TORTOISE

Die Chinesen behaupten zwar, 1996 sei das Jahr der Ratte, aber wenn mich nicht alles täuscht, steht dieses Jahr deutlich im Zeichen einer Band, die sich nach einem etwas behäbigen, gepanzerten Tier benannt hat: TORTOISE, Schildkröte. Zuerst war angeblich der Name MOSQUITO aufgrund soundmäßiger Übereinstimmungen im Spiel, aber auf Dauer hätte das wohl zu unangenehme Assoziationen ausgelöst. Mittlerweile befindet sich die Band aus Chicago im Mittelpunkt eines Mini-Hypes, denn seit ein paar Monaten kommen plötzlich zig Musikblätter mit äußerst positiven TORTOISE-Berichten an, und so zierte die Band im Februar gleichzeitig das Cover von INTRO und SPEX. Daß TORTOISE mit ihren wahrlich unvergleichlich guten Platten hohe Verkaufszahlen erreichten, ist insgesamt ähnlich ungewöhnlich wie das allgemeine Interesse an einer Band, der man nun wirklich nicht eine gezielte Trendyness vorwerfen kann. Vielleicht befriedigen sie aber auch nur Bedürfnisse nach etwas Neuem, wozu profaner Indierock schon lange nicht mehr in der Lage ist. Deshalb war natürlich das erste, was ich John McEntire und Doug McCombs auf ihrer ausgedehnten Interviewtour unter die Nase rieb, die Frage nach ihrer persönlichen Einschätzung dieser Entwicklung.

"Wir haben zwar noch nicht weiter darüber nachgedacht", meint Doug ,"aber das derzeitige große Interesse an TORTOISE ist schon etwas überraschend, vor allem, weil wir eine Form von Musik machen, die ja eigetlich kein Potential für einen kommerziellen Erfolg besitzt. Wir haben durch unseren Erfolg jetzt die Möglichkeit zu touren und Platten aufzunehmen, und das ist für uns das Wichtigste. TORTOISE könnten aber sicherlich auch ohne irgendeine Form von kommerziellem Erfolg existieren. Diese Promosache machen wir, weil wir glauben, daß unsere Band gut ist und hoffen, dadurch mehr Leute auf unsere Platten aufmerksam zu machen. Es ist hilfreich für unser Label, die wiederum auch uns helfen. Sie verkaufen mehr Platten und wir kriegen dadurch auch mehr Geld."

In Deutschland hatte man kurzfristig sogar Schwierigkeiten die letzte Platte "Millions Now Living Will Never Die" zu bekommen, da City Slang von der regen Nachfrage etwas überrumpelt worden war. Wie sehen denn die Reaktionen in den Staaten auf TORTOISE aus?

"Es ist ähnlich, aber schlecht vergleichbar", erzählt Doug. "Daß es hier etwas intensiver ist, liegt zum Teil daran, daß die Städte in unmittelbarer Umgebung liegen. So hatten wir die Möglichkeit auf einer Tour das ganze Land viel leichter abzudecken, wodurch uns mehr Leute kennenlernen konnten. In den Staaten ist alles stärker isoliert. Es gibt einige große Gebiete an der Ost- und Westküste und in der Umgebung von Chicago, wo wir die Leute wirklich interessieren. Viel von der Popularität, oder nennen wir es besser Interesse, wird durch Mund-zu-Mund-Propaganda vermittelt."

"Es gibt in den Staaten auch keine großen länderübergreifenden Medien wie hier", greift John meine Frage auf. "Es gibt kein Magazin wie SPEX, das über Dinge berichtet, die abseits des Mainstream passieren. Die großen Magazine bei uns berichten über die Top 40. Es gibt natürlich auch kleinere Hefte bzw. Fanzines wie hier, die nicht nur über Mainstream schreiben, aber deren Vertrieb ist regional beschränkt. Und in denen kannst du meistens etwas über Bands wie TORTOISE lesen."

In den Staaten sind TORTOISE auf Thrill Jockey, ein relativ kleines Label, das in Deutschland erst durch den Umstand bekannter wurde, das City Slang Lizenzpressungen der meisten Veröffentlichungen hier vertreibt. Wie kann sich Thrill Jockey in den Staaten behaupten?

"Thrill Jockey kann man von der Größe her in etwa mit City Slang vergleichen", erklärt Doug, "Wir sind nicht direkt daran beteiligt, aber helfen manchmal, da Thrill Jockey nur von zwei Personen betrieben wird."

Ist es in den Staaten nicht oft so, daß man mit einem kleinen Label Schwierigkeiten hat, seine Platten in die großen Läden zu bekommen?

"Im allgemeinen stimmt das schon", bestätigt Doug, "aber Thrill Jockey hat damit keine Probleme, da es einen guten Vertrieb hat. Deshalb kannst du TORTOISE-Platten in den meisten Plattenläden größerer Ketten finden, wenn auch nicht überall."

Musikalisch stehen TORTOISE schon deshalb als mittelgroßes Phänomen da, weil sie eine rein instrumantale Band sind, und, mal ehrlich, wer mag eigentlich wirklich Musik so ganz ohne Gesang? Aber vielleicht haben sich ja, ausgelöst durch die Sprachlosigkeit eher funktional ausgerichteter Musik wie Techno, die Hörgewohnheiten verändert. Trotzdem bleibt Instrumentalmusik in der Regel aber eine Form kommerziellen Selbstmords, denn wie banal sie auch immer sein mögen, das Volk will Botschaften.

"Ob wir Texte haben oder nicht", widerspricht mir Doug, "ist, denke ich, nicht das Problem. Die Kommunikation ist trotzdem dieselbe, da wir mit denselben Ideen und Emotionen arbeiten wie die meisten Bands, die Texte besitzen."

"Ich glaube nicht, daß wir daran interessiert sind, irgendwelche Aussagen zu machen", ergänzt John, "weder über die Musik noch über Texte. Nicht, daß wir völlig unpolitisch wären, aber unsere Musik erscheint uns nicht als das richtige Form dafür."

Trotzdem lassen sich auf den ersten Veröffentlichungen, darunter eine Art Dub-Country-Version des FREAKWATER-Songs "Lonesome Sound", noch Vocals finden.

"Es kamen '93 zwei Singles gleichzeitig heraus: "Lonesome Sound" und "Mosquito"", klärt mich Doug auf. "Es war nie eine wirkliche bewußte Entscheidung von uns, auf Vocals zu verzichten. Es ist auch nicht völlig auszuschließen, daß vielleicht wieder Vocals auf einer Platte erscheinen werden. Wenn wir Ideen dafür hätten, würden wir diese auch umsetzen. Streng betrachtet sind wir keine reine Instrumentalband, auch wenn die meisten unserer Sachen instrumental sind. Wir geben Texten nur keine Priorität, weil wir in erster Linie Instrumentalisten sind und nicht Lyriker."

Die ersten Veröffentlichungen lassen sich also auf das Jahr 1993 datieren, aber wo liegen denn die eigentlichen Ursprünge dieser Band?

"TORTOISE entstand in einer bestimmten Phase meines Lebens", erzählt Doug, "als ich mich entschied, auch mal mit Leuten außerhalb von 11TH DREAM DAY zu spielen. Das war 1990 und hatte viel mit meiner Freundschaft mit unserem anderen Drummer John Herndon zu tun. Danach kamen erst die anderen Leute hinzu. TORTOISE entwickelten sich aus dem gegenseitigen Respekt der Leute gegenüber ihren ganz unterschiedlichen musikalischen Vorstellungen. Nach einiger Zeit merkten wir, daß darin ein großes Potential steckte. Es machte uns glücklich, weil wir viel Raum hatten, unserer Ideen auszudrücken. Am Anfang betrachtete es niemand als feste Band, aber sobald wir merkten, daß es ganz gut lief, mußten wir uns über unsere Absichten klarer werden."

TORTOISE mögen inzwischen eine feste Band sein, aber ihre Idee lassen sich nur vage durch Schlagworte festhalten, die im selben Moment schon wieder überholt sein können. Die Band bricht extrem mit musikalischen Traditionen und schafft dadurch neue Sinneinheiten. Wie sieht denn die Selbsteinschätzung der Produzenten diesbezüglich aus?

"Du könntest von mir aus TORTOISE als Soundtrack oder Avantgarde-Indierock bezeichnen", wehrt sich Doug gegen eine genaue Festlegung, "aber gleichzeitig könntest du auch zehntausend andere Bezugspunkte nennen. Bei TORTOISE sollte klar sein, daß wir an sehr unterschiedlichen Stilen interessiert sind und deshalb wollen wir es lieber undefiniert lassen. Es ist schwierig, es genauer festzulegen, aber ich möchte auch nicht zu den Leuten gehören, die sich ständig beklagen: "Ich habe es satt, in Schubladen gesteckt zu werden." Ich bin mir klar darüber, daß viele Leute solche Kategorisierungen brauchen.

Wichtig an TORTOISE ist, daß wir alles möglichst offen halten, damit wir uns musikalisch nicht einzuschränken brauchen. Außerdem sind die Dinge, die uns inspirieren, nicht nur musikalischer Art. Man kommt dabei in seltsame Bereiche: du erwähnst den Leuten gegenüber eine bestimmte Sache und wirst danach ständig darauf festgenagelt."

"Unsere Einflüsse kommen von überall", ergänzt John, "und deshalb ist es schwer uns zu definieren, da wir uns jeden Moment wieder veränderen können. Wenn wir einen musikalischen Wandel vollziehen, wollen wir nicht zeigen, wie clever wir sind, sondern es passiert einfach. Was uns z.B. mit CAN verbindet, ist nicht daß ich TORTOISE damit vergleichen wollte, sondern der Wille msuiskalisches Neuland zu betreten. CAN haben versucht, die Band immer weiter voranzutreiben, egal welche Ebene sie gerade erreicht hatten. Klar, es könnte natürlich auch passieren, daß wir glauben, einen großen Fortschritt gemacht zu haben, und jemand anders hält es für einen Rückschritt: "Oh, TORTOISE is really fucked up this time." Du hälst es für eine große Errungenschaft, weißt aber dabei nie, was andere Leute davon halten."

Auf dem Cover der Februar-Ausgabe der SPEX war in Bezug zu TORTOISE fett das Wörtchen "Zukunftsmusik" zu lesen. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Band trotz ihrer integrativen Energie, mit der sie unterschiedlichste Stile zusammenlaufen läßt, wirklich etwas völlig Neues geschaffen hat.

"Alles ist immer eine Neuinterpretation von etwas, was davor schon mal passiert ist", erwidert Doug meine Frage. "Wer hat denn schon wirklich etwas Neues entwickelt? Als ein Höhlenmensch einen spitzen Stock benutzte, um einen Löwen abzustechen, und danach jemand mit einem noch längeren Stock kam, hat dieser Typ dann nur den anderen kopiert oder etwas Neues entwickelt? Die meisten Dinge im Leben sind eine Fortsetzung bestimmter Erfahrungen."

Und wie werden diese Ideen fortgesetzt? Basiert die Arbeitsweise von TORTOISE eher auf Konstruktion oder Destruktion?

"Es ist beides gleichzeitig", meint John. "In der Band haben wir immer die Tendenz, bestimmte Dinge in unterschiedliche Teil zu zerlegen. Das impliziert aber auch den Prozeß der Neukonstruktion. Bei uns gibt es keine bestimmten Prozesse, um Songs zu entwickeln. Sie entstehen auch nicht aus chaotischen Zuständen. Manchmal haben wir klassische Songstrukturen, aus denen sich etwas entwickeltt, und manchmal haben wir nur eine kleine Idee, auf der wir dann aufbauen. Das kann erst während der Aufnahme, aber auch schon vorher passieren. Das hängt von der bestimmten Idee ab und davon, wieviel Material da ist."

Ein weiteres Element des vres dieser Band ist eine kultivierte und kulminierte Schizophrenie, die sich aus der Vorgeschichte der Bandmitglieder ergibt. Doug McComb spielt bei 11TH DAY DREAM, während John McEntire früher bei BASTRO war und im Moment noch bei THE SEA & CAKE trommelt, ab und zu auch bei GASTR DEL SOL. Ferner sind noch John Herndon (FOR CARNATION, PRECIOUS WAX DRIPPINGS), Dan Bitney (TAR BABIES) und David Pajo (SLINT), der Bundy K. Brown (GASTR DEL SOL) ersetzte, zu verzeichnen. Natürlich könnte man all diese Bands nehmen und addieren, aber dabei kommt noch lange nicht TORTOISE heraus.

"Ich glaube, daß man bestimmte Elemente all dieser Bands bei TORTOISE wiederfinden kann", behauptet Doug. "Nur die Chemie ist bei uns eine andere. Bevor es TORTOISE gab, hat keiner von uns fünf je miteinander gespielt. Was uns alle sofort miteinander verband, war aber der Gedanke, anders sein zu wollen, da wir unsere Ideen im Kontext der anderen Bands nicht umsetzen konnten. Aber auch das war nicht in irgendeiner Weise geplant, sondern passierte ganz spontan. Was ich bei TORTOISE gelernt habe, fließt wiederum bei 11TH DREAM DAY ein. Es funktioniert offensichtlich in beide Richtungen."

"Das ist vollkommen richtig", stimmt John zu. "Jeder Musiker befindet sich auf einer Art Leiter bzw. in einem Zustand der Entwicklung, in dem sich sein Weg mit dem anderer kreuzt, was auch bei TORTOISE passierte. Wenn wir uns vor zehn Jahren getroffen hätten, würden wir völlig anders klingen. Das alles hat deshalb nichts mit einem bestimmten Motiv zu tun, sondern ist abhängig von den Umständen und davon, wer wir in diesem Moment sind."

Momentan steht Chicago, bedingt auch durch den Erfolg von TORTOISE, wieder verstärkt im öffentlichen Interesse. Besteht da die Gefahr, daß irgendjemand mal wieder versucht, ein zweites Seattle zu produzieren?

"Natürlich passieren im Moment viele gute Sachen in Chicago", erläutert Doug recht nüchtern, "aber eigentlich war das auch schon vorher so, auf jeden Fall seit ich da lebe, und das sind schon 15 Jahre. Es gab in Chicago schon vorher jede Menge guter Bands, etwa BIG BLACK, NAKED RAYGUN und die EFFIGIGIES. Die Presse versuchte durch diese und noch ein paar andere Bands einen speziellen Chicago-Sound herbeizureden, aber eigentlich hatten diese Bands höchstens marginale Gemeinsamkeiten. Mit TORTOISE ist es ähnlich, da wir mit Bands in Zusammenhang gebracht werden, die einen ganz anderen musikalischen Ansatz haben. Die Gemeinsamkeiten liegen dabei hauptsächlich in unseren Erfahrungen und unserem sozialen Umfeld. Die Presse ist deshalb wenig erfolgreich, die Musikszene in Chicago zu hypen. Das ist gut, weil sie es schon mehrere Male versucht haben, aber es gibt kein großes einheitliches Ding in Chicago. Das grundsätzliche Problem an der Presse ist, daß sie nicht an der Wahrheit sondern an einer erfundenen Realität interessiert sind."

"Schau dir Albini an", erklärt John, "der ist schon ewig als Produzent tätig. Es gab also immer schon Gründe, auf Albini aufmerksam zu werden, aber plötzlich, seit eineinhalb Jahren, wird er mit Tonnen von Artikeln überschüttet. Das passierte erst, nachdem er wirklich große Sachen gemacht hatte. Was die Chicago-Szene betrifft, so war es für die Presse einfacher, über Seattle zu schreiben, weil die Bands dort stilistisch mehr miteinander zu hatten, ähnlich wie in Minneapolis Mitte der 80er. In Chicago gab es dagegen schon immmer ein großes Feld sehr unterschiedlicher Bands, und insofern ist schwer festzumachen, was hier gerade konkret irgendwo passiert."

Also stolpert man in Chicago derzeit nicht in jedem Club und jdem Proberaum über dämliche Talentscouts der Majors, die auf das nächste große Ding hoffen?

Doug:"Nein, und das muß man auch voneinander trennen, da die Bands, mit denen wir zu tun haben, nie die waren, die irgendwelche Major-Companies unter Vertrag nehmen wollten. Mir sind solche Bands auch ziemlich scheißegal."

Doug besitzt als Bassist von 11TH DREAM DAY in bezug auf Majors einschlägige Erfahrungen. Was wäre, um das berühmte Gedankenspiel fortzusetzen, wenn ein Major TORTOISE unter Vertrag nehmen wollte?

Doug: "Ich wäre dagegen, und außerdem habe ich mit TORTOISE auf Thrill Jockey mehr Geld gemacht, als mit 11TH DREAM DAY auf Atlantic. Ich mißtraue den Motiven der Majors. Manche mögen gute Absichten haben, aber die habe ich bisher noch nicht kennengelernt. Die Frau, die Thrill Jockey betreibt, signte damals übrigens 11TH DREAM DAY für Atlantic. Ihre Erfahrungen mit Majors widerten sie schließlich so an, daß sie nichts mehr mit Atlantic zu tun haben wollte und ihr eigenes Label gründete. So konnte sie Bands in einer ihnen angemessenen Form behandeln, nämlich fair und ehrlich. Aber letztendlich muß jeder wissen, was er für richtig hält. Ich arbeite seit Jahren für Touch & Go und kann mir nicht vorstellen, wieso eine Band, die auf Touch & Go ist, dort nicht bleiben will, wie z.B. JESUS LIZARD und GIRLS AGAINST BOYS. Naja, ich kenne die Leute von JESUS LIZARD recht gut und glaube, daß sie sich der Konsequenzen ihrer Entscheidung bewußt sind und Möglichkeiten gefunden haben, sich zu schützen. Aber vielleicht werden sie dennoch übers Ohr gehauen, wer weiß."