Die gute Nachricht: SUICIDAL TENDENCIES haben ein neues Album am Start. Die schlechte: Die Welt, in der die elf Songs veröffentlicht werden, wird immer verrückter. Frontmann Mike Muir, der Mann mit dem stilprägenden Bandana-Kopftuch, hat als einzig verbliebenes Gründungsmitglied eine völlig neue Band zusammengestellt und mit „World Gone Mad“ Album Nummer 13 eingespielt. Prominent ist vor allem der neue Mann am Schlagzeug, Dave Lombardo, der mit SLAYER Thrash-Metal-Geschichte geschrieben hat, bevor er vor drei Jahren gefeuert wurde. Für SUICIDAL TENDENCIES ein Glücksfall.
Mike, wie kam es, dass Dave Lombardo jetzt bei SUICIDAL TENDENCIES hinter dem Schlagzeug sitzt?
Das ist ziemlich cool. Wir hatten immer ziemlich viel Glück mit unseren Schlagzeugern. Zum Beispiel Josh Freese, der auch schon auf hunderten Studioalben mitgewirkt und unter anderem bei THE VANDALS, A PERFECT CIRCLE und DEVO getrommelt hat. Er war auch bei INFECTIOUS GROOVES dabei, da war er gerade mal zwanzig Jahre alt. Dann hatten wir Brooks Wackerman, der war 16, als er bei INFECTIOUS GROOVES einstieg. Inzwischen spielt er bei AVENGED SEVENFOLD, war aber auch lange bei BAD RELIGION. Wir hatten also oft sehr junge, hungrige Leute am Schlagzeug. Dave ist jetzt unser erster Drummer, der schon berühmt ist. Ich fand schon immer, dass er ein toller Schlagzeuger ist. Ich hatte ihn bereits live gesehen, noch bevor das erste SLAYER-Album herauskam. Und dann waren wir 1990/91 mit SLAYER auf der „Clash Of The Titans“-Tour in Europa und ich konnte ihm jeden Abend zuschauen. Da habe ich mich in seine Art Schlagzeug zu spielen verliebt. Und nach mehr als zwanzig Jahren habe ich ihn einfach gefragt, ob er nicht Lust hätte, die anstehende Tour mit SUICIDAL TENDENCIES zu spielen. Und er hat sofort zugesagt.
Ist Dave Lombardo jetzt ein vollwertiges Bandmitglied oder nur ein Gastmusiker?
Er hat eine Menge Konzerte mit uns gespielt und ist auch auf der Platte zu hören. Alle sind ziemlich glücklich mit der Situation gerade. Für mich ist es so ziemlich das erste Mal, dass ich wirklich glücklich bin in der Band. Ich bin nur von guten Leuten umgeben. Unsere Konzerte laufen großartig. Wir haben Anfang Juli als Headliner beim Rock al Parque Festival in Bogotá in Kolumbien vor 85.000 Leuten gespielt. Das war Wahnsinn! Es gibt doch nichts Besseres im Leben, als glücklich zu sein.
Dave hat beim Riot Fest in Denver mit MISFITS gespielt, zum ersten Mal seit mehr als dreißig Jahren mit Glenn Danzig, Doyle Wolfgang von Frankenstein und Jerry Only auf einer Bühne. Was sagst du dazu?
Das ist doch großartig für Dave. Die MISFITS sind eine legendäre Band. Viele Leute wissen einfach nicht, dass Dave die Intensität, für die er bei SLAYER bekannt war, auf jede Musikrichtung übertragen kann. Er kann jeden Stil spielen und jeder Musik seinen Stempel aufdrücken. Ich denke also, sie haben wohl viel besser geklungen als mit jedem anderen Drummer. Ein gute Wahl!
Neben Dave gibt es noch zwei weitere neue Leute bei SUICIDAL TENDENCIES: Bassist Ra Diaz und Gitarrist Jeff Pogan. Das ist ja fast wie eine komplett neue Band.
Definitiv. Es ist eine großartige Chance, ein neues Album aufzunehmen und gleichzeitig drei neue Leute zu integrieren. Wir haben alle aus der Vergangenheit gelernt und wissen, worum es geht. Sogar Dave, der ein sehr berühmter Schlagzeuger ist, kennt das Erbe von SUICIDAL TENDENCIES und weiß es zu schätzen. Unser Bassist Ra wurde in Chile geboren und Suicidal war schon immer seine Lieblingsband. Es war sein Traum, eines Tages dabei sein zu dürfen, und jetzt ist er wahr geworden. Wir haben in Chile gespielt und seine ganze Familie kam vorbei, das war großartig. Eine Menge Leute haben Träume, aber sie arbeiten nicht so hart daran wie Ra, dass sie verwirklicht werden. Unser neuer Gitarrist Jeff ist mit 23 Jahren der Jüngste in der Band. Als unsere erste Platte herauskam, war er noch nicht mal geboren. Aber er war mit uns als Roadie unterwegs und hat sofort verstanden, worum es bei uns geht. Wir wollen jeden Abend rausgehen und beweisen, dass wir eine großartige Band sind.
Kannst du dich noch an jeden Musiker erinnern, der mal bei SUICIDAL TENDENCIES gespielt hat? Das sind ja inzwischen eine ganze Menge.
Ich bin nicht so oft im Internet, da gibt es aber so eine Liste mit Namen, von denen ich noch nie gehört habe. Ich weiß aber, dass viele Leute, die behaupten, bei SUICIDAL TENDENCIES gewesen zu sein, nie Bandmitglied waren.
Das neue Album „World Gone Mad“ beginnt sehr schnell und metallisch und es endet sehr soft mit einem Song, der von den RED HOT CHILI PEPPERS stammen könnte.
Es gibt Bands, die machen Balladen, um damit ins Radio zu kommen. „This world“ wird nie im Radio gespielt werden, da bin ich mir ziemlich sicher. Es ist ein sehr ehrlicher und wichtiger Song für mich, und ich hoffe, die Leute verstehen, was ich damit ausdrücken will. Der letzte Song auf den SUICIDAL TENDENCIES-Platten ist immer eine Art Statement. „This world“ ist völlig anders als der Rest der Platte. Mein Vater sagte immer: Der einzige Weg, anders zu sein, ist besser zu sein. Man kann die Leute mit lauten, harten Songs gut erreichen, es ist aber viel schwerer, das Publikum mit einem langsamen Song zu bewegen. Viele Leute sagen, „This world“ sei ein sehr trauriger Song. Aber in den meisten traurigen Songs gibt es einen Hoffnungsschimmer. Was gerade in der Welt passiert, ist ziemlich beschissen. Du kannst dich jetzt entweder hinsetzen und aufgeben, oder dir eine neue, gute Welt aufbauen.
Woran denkst du da konkret? Auch hinsichtlich des Albumtitels „World Gone Mad“?
Ich habe drei Jungs, mein ältester Sohn ist jetzt zwölf Jahre alt. Er fragt mich ständig: Dad, hast du das gesehen? Hast du das gelesen? Ich kann mich nicht erinnern, dass mir früher so viele Dinge so verrückt vorkamen wie jetzt. Wenn du dich mit Kumpels über solche Dinge unterhältst, ist das ganz anders als mit Kindern oder Teenagern. Das ist viel anstrengender. Es ist einfach, auf die Dinge zu schimpfen, die schiefgehen, weil es da draußen so viele Irre gibt. Aber zu einem gewissen Grad sind wir alle selbst dafür verantwortlich. Wir müssen uns mal darüber klar werden, wie unser eigener Beitrag zu dieser verrückten Welt aussieht. Und hoffentlich auch, wie wir eine Lösung finden. Wir haben nur eine Welt und sind gerade dabei, sie zu zerstören. So, wie wir jetzt denken, funktioniert das nicht. Stark vereinfacht dargestellt, muss sich etwas verändern, es ist Zeit für eine Neuorientierung und hoffentlich auch neue Köpfe in der Regierung. Jede Generation hat die erneut Möglichkeit, mit guten Ideen das Ruder herumzureißen. Darum geht es zum Beispiel im zweiten Song „The new degeneration“. Die Welt ist total abgefuckt, das ist deine Chance, die Kontrolle zu übernehmen. Lass dich nicht vom Geschwätz anderer Leute beeinflussen. Steh auf und sorge dafür, dass sich etwas ändert.
Dieser Optimismus ist typisch für SUICIDAL TENDENCIES. Es geht in den Songs immer darum, zu kämpfen und positive Impulse zu setzen. Was willst du deinem Publikum mitgeben?
Es ist viel einfacher, sich zu beschweren, weil alles scheiße ist. Alle trinken immer bloß Bier und unternehmen gar nichts. Wenn ich mich bei meinem Vater über irgendetwas beklagt habe, hat er immer gefragt: „Und was unternimmst du dagegen?“ Wenn ich dann gesagt habe, ich kann nichts machen, meinte er nur: „Dann bist du das Problem.“ Wenn du in einer miesen Situation bist, nimm sie an und mache sie besser. Jedem Unglück kann man zu etwas Positivem wenden. Fasse einen Plan, verändere Dinge und akzeptiere kein Schlamassel. Gib dich nie selbst auf. Ich habe wie gesagt drei Söhne und mache mir daher viele Gedanken über die Zukunft. Ich möchte meinen Kindern die Gelegenheit geben, die guten Seiten des Lebens kennen zu lernen. Deshalb habe ich auch den Song „Still dying to live“ geschrieben. Es mögen ja viele Menschen bereit sein, für etwas zu sterben. Ich finde, wir müssen ihnen viel mehr Gründe geben, für die es sich zu leben lohnt.
Ich kann kaum glauben, dass „World Gone Mad“ das erste SUICIDAL TENDENCIES-Album ist, dass einen „Parental Advisory“-Aufkleber bekommt. Stimmt das?
Ich wünschte, wir hätten diesen Aufkleber auch auf unseren anderen Platten gehabt. Haha! In meinen Augen ist das absolut lächerlich. Manche wollten mir ja erzählen, bei einer Platte ohne „Parental Advisory“-Sticker stimmt irgendwas nicht. Wir wollen einfach Musik machen, die für die Leute eine Aussage hat. Ich verstehe den Sinn dieses Aufklebers nicht.
In der Vergangenheit gab es bei euren Konzerten oft Probleme mit der Polizei. Ist das immer noch so?
Als unser letztes Album „13“ herauskam, haben wir eine große US-Tour gespielt. Und bestimmt ein Dutzend Cops kamen nach den Konzerten zu mir und haben mir ihre SUICIDAL TENDENCIES-Tattoos gezeigt. Das fand ich erstaunlich. Es gab immer eine Menge Ärger mit der Polizei. Aber wenn du dich mal mit ihnen unterhältst, sagen sie Sachen wie: Früher habe ich die Bullen gehasst und oft genug Schläge von ihnen kassiert, also bin ich schließlich selbst Polizist geworden, damit das aufhört. Und diese Einstellung respektiere ich.
Was geht gerade bei deinen anderen Projekten, INFECTIOUS GROOVES und CYCO MIKO?
Bei INFECTIOUS GROOVES passiert gerade nicht viel, weil Robert bei METALLICA sehr eingebunden ist. Und wir spielen ja mit SUICIDAL TENDENCIES eine Menge Konzerte zum neuen Album. Es haut also zeitmäßig gerade nicht hin. Ich würde aber gerne wieder was machen, es hat immer großen Spaß gemacht. Vor zwei Jahren haben wir zum Beispiel ein großartiges Konzert zum 50. Geburtstag des Whisky a Go Go in Los Angeles gespielt. Eine Menge Leute sind teilweise aus aller Welt angereist, um diese Show zu sehen. Wir würden gerne mehr Konzerte spielen, aber es ist schwierig, unsere Terminkalender zu synchronisieren. SUICIDAL TENDENCIES waren für mich immer die Hauptband und ich freue mich gerade sehr über die neue Platte und das neue Line-up. Daneben noch Zeit für die Familie und die Kinder zu finden, ist sowieso schon hart genug. Da muss man eben manchmal auf Sachen verzichten, die man gerne gemacht hätte.
Es stehen aktuell eine Menge Konzerte an, zusammen mit MEGADETH in den Staaten und im Januar die Resistance Tour in Deutschland, mit AGNOSTIC FRONT, MUNICIPAL WASTE und WALLS OF JERICHO. Wie hältst du das gesundheitlich durch? Du hast ja lange an deiner Rückenverletzung laboriert.
Ich hatte inzwischen drei Rückenoperationen, die letzte war 2005. Nach der letzten Operation dachte ich eigentlich: das war’s, ich habe die Botschaft verstanden. Zu dem Zeitpunkt lebte ich mit meiner Familie in Australien. 2007 haben mich dann die Promoter des Soundwave Festivals angesprochen, ob wir nicht auftreten wollen. Zu dieser Zeit war mein ältester Sohn gerade zwei Jahre alt und hatte mich noch nie auf einer Bühne gesehen. Also ging es weiter mit den Konzerten. Und zum Glück ist jetzt alles wieder okay. Es gibt für mich nur eine Art, mich auf der Bühne zu bewegen. Wenn das nicht möglich ist, lasse ich es. Ich werde mir nie eine Akustikgitarre schnappen und mich auf einen Barhocker setzen. Ich bin aber auch kein Märtyrer, ich werde sicher nicht meine Gesundheit riskieren, um auftreten zu können. Zum Glück gibt es aber momentan keine Probleme.
SUICIDAL TENDENCIES waren immer eine Band, die sich zwischen alle Stühle gesetzt hat. Für die Punk-Fans wart ihr zu metallisch, für die Metal-Fans zu punkig.
Als unsere erste Platte herauskam, fanden die Punks sie noch alle schrecklich. Jahre später ist sie plötzlich ein Punkrock-Klassiker. Vielen Leuten passt es einfach nicht, wenn du etwas anders machst. Aber sie müssen es ja nicht mögen, niemand zwingt sie dazu. Trotzdem wird unser Debütalbum immer noch von vielen Leuten gehört, obwohl es schon fast 35 Jahre alt ist. Das ist natürlich großartig. Es kommt auch immer wieder vor, dass uns Leute auf Festivals neu für sich entdecken. Doch letztendlich bin ich in der Hinsicht nicht besonders empfindlich – und ging es im Punkrock nicht sowieso immer darum, irgendetwas nicht zu mögen? Andererseits sind da auch jede Menge Leute, die es gerade schätzen, dass wir uns nicht einfach nur permanent wiederholt haben. Es wäre sicher leichter gewesen, hätten wir ausschließlich Punk- oder nur Thrash oder nur Hardcore-Platten rausgebracht. Wir machen aber nicht etwas, nur um anderen zu gefallen. Wir machen das, was uns selbst gefällt. Und mit etwas Glück haben unsere Fans ebenso viel Spaß daran wie wir. Es wird auch diesmal sicher wieder welche geben, die mit dem neuen Album nichts anfangen können, aber das ist okay. Für die gibt es jede Menge anderer Bands.
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