TAGTRAUM aus Schweinfurt feierten Weihnachten 2003 ihren 11. Geburtstag und dürften dadurch zu den dienstältesten und noch immer relevantesten Bands aus Süddeutschland gehören. Faszinierend an TAGTRAUM ist die absolute Hingabe mancher ihrer „Fans“, obwohl sie von den Leuten an den Schalthebeln unserer Szene immer konsequent ignoriert und/oder missverstanden wurden. Das Etikett „Deutschpunk“ haftet ihnen erstaunlicherweise noch immer an, wobei TAGTRAUM diesem Klischee niemals entsprachen – mal abgesehen von ihren deutschsprachigen Texten. Stattdessen kann man deutliche amerikanische Einflüsse in der Musik erkennen - das neue Album „Komm lass es echt sein“ dürfte von Bands wie WAXWING, ALKALINE TRIO oder auch AT THE DRIVE-IN mehr beeinflusst sein, als von den üblichen Vergleichen KETTCAR oder MUFF POTTER. Ein klärendes Gespräch mit Matze Nürnberger, dem Sänger, Gitarrist und oft Cheforganisator der Band.
Ihr habt im Dezember 2002 euer 10-jähriges Bandjubiläum gefeiert. Was war zu Beginn die Motivation und der Antrieb, TAGTRAUM zu gründen?
„Wir waren Musik begeisterte Punkrock-Teenager, die sich nichts Besseres vorstellen konnten, als eigene Lieder zu machen, sie zu spielen, unserer scheiß Stadt Schweinfurt den Rücken zu kehren, Platten aufzunehmen und zu touren, und überall neue Menschen kennen zu lernen, etwas zu teilen, Musik, Gefühle und Ideen.“
Und heute?
„Ersetz einfach Teenager durch Twen ...“
Ihr seid ja eine Band, und das beeindruckt mich immer wieder, die sich eine ansehnliche Anhängerschaft erspielt hat. Ohne größere Unterstützung von Szene-Medien und großen Magazinen. Warum werdet ihr von denen relativ ignoriert? Und wie erfährt der TAGTRAUM-Freund Neues über euch?
„Warum wir in den Musikmedien mehr oder weniger ignoriert werden, weiß ich selber nicht genau, es gibt da einige Theorien. Zum einen vielleicht deswegen, weil wir uns um die ganze gegenseitige Arschkriecherei in der Szene nie sonderlich gekümmert haben, so dass wir niemandem was schuldig sind, aber uns auch niemand. Zum anderen vielleicht, weil wir durch stumpfes Schubladendenken mit unserer Band bei den Magazinen in einer ganz anderen Ecke gelandet sind – und ja leider noch immer landen –, wo wir uns selbst aber gar nicht sehen. Früher waren es ...BUT ALIVE und BOXHAMSTERS, heute sind es KETTCAR und MUFF POTTER, aber das Einzige, was uns mit diesen Bands verbindet, sind die deutschen Texte. Leider scheinen einige Magazine keine Zeit mehr zu haben, sich länger mit den Platten zu befassen, die sie bekommen. Aber wir können uns eigentlich nicht beschweren, unsere Konzerte sind fast immer voll, wir verkaufen genug Platten und sind eigentlich sehr glücklich mit unserer Situation. Nur würde ich mir manchmal ein bisschen mehr gegenseitigen Respekt oder offenere Ohren wünschen. Wie der TAGTRAUM-Freund von unseren Aktivitäten erfährt? Ganz einfach, wir haben uns das Internet zu Nutze gemacht, unsere Homepage ist Dreh- und Angelpunkt unseres Schaffens. Wir halten Kontakt zu allen, die uns schreiben, und haben uns so ein ziemlich großes Netzwerk geschaffen, das mehr als gut funktioniert. Sicher sind noch ein paar Lücken auf der Karte vorhanden, aber die schließen sich nach und nach.“
Eure musikalische Entwicklung war zwar weniger radikal als bei anderen Bands, dafür aber kontinuierlich. Mit dem neuen Album habt ihr endgültig ein Level erreicht, das mit den Vorgänger-Alben ja nicht mehr viel gemein hat. Ist das noch die gleiche Band, oder hattet ihr nicht mal das Bedürfnis, mit neuem Namen noch mal ganz von vorne anzufangen? Würden die Leute vielleicht anders, unvoreingenommen und positiver auf euch reagieren?
„Die Frage hatten wir uns tatsächlich schon häufiger gestellt, als wir die Lieder zur neuen Platte gemacht haben, und vor allem, als wir das fertige Resultat in den Händen hielten, denn für uns war diese Platte ein sehr großer Schritt nach vorn, musikalisch wie auch arbeitstechnisch. Letztendlich haben wir uns aber doch dazu entschieden, die Platte unter dem Namen TAGTRAUM zu veröffentlichen, weil wir eben TAGTRAUM sind, und auch schon mit jeder Platte eine Veränderung mitgebracht haben. Und der Titel ‚Komm lass es echt sein‘ spricht ja in diesem Kontext auch für sich, auch wenn hier diese Zweideutigkeit vorhanden ist. Für mich heißt das Album so, weil wir immer das gemacht haben, was uns richtig erschien, ohne dazu den Namen zu ändern, wie so viele andere Bands. Das ist auch irgendwie so ein Phänomen unserer Zeit, dieses Wegwerfding, wenn etwas nicht mehr aktuell ist oder nicht mehr funktioniert, wird es weggeworfen und vergessen. Wir sind dann eher die Bastler, die zu schätzen wissen, was sie da haben. Wir nehmen lieber alles mit und bauen um, verändern und erfreuen uns daran. Der Name bleibt, weil wir doch im Grunde noch immer die gleiche Intention haben, wir sind immer noch die von Musik begeisterten Punkrock-Twens, die sich nichts Besseres vorstellen können.“
Im Booklet der neuen CD gibt es eine Zeichnung von einem Menschen, der in der Ecke eines Raumes sitzt. Wird man für so ein Gefühl nicht irgendwann zu alt? Dieses Gefühl von „Unverstandensein“, diese „Teenagerangst“?
„Das Gefühl des ‚Unverstandensein‘ loswerden?! Nee, ich glaube nicht, man verdrängt das vielleicht besser, wenn man älter wird, oder man vergisst es vielleicht auch, weil auch weniger Zeit bleibt, sich mit gewissen Sachen auseinanderzusetzen. Es ist ja auch nicht so, dass ich mich immer unverstanden fühle, ich habe Freunde, meine Freundin und meinen Sohn. Im Großen und Ganzen aber bleibt in Sachen Verstehen und Verstandenwerden sicher etwas auf der Strecke. Ist die Angst vor dem Alleinsein eine reine ‚Teenagerangst‘? Ich glaube nicht, dass so was altersabhängig ist, das betrifft jeden, und in einer Gesellschaft, die immer autistischere Züge annimmt, ist das wohl ein präsentes Thema, vielleicht auch die Ursache für alles.“
Lass uns doch mal über eure Texte reden. Die sind ja oft der Hauptgrund, eure Band zu mögen – oder zu hassen. Das pendelt von Extremen wie „Du verstehst als Einziger, was ich meine“ bis zu Verrissen wie „Gymnasiastenlyrik“. Wie geht man denn mit der Art von Lob bzw. Kritik um?
„Meine Texte sind sehr persönlich, und von daher sicher nicht für jeden etwas. Dieses Extrem, dass die Texte total verkultet oder auch gnadenlos verrissen werden, beschäftigt mich schon sehr. Das Verkulten macht mir manchmal Angst, aber meistens macht es einfach nur glücklich, andere Menschen mit der eigenen Musik und den eigenen Texten eine Freude zu machen, vielleicht sogar zu helfen und so neue Freunde zu gewinnen, etwas zu teilen. Über die Verrisse ärgert man sich natürlich erst, ist enttäuscht, aber dann, wenn die Platte ein paar Wochen oder Monate draußen ist, und die Resonanz im Grunde mehr als positiv ist, überwiegt der Stolz, dass es eben auch ohne die ganze Medienpräsenz geht.“
Das „Staub fressen, hinfallen und wieder aufstehen“ ist ja auch ein immer wiederkehrendes Bild in deinen Texten. Was bedeutet das für dich? Was ist für dich Misserfolg?
„Beim ‚Couchlied‘ meine ich damit die allgemeinen Rückschläge und Stolperfallen im Leben, man fliegt ständig auf die Schnauze, egal, wie sehr man sich anstrengt, aber das Wiederaufstehen ist wichtig. Bei ‚Ak(k)u‘ meine ich die persönlichen Tiefschläge, die wir zum Einen als Band hinnehmen mussten und müssen, wie zum Beispiel die ignorante Medienwelt und das ignorante Publikum, aber auch das, was man zwischenmenschlich schon so alles einstecken musste.“
Was inspiriert TAGTRAUM denn musikalisch? Ich höre, was Rhythmik und Energie angeht, auf der neuen Platte eher AT THE DRIVE-IN und und ALKALINE TRIO heraus. Sind das die Sachen, die euch auch wirklich beeinflusst haben?
„Was mich betrifft, sicher die von dir genannten Bands, aber in letzter Zeit höre ich fast nur WAXWING, aber auch sehr viel CARDIGANS und so hippe Songwritersachen wie Rocky Votolato und BRIGHT EYES, viele ruhige Sachen eben. Deswegen ist die Platte im Großen und Ganzen wohl auch ein bisschen ruhiger ausgefallen. Bei Jörg kommen noch eine ganze Menge andere Einflüsse dazu, Jazz, Funk, abgefahrene Avantgarde-Musik, und bei Tobi ist das genauso, der hört und macht zur Zeit auch wahnsinnig viel mit elektronischer Musik, wie zum Beispiel den TAGTRAUM-Remix-Song für die ‚Im Dunkeln‘-Compilation.“
Eure Platte endet mit dem wunderschönen Lied „Ak(k)u“ mit Cello und Kontrabass sehr ruhig. Du und Tobi seid bei den Release-Partys zur „Im Dunkeln“-Compilation ja auch erstmals halbakustisch aufgetreten. Ist das die neue musikalische Ausrichtung, die man in Zukunft von TAGTRAUM verstärkt erwarten kann?
„Wir hatten schon häufiger über eine Akustikplatte von TAGTRAUM gesprochen, aber das ist immer aus zeitlichen Gründen gescheitert. Wir werden sicher mit TAGTRAUM mal was in der Richtung machen, eine Single oder vielleicht auch ein ganzes Album. Sicher ist, dass ich durch die positiven Reaktionen auf die beiden Akustikkonzerte zusammen mit Tobi im Dezember genug Mut geschöpft habe, um eine Soloscheibe zu machen. Ich bin mir nur noch nicht sicher, ob ich das ganz alleine machen werde, oder ob ich mir verschiedene Gastmusiker dazu einladen werde.“
Wie sieht momentan dein normaler Tag aus? Neben der Band betreibst du ja ein Label, kümmerst dich um den TAGTRAUM-Mailorder und das Booking. Wie verdienst du deinen Lebensunterhalt, und wo bleibt für dich die Zeit zu atmen?
„Ich mache mein Studium ‚Sozialwesen‘ fertig, jobbe im Theater als Bühnentechniker und beziehe BAföG. Neben Tagtraum und dem Studium verbringe ich die meiste Zeit mit meiner Familie.“
Du lebst ja immer noch in Schweinfurt, einem kleines Städtchen am Rande von Bayern. Warum immer noch? Warum bist du noch nicht in eine der sogenannten Metropolen abgewandert?
„Ich wollte immer weg, und ich komme zeitweise immer durch die Touren weg. Komme aber auch immer wieder gerne nach Hause zurück, Widersprüche reizen eben. Die meisten meiner Freunde wohnen in Hamburg, Berlin oder Köln, das wäre ein Grund, weg zu gehen. Aber die ganzen großen Städte sind auch nicht so toll, ich wäre da schnell bettelarm, weil ich jeden Tag auf Konzerte gehen würde. Es geht alles so schnell, man muss ständig up to date sein und in die trendigsten Läden gehen, um dran zu bleiben. Ich fände das nach einer gewissen Zeit ziemlich scheiße, glaube ich, und hier habe ich eine kleine Oase in unserer WG-Kommune, mein Sohn Milo muss nicht zwischen noch mehr Beton und Scheiße aufwachsen, und es gibt den Stadtbahnhof und ein paar sehr gute Menschen, die diese Stadt besser machen.“
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