Ulm, das war für uns in Heidenheim sowas wie eine Großstadt, mit dem Zug erreichbar in einer halben Stunde, wenn auch nicht dann, wenn es nötig gewesen wäre: abends und nachts. 190.000 Einwohner, eine Straßenbahn, McDonalds, US-GIs, Kaufhäuser – hier tobte für uns in den Achtzigern das Leben, und die Musiklandschaft war auch spannender als auf der Alb, gleich mehrere Clubs existierten, und auch eine alternative Kulturszene. Und Sofortdruck Bernecker, wo die ersten Ox-Ausgaben gedruckt wurden. Mit diesem Lesebuch mit dem Untertitel „Ein Lesebuch aus Scherben. Chronik der Heimatstadt, von links gelesen. Inspiriert von TON STEINE SCHERBEN IV“ versucht nun das Künstlerkollektiv Diva Vollmund (auch hier ein „Scherben“-Bezug) sowas wie eine alternative Stadtgeschichtsschreibung, ausgehend von den 1980ern, in Form von verschiedensten Beiträgen: Fotos, Collagen, Lyrik, autobiographischen Erinnerungen, von 20+ Menschen, die hier einst sozialisiert wurden, in einer Stadt, die einerseits durchaus Großstadt ist – aufgeteilt ins württembergisch-schwäbische Ulm und das bayerisch-schwäbische Neu-Ulm – und damit Fluchtpunkt für frei denkende Geister aus dem ländlichen Umfeld ist, die aber eben auch immer etwas provinziell wirkte. Ulm war eben nicht München oder Stuttgart. Punk taucht hier immer wieder auf, damals (GOTTES VERGESSENE KINDER, ich habe schlimme Erinnerungen ...) wie auch aktuell in Form von PORNOPHON, die Anti-Atomwaffen-Demos der Achtziger, Selbstfindungsprozesse ... irgendwo auch das legendäre Violet, wo sich immer Mittwochs die Waver und Punks trafen? Vielleicht habe ich das überlesen. Wer hier aufwuchs oder noch lebt, sollte das Buch lesen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #162 Juni/Juli 2022 und Joachim Hiller