Die Stuttgarter erfinden sich auf ihrem dritten Album neu. „Transience“ klingt anders als seine Vorgänger, wartet mit mehr Melodie, Atmosphäre und Cleangesang auf. VENUES setzen auf kreatives Post-Hardcore-Selbstbewusstsein und emotional aufwühlende Stücke.
Ein paralleles Testuniversum, wo man ein anderes Szenario sehen könnte, gibt es ja nicht, aber ich bin sehr happy, dass alles so gekommen ist, wie es ist“, erwidert Shouter Robin Baumann auf die Frage, wie er die Entscheidung für Sängerin Daniela „Lela“ Gruber aus heutiger Sicht bewertet. Im Interview zum letzten Album hatte er verraten, dass 2019 fast ein Sänger zur Band gestoßen wäre. „Witzigerweise habe ich gerade letztens mit unserem Gitarristen Valentin darüber gesprochen. Es ging um den Sänger einer Stuttgarter Band, die vor Jahren zu den Hochzeiten des Emo recht bekannt war, AN EARLY CASCADE. Bei ihnen sind damals gerade neue Mitglieder hereingeschneit und es war unklar, wie es weitergehen würde. Er war hin- und hergerissen und hatte schon Bock. Er wollte sein eigenes Baby aber nicht verlassen und ist bei AN EARLY CASCADE geblieben.“ Ebenso in Erinnerung geblieben ist die Aussage, dass VENUES darauf abstellen, ihre Songs nicht zu metallisch, dafür aber so modern wie möglich anzulegen. Durch das neue Werk ist nun nachvollziehbar, was Robin damit meinte: „Das ist eine konstante Angst von mir“, bestätigt der Frontmann. „‚Solace‘ klingt mir in der Retrospektive tatsächlich zu metallisch. Auf ‚Transience‘ haben wir das jetzt ungleich besser gemacht. Zumindest daran gemessen, was meine persönlichen Erwartungen angeht. Es ist viel weniger Oldschool-Metal drin, hat dafür einen viel moderneren Charakter. Auch wenn wir harte Passagen beibehalten haben, fühlt sich alles insgesamt cooler, moderner und nicer an. Das Album passt viel besser in die Welt, in der ich mich mit der Band bewegen will.“
Sängerin Lela, für die es ihre zweite Platte mit der Gruppe ist, stimmt dem zu: „Ich stand von Beginn an auf der Seite von Robin und wollte ebenfalls weg von den Oldschool-Metal-Riffs und richtig in die Moderne. Meine Angst war es immer, dass es zu sehr in eine NIGHTWISH-Richtung abdriftet. Für viele Bands mit weiblichem Gesang scheint es schwierig zu sein, die eigene Spur zu halten. Das haben wir gut gelöst, auch wenn unsere Gitarristen weiterhin gerne Riffs spielen. Von den Riffs wollen wir ja auch nicht komplett weg. Wenn ich mir ‚Solace‘ anhöre, freut mich vor allem, dass meine Angst unbegründet war. Bitte nicht falsch verstehen, NIGHTWISH ist nichts Schlechtes, entspricht nur nicht meinem Geschmack. Auf dem neuen Album sind wir jetzt noch bewusster mit der Zeit gegangen, denn wir probieren gerne Neues aus.“ Die musikalische Wandlung hat sich durch Absicht einerseits und Veränderungen im Line-up andererseits eingestellt: „Zu dieser Entwicklung ist es natürlich auch deshalb gekommen, weil wir uns von einem unserer Gitarristen getrennt haben“, erzählt Robin. „Das hatte einen großen Einfluss auf das Songwriting. Das Erstellen der Grundgerüste unserer Songs liegt nunmehr ganz bei unserem Gitarristen Valentin und unserem Live-Bassisten. Dennis Peller ist zwar kein offizielles Bandmitglied, begleitet uns aber sehr oft und ist auch im Hintergrund sehr fleißig aktiv. Die beiden sind unsere Songwriting-Manufaktur. In regelmäßigen Abständen bekommen wir Songs auf den Teller und entscheiden, welche wir cool finden und weiter bearbeiten wollen, was Vocals und Schlagzeug anbelangt. Es hat sich ganz von selbst gefügt, dass wir in eine modernere Richtung gedriftet sind, in die wir vier ohnehin gehen wollten. Der Drive des neuen Line-ups ist mega. Der ganze Workflow ist so gut wie noch nie, seit ich 2014 in das Projekt eingestiegen bin. Wir alle teilen dieselbe Vision.“
Lela verweist ergänzend darauf, dass die künstlerische Transformation bei VENUES kontinuierlich erfolgt: „Für mich ist ‚Solace‘ für das, was es ist, und unsere damalige Situation gut geworden“, so die Sängerin. „Es ist schon etwas anderes als ‚Aspire‘. Für Fans und Hörer ist es immer besser, wenn man keinen krassen Cut setzt. Hätten wir ‚Transience‘ direkt nach ‚Aspire‘ herausgebracht, wäre das krass anders. Weil es dazwischen aber ‚Solace‘ gab, konnte man unsere Entwicklung mitverfolgen. Für mich ist es schon jetzt spannend zu überlegen, wie das nächste Album wohl klingen wird, denn wir können in jede Richtung ausfahren. Unabhängig davon ist es für mich stets schön zu erfahren, wie eine Band wächst und wie sich das in ihrer Musik widerspiegelt.“ Das aktuelle Material lässt erkennen, dass alle Albumsongs der Stuttgarter Single-Potenzial besitzen müssen und stark verdichtet sind. Frontmann Robin widerspricht dieser Sicht nicht: „Beim Songwriting bin ich immer der Böse, weil ich die Auffassung vertrete, dass man aus den Songs alles rausschmeißen sollte, was diese nicht brauchen. Das ist meiner Meinung nach generell eine gesunde Einstellung. Die Zeit von Zwei-Minuten-Intros sind im heutigen Umfeld vorbei. Das ist in der Band auch jedem klar. Kommt ein Song in den ersten dreißig Sekunden nicht zur Sache, verliert man die Leute. Dieses Verständnis tragen wir in uns.“ Die Vielseitigkeit von „Transience“ erklärt Sängerin Lela dabei mit seiner Entstehungsgeschichte: „Die Stücke sind über einen langen Zeitraum hinweg entstanden. Wir waren drei Mal im Studio und haben Songs aufgenommen. Zu jedem dieser Zeitpunkte waren wir in einer anderen Phase. Bei der ersten Runde war noch unser alter Gitarrist mit dabei. Das zweite Mal war dann unsere erste Studioerfahrung ohne ihn – ein ganz neues Gefühl, das uns neue Ansatzpunkte aufgezeigt hat. Weil er immer viel geschrieben hat, mussten wir unser Songwriting umstellen. ‚Transience‘ steht deshalb auch für das Herantasten an eine neue Situation und ein neues Arbeiten. Bei den jüngsten Songs wie ,Godspeed, goodbye‘ hört man das sehr deutlich, finde ich. Dieser klingt ganz anders als beispielsweise ‚Reflections‘, das in der erste Runde aufgenommen wurde. Die Entwicklung unserer Band ist auch innerhalb des Albums nachvollziehbar, nicht nur im Vergleich zu ‚Solace‘.“
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