander vertrauen und lernen können, sich umeinander zu kümmern. Dafür sprach John Lennon, und natürlich protestierte er schon sehr früh gegen den Krieg. ANTI-FLAG haben wir auch als Anti-Kriegs-Band gegründet, so dass die Botschaft von John Lennon immer etwas war, das in mir mitschwang. Ich bin mit den Songs aufgewachsen, meine älteren Geschwister waren riesige BEATLES-Fans. Das Cover, das wir aufgenommen haben, ist musikalisch allerdings mehr von der GENERATION X-Version beeinflusst.

Ihr seid aber schon etwas direkter als Lennon. Ich denke da auch an den Plattentitel „American Reckoning“, also „Amerikanische Abrechnung“. Mit wem rechnet ihr ab?

Wir kommen an einen Punkt, an dem wir uns einige schwierige Fragen stellen müssen, es sind schwierige Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu ergreifen, Trump muss weg. Daher kommt auch der Titel. Darauf können wir nicht länger warten, Trump hat sich als ein gefährlicher Neofaschist enttarnt. Wir sind angelangt bei Flüchtlingskindern in Käfigen und Kinderkonzentrationslager. Dafür gibt es keine Entschuldigung, falsch ist falsch. Sicher, in Amerika sind wir an einem Ort, wo wir uns selbst im Spiegel betrachten und entscheiden müssen, was unsere Prioritäten sind. Das reicht aber über Amerika hinaus, auch nach Europa, wenn es um Flüchtlingsfragen geht und die Machtübernahme neofaschistischer Regimes in Ländern wie Polen und Ungarn. Wir fragen uns: Wie wollen wir in der Geschichte mal gesehen werden? Donald Trump wird nicht als moralischer und guter Mensch in Erinnerung bleiben.

Du hast vor kurzem gesagt, dass dieses Kapitel deiner Band mit der Hoffnung von „American Spring“ und dem Zorn von „American Fall“ begonnen hat und mit „American Reckoning“ endet. Was passiert also im nächsten Kapitel?

Nun, wir müssen einfach abwarten und schauen, nicht wahr? Haha. Nein, also Dinge, die in der Vergangenheit nicht so klar waren, werden mit der Zeit immer klarer. Ich glaube nicht, dass wir es je mit einer so eklatanten Demonstration von Rassismus zu tun hatten, und das auch noch von einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die eine solche Medienaufmerksamkeit bekommt. Wenn wir dem zum ersten Mal begegnen, brauchen wir Zeit, um das zu verarbeiten. Zum Beispiel wusste ich, dass es rassistisch war, als Trump sagte, Mexikaner seien Vergewaltiger, Mörder und Drogendealer. Was mir damals nicht klar war: Er wandte sich damit an einen ganz bestimmten Teil der amerikanischen Bevölkerung. Er sprach im Grunde genommen kodiert, um diese Leute wissen zu lassen: Hey, ich bin auf eurer Seite. Wenn du also fragst, was als Nächstes kommt: Die Botschaft wird eine andere sein als vor ein oder zwei Jahren.