Stereo Total

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Musik ist unsere Freundin

Hätten sich im Winter 1992 Françoise Cactus (damals noch Mitglied der LOLITAS) und Brezel Göring (machte damals unter SIGMUND FREUD EXPERIENCE Musik) nicht getroffen, wäre im Frühjahr diesen Jahres nicht eines der besten deutschen Popalben herausgekommen, welches bei mir permanent im CD-Spieler läuft und mich zum Tanzen und Mitsingen animiert. Das erste Mal kam ich mit dem Duo in Berührung, als ich den Song „Dactylo Pop“ auf einem Musiksender sah und nicht wusste, ob ich es unter „verwirrende Scheiße, die intellektuell sein will“ oder „genial, innovative Popmusik, die ich aber scheiße finde, da ich ja Punk bin“ einordnen sollte. Na ja, ich hab mich dann nie wieder mit der Band beschäftigt, bis ich vor einigen Monaten ihre Seite im Internet besuchte und mir erst mal alle zum Download zur Verfügung gestellten Lieder runter lud. Begeisterung machte sich breit. Es war schräg, es war tanzbar und dann diese Stimme. Kurz darauf folgte das aktuelle Album „Do The Bambi“, das auf dem Münchener Label Disko B herauskam, die eher für Produktionen von Richard Bartz aka ACID SCOUT, Robert Görl (Ja, der von DAF) und DJ Hell bekannt sind. Erneute Begeisterung, beinahe sogar Hysterie, und ich sah mich gezwungen, den beiden ein paar Fragen zu schicken.

DIE GOLDENEN ZITRONEN, DAF, DJ Hell usw. sind Leute, die ursprünglich vom Punkrock kommen, inzwischen aber alle irgendwie mehr oder weniger elektronische Musik machen. Ist der Schritt von Punk zu Elektro eine logische Entwicklung?

Françoise:
„Das muss nicht immer so sein. Billy Idol macht jetzt Heavy Metal ... Aber mir schien diese Entwicklung logisch. Beiden Musikgenres liegt Minimalismus zugrunde. Hauptsache, niemals aufhören Musik zu machen.“
Brezel: „Ich weiß nicht, ob das eine zwangsläufig zum anderen führt, aber beide Stilrichtungen sind sehr archaisch.“

Was ist für euch der Unterschied zwischen Pop und Pop?

Françoise:
„Es gibt Mainstream-Pop, leicht verdaulich und ziemlich bourgeois, und Underground-Pop, das, was wir versuchen zu machen. Die Songstruktur ist immer noch da, man kann mitsingen, dennoch sind die Sounds abgefahrener und die Inhalte schräger, anarchistischer.“
Brezel: „Das eine ist das, was bei den anderen populär ist, das andere ist bei mir populär. Mehr kann ich nicht sagen, das ist rein subjektives Geschmacksempfinden, völlig unreflektiert und es ändert sich andauernd.“

Worin besteht eure Faszination für Kitsch?

Françoise:
„Kitsch verbinde ich mit Kindheit oder eher mit Kindlichkeit. Eine Art Unbeschwertheit, die es erlaubt, ziemlich flott und respektlos mit allerhand Musikeinflüssen zu spielen. Japanische Musiker haben mir den Weg dahin gezeigt.“

Kann Pop auch ohne das Thema „Liebe“ auskommen?

Françoise:
„Nein, undenkbar! Für ein oder zwei Lieder womöglich, aber nicht für ein ganzes Album. Liebe ist das Popthema Nummer Eins. Das ist auch das Thema, das uns alle hauptsächlich beschäftigt. Aber es muss nicht ‚L’amour à la papa‘ sein. Also sind alle möglichen Formen der Liebe interessant.“

Mögt ihr noch aggressive Musik? Und was hört ihr dann?

Françoise:
„Als Teenager habe ich nur Hardrock und Heavy Metal gehört. Jetzt sieht es etwas anders aus. Ich mag nicht unbedingt aggressive, aber sehr energische Musik, z. B. Detroit-Techno, Miami-Bass und hysterische Mädchenbands.“
Brezel: „Ich höre gerne alle Arten von Noise, Bruitage, SubLowFi und Garage-Musik. Allerdings ist die aggressivste Musik, die ich kenne, zeitgenössische Mainstream-Radiomusik, und die ist mir persönlich zu aggressiv.“

Wählt und begründet: TOCOTRONIC oder JEANSTEAM?

Françoise:
„Na, du hast ja Fragen! Ich kann mich gar nicht entscheiden. Mit beiden Bands bin ich befreundet und mag sie beide, allerdings aus ganz unterschiedlichen Gründen. TOCOTRONIC haben es drauf, einen bestimmten Zeitgeist zu transportieren, sie sind keine Machos, sondern sympathische, empfindliche Jungs. JEANSTEAM haben einen sehr eleganten Sound, sie sind charmant und verrückt. Interessant wäre ein Projekt, das die Lyrics von TOCOTRONIC und die Musik von JEANSTEAM zusammenbringen würde, ja, das wäre der Hammer!“
Brezel:„JEANSTEAM können im Garten umgraben, während mir TOCOTRONIC helfen, die Garage aufzuräumen.“

Schlummert in jedem Menschen ein Künstler?

Françoise:
„Ja, ich denke schon. ‚Kunst‘ im weitesten Sinne ... Jemand, der toll kocht, ist z. B. ein Künstler. Jedes Mal, wenn jemand versucht, durch sein Tun seine Persönlichkeit auszudrücken, und sich dabei konzentriert, ist er in meinem Auge ein Künstler. Aber auch alles zu verhunzen ist eine Kunst, wenn man es konsequent betreibt.“
Brezel: „Vielleicht, aber es ist eine unerträgliche Vorstellung, dass alle schlummernden Künstler aufwachen. Wie die Beuys-Klasse, in die jeder aufgenommen wurde, und die sich nach 20 Jahren wieder zu einer Gruppenausstellung getroffen haben. Die Entscheidung, jeden aufzunehmen, war richtig, weil durch dieses Auswahlkriterium auch nicht mehr gute oder schlechte Künstler ausgebildet wurden. Allerdings zeigte die Ausstellung, dass eben auf diese Weise auch nicht mehr gute oder schlechte Künstler ausgebildet wurden. Andererseits sind Bewegungen wie ‚geniale Dilettanten‘ schon ein Hinweis darauf, dass es nicht so wichtig ist, dass jeder Mensch Künstler sein muss, sondern dass es eher interessant ist, akademische Konzepte zu unterwandern.“

Was sollten Leute tun, die zwar kreative Ideen haben, allerdings kein musikalisches Talent besitzen?

Françoise:
„Was weiß ich? Malen? Fotografieren? Tanzen? Filme drehen? Unglaubliche Bands gründen?“
Brezel: „Ich glaube, jeder, der das Bedürfnis hat, sich musikalisch oder künstlerisch zu äußern, wird dies früher oder später tun. Raten oder helfen kann man dabei niemand.“

Kann man „Do The Bambi“ als eine Art Film-/Theater-Soundtrack-Compilation sehen? Schließlich sind Songs zu diversen Filmen/Stücken wie „Weekend“, „Cinemania“ und „Christiane F.“ enthalten, und auch eine Hommage an „Clockwork Orange“.

Françoise:
„Tatsächlich ist es so, dass viele Stücke etwas mit Kino zu tun haben. Auch Lieder, die nicht direkt zu irgendwelchen Filmen geschrieben wurden, erinnern an kurze Filmszenen. ‚Ich bin nackt‘ z. B., ist ein Dialog à la Truffaut. Es ist ein Lied über die süßen, dummen Gespräche, die Verliebte miteinander führen.“

Worin besteht für euch der Reiz, Musik für Filme zu schreiben?

Françoise:
„Ich habe eine sehr bildliche Fantasie. Wenn ich ein Lied schreibe, sehe ich sofort eine kleine Szene in einer bestimmten Umgebung, ich könnte sogar die Mädchen beschreiben, die sich in Ich-Form in meinen Liedern ausdrücken. Und ich bin Kino-Fan.“

Ihr habt den Song „Europa neurotisch“ und Françoise hat ein Hörbuch mit dem Namen „Neurosen zum Valentinstag“ herausgebracht. Welche Neurosen findet ihr besonders interessant?

Françoise:
„Die Neurosen, die ich interessant finde: Schizophrenie – ich liebe z. B. Unika Zürns Bücher über ihre eigene Krankheit –, Depression – als Krankheit des Jahrhunderts –, Kleptomanie – als eine ganz persönliche Art, gegen den Kapitalismus zu kämpfen –, Hysterie – als eine überdrehte Art, sich auszudrücken, Anorexie und Bulimie – als eine Reaktion auf den Druck, der von Mode und Medien auf alle Frauen ausgeübt wird –, Melancholie – als eine Art, die Poesie zu leben –, Erotomanie – als eine Art, den Sex zu sublimieren –, Nymphomanie – als eine Art ganz speziellen Feminismus. Aber eigentlich finde ich alle Neurosen interessant.“

Ihr seid gerade auf Europatour. Stellt ihr je nach Land euer Programm um?

Françoise:
„Ja, in jedem Land haben wir ein neues Programm. Wir singen mehr französische Songs in Frankreich, mehr englische in den USA usw. Aber nichtsdestotrotz singen wir immer ein paar deutsche Lieder. Deutsch ist in! Die Leute freuen sich, es klingt so exotisch in ihren Ohren.“