Seit zwei Jahren gehören SHAME zum heißen Scheiß. Als 2018 ihr Debütalbum „Songs Of Praise“ erschienen ist, wurden die Jungs aus dem Süden Londons in einem Atemzug mit Band wie IDLES aus Bristol oder FONTAINES D.C. aus Dublin genannt. Es folgten Unmengen Konzerte und das Problem, das alle hochgelobten Newcomer haben: Album Nummer zwei. Tatsächlich ist die Entstehungsgeschichte von „Drunk Tank Pink“ keine einfache. Sänger Charlie Steen erzählt uns, unter welchen schwierigen Bedingungen die elf neuen Songs entstanden sind.
Vor ziemlich genau zwei Jahren kam „Songs Of Praise“ heraus. Die Musikpresse war begeistert und es folgten 160 Konzerte weltweit, allein im Jahr 2018. Was passierte danach?
Als wir zurück in London waren, fühlten wir uns irgendwie rastlos. Wir waren so daran gewöhnt, ständig in Bewegung zu sein. Es war total schwierig, sich auf die neue Situation einzustellen. Diese Stille hat uns wirklich zu schaffen gemacht. Auf Tour kannst du dich immer irgendwie ablenken, in deinem Job dreht sich alles um Exzess und Party. Es war außerdem unser Debütalbum und unsere erste ausgiebige Zeit auf Tour. Als wir zurückgekommen sind, mussten wir erst lernen, die Band, die Konzerte und alles, was dazugehört, von unseren eigenen Identitäten zu trennen. Was sind SHAME und was ist Charlie? Plötzlich waren alle zu Hause in London in ihren Wohnungen und hatten drei Monate Zeit zu chillen. Am Anfang habe ich auch viel Party gemacht, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass es nicht gut ist, nicht zu schlafen. Deshalb habe ich dann Fieberträume bekommen. Auf „Drunk Tank Pink“ geht es darum, mit sich selbst klarzukommen und seine eigene Gesellschaft zu genießen. Ich musste auf Tour auch eine Trennung verschmerzen und habe das immer von mir weggeschoben. Plötzlich war ich alleine in meinem Schlafzimmer und musste mich damit auseinandersetzen.
Wann habt ihr eure letzten Konzerte gespielt und wie lange hat diese Phase des Ankommens gedauert?
Anfang 2019 haben wir uns eine ausgedehnte Konzertpause genommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir zwei komplette Jahre fast durchgehend gespielt. Allein 2017 waren es 47 Sommerfestivals. Ende Februar 2019 haben wir angefangen, neue Songs zu schreiben. Im Laufe des Jahres konnten wir dann noch jede Menge tolle Konzerte spielen. Wir waren in Brasilien und Island unterwegs oder haben beim Fuji Rock Festival in Japan gespielt. In der Silvesternacht haben wir eine Show in Chicago absolviert, sind direkt nach unserer Rückkehr mit James Ford in die La Frette Studios in der Nähe von Paris gegangen und haben „Drunk Tank Pink“ aufgenommen. Dann hatten wir ein bisschen Zeit zum Chillen und ich habe meine Ex-Freundin in Edinburgh besucht. Im März 2020 mussten dann alle wegen Corona in den Lockdown. Ich bin froh, dass wir alles noch rechtzeitig vorher geschafft haben und das Album jetzt herausbringen können. Irgendwie passen die Songs inhaltlich ziemlich gut zu dem, was die Menschen 2020 durchmachen müssen. Isolation, der Zwang, sich mit sich selbst zu beschäftigen, jede Menge Zeit alleine zu verbringen und zu reflektieren.
Angeblich hast du die Texte in einem begehbaren Kleiderschrank geschrieben. Wie kann ich mir das vorstellen?
Das stimmt. Dort habe ich alles pink gestaltet. Tapete, Decke, Teppich, alles pink. Diesen Ort habe ich dann „Die Gebärmutter“ getauft. Alles ziemlich spartanisch. Ein Einzelbett, ein Bücherregal und eben dieser Schrank.
Kommt daher auch der Albumtitel „Drunk Tank Pink“?
Nein, der Name hängt mit dem amerikanischen Drogenkrieg in den Sechzigern zusammen. Die US-Regierung hat nach einer Lösung im Kampf gegen die wachsende Gewalt und Kriminalität gesucht. Deshalb haben sie alle möglichen Sozialwissenschaftler und Psychologen zusammengerufen, um gemeinsam etwas zu finden. Ende der Sechziger hat dann ein Mann namens Alexander Schauss vom Institut für Biosoziale Forschung in einer Marine-Strafvollzugsanstalt in Seattle einen Pinkton entwickelt, der gewalttätiges oder aggressives Verhalten reduzieren kann. Und diesen Farbton nannte er Baker-Miller-Pink, nach den Leitern der Anstalt. Sie haben dort alle Räume mit dieser Farbe gestrichen und die Gewalt ist drastisch zurückgegangen. Bis dahin hatten sie jedes Jahr fast tausend gewalttätige Auseinandersetzungen, im Jahr danach gerade mal vier. Daraufhin haben sie Stadien, Gefängnisse, Schulen und Ausnüchterungszellen damit gestrichen. Deshalb also „Drunk Tank Pink“. Ich hatte exakt dieses Pink für mein Schlafzimmer verwendet, ohne es zu wissen. Die ganze Geschichte habe ich erst erfahren, als alle Songs aufgenommen waren. In vielen Songs geht es ja um die Konfrontation mit Wut und Frust, um eine Art von Gelassenheit zu erreichen. Das passt also.
Mit eurem zweiten Album hat sich auch der Sound von SHAME verändert. Zu dem typischen Post-Punk sind noch andere Elemente dazugekommen, die man eher bei Bands wie TALKING HEADS oder TALK TALK findet.
Wir wollten einfach den nächsten Schritt machen. Keiner will eine Limitierung, indem er immer dasselbe macht. Vor allem, wenn man Anfang zwanzig ist und jeden Tag dazulernt. Sicher, unser Debütalbum hat viele Freunde gefunden. Damit haben wir unsere ersten Erfahrungen überhaupt als Band gesammelt, jetzt haben wir uns weiterentwickelt. Wir haben die neuen Songs in einem Schloss in Frankreich aufgenommen und hatten einen 400 Jahre alten Flügel zur Verfügung. Wir hätten niemals „Songs Of Praise“ Teil 2 aufnehmen können. Man kann nicht einfach die Zeit zurückdrehen und noch mal 18 sein. Wir hätten höchstens so tun können. Alle Songs, die wir bis jetzt geschrieben haben, sind Kapitel unserer Adoleszenz. Ich hoffe, unser nächstes Album klingt weder wie „Songs Of Praise“ noch wie „Drunk Tank Pink“. Wir werden sehen. Die Hauptsache ist, dass wir selbst stolz auf unsere Musik sind. Alles andere ist egal.
Es gibt ja Bands wie BAD RELIGION oder MOTÖRHEAD, die über Jahrzehnte hinweg ihren Stiefel durchziehen. Diese Bands haben diesen für sie typischen Sound geschaffen.
Ich wäre ziemlich überrascht, wenn wir jetzt schon unseren perfekten Sound gefunden hätten. Ich bin jetzt gerade mal 23 Jahre alt. Wir wollten einfach etwas Ambitioniertes schaffen, völlig egal, ob die Leute es mögen oder nicht. Da ist natürlich ein gewisses Risiko, vor allem wenn das Debütalbum so erfolgreich war.
Warum habt ihr euch dafür entschieden, mit Produzent James Ford zu arbeiten, den man von ARCTIC MONKEYS, KLAXONS, DEPECHE MODE kennt?
Es ist einfach ziemlich gut. Er hat irgendwann ein Konzert von uns in London besucht und uns angesprochen. Daraufhin haben wir mit ihm im August 2019 den Song „Water in the well“ als Demoversion aufgenommen und dann ging es einfach weiter mit James. Er sucht die Bands sehr sorgfältig aus, mit denen er arbeitet, und er hat einen fantastischen Musikgeschmack. Jeden Tag hat er sich unzählige Stunden intensiv mit unseren Songs beschäftigt. Das ist doch das, was man sich von einem Produzenten wünscht, oder?
Bei der Vorbereitung auf das Interview war ich auch auf eurer Website und bin auf „SHAME Station“ gestoßen. Was ist das für ein Projekt?
„SHAME Station“ ist einfach nur ein Riesenspaß. Im Lockdown haben wir uns immer wieder in Zoom-Schalten mit guten Kumpels wie Grian Chatten von FONTAINES D.C. oder Geordie Greep von BLACK MIDI getroffen. Wir albern einfach nur herum, wie das unter Kumpels eben üblich ist. Am Anfang haben es die Leute wirklich ernst genommen, aber es ist und bleibt ein Witz, weil uns einfach verdammt langweilig war. Ein Format im Stil der Shows von US-Comedian Eric Andre.
Gehört Mel B von den SPICE GIRLS auch zu euren Kumpels? Mit ihr ist auch eine Folge zu sehen ...
Sie ist schon lange ein Fan von SHAME und war natürlich sofort dabei. Es gibt aber auch eine ernsthaftere Folge, in der ich mit John Cooper Clarke ein Gespräch führe. Ein britischer Punk-Poet aus den Siebzigern. Darauf bin ich wirklich stolz. Dieses Gespräch war ein besonderer Moment in meinem Leben. Der nächste Kandidat ist Shaun Ryder von den HAPPY MONDAYS. Es ist einfach nur ein lustiger Zeitvertreib.
Für den Februar habt ihr eine ganz besondere Tour durch Großbritannien geplant. Eine so genannte „Socially Distanced Tour“. Wie soll das funktionieren?
Die Tickets für diese Tour waren schon am ersten Tag des Vorverkaufs komplett weg. Es geht uns darum, zwanzig Independent Venues im ganzen Land zu helfen. Sie leiden massiv unter der derzeitigen Situation, weil sie nicht genügend unterstützt werden. Wir werden also viele Clubs besuchen, in denen wir noch nie waren, wie in Blackpool oder Huddersfield. Wir wollten außerdem die Songs zum ersten Mal in kleineren Clubs vor Publikum präsentieren. Der komplette Erlös vom Ticketverkauf sowie durch Essen und Trinken geht an die örtlichen Clubs. Außerdem haben wir die Möglichkeit eingerichtet, dass die Besucher zusätzlich spenden können. Wir haben schon immer Geld für Projekte gesammelt, wie zum Beispiel den Club Windmill hier in Brixton. Für diesen Laden planen wir eine spezielle Auktion. Josh schreibt einen Song, Eddie bietet einen Zoom-Kochkurs an und ich male ein Bild. Das alles wird für einen guten Zweck versteigert.
Auf eurer Website habe ich einige von deinen Bildern entdeckt. Sie sind sehr expressionistisch. Fast wie von Vincent van Gogh. Wann hast du angefangen zu malen?
Oh vielen Dank. Was für ein Kompliment. Als ich 18 Jahre alt war, habe ich für kurze Zeit eine Kunsthochschule besucht. Ich habe alles Mögliche ausprobiert: Ölfarben, Aquarell oder andere Techniken. Aber wegen der Band hatte ich nicht viel Gelegenheit zu malen. Deshalb ist das ein bisschen in Vergessenheit geraten. Im Lockdown hatte ich endlich jede Menge Zeit und habe mir Ölfarben gekauft und herumprobiert. Es ist aber total schwer, in London ein Atelier zu finden oder sonst einen Ort, wo man kreativ sein kann. Gerade für Malerei braucht man Platz, das kann man nicht in seinem Wohnzimmer machen. Ich träume davon, in London ein Studio anzumieten und mich dort auszutoben, aber dafür müssen wir wohl jede Menge Platten verkaufen, schätze ich. Haha!
Du hast schon einige von deinen Bildern für gutes Geld verkauft. Auch das teilweise für einen guten Zweck wie die „Black Lives Matter“-Bewegung. Warum ist dir soziales Engagement so wichtig?
Es gibt ein tolles Zitat von Joe Strummer: „People are nothing without people.“ Gerade in dieser Zeit, in der es vielen Menschen wirklich schlecht geht, egal ob finanziell, körperlich oder seelisch, braucht jeder irgendwie Unterstützung. Die Regierung kann nicht alles leisten. Wir können immer einen kleinen Beitrag leisten, ohne uns als Retter feiern zu lassen. Momentan wird einfach an jeder Ecke Hilfe gebraucht und wir halten es für selbstverständlich, uns zu beteiligen. Wir können im Moment nicht viel tun, außer von zu Hause aus Geld zu sammeln und zu spenden. Wenn zum Beispiel diese kleinen Clubs alle verschwinden, wie können junge Bands dann eine Karriere starten? Wir wehren uns zum Beispiel gegen jede Form von Diskriminierung und wir machen uns viele Gedanken um unsere Mitmenschen. Momentan verfolge ich keine Nachrichten mehr, das tut meinem Kopf nicht gut. Deshalb beschäftigen wir uns lieber mit Dingen, die uns direkt tangieren, kümmern uns um Clubs oder Kumpels, denen es nicht so gut geht. Und natürlich gehe ich auch wählen, das ist gerade in meiner Generation sehr wichtig.
Vor allem in Großbritannien werdet ihr ja immer mit zwei anderen Bands in einen Topf geworfen, mit FONTAINES D.C. und IDLES. Stört euch das eigentlich?
Mit FONTAINES D.C. sind wir ziemlich gut befreundet. Mit den IDLES haben wir schon jede Menge Festivals gespielt. Ich denke, da gibt es schon eine Verbindung. Wir kennen uns, unsere Musik ähnelt sich und wir spielen gemeinsame Konzerte. Wir sind auch mit Abstand die Jüngsten in dem Haufen. Mich stört es überhaupt nicht, wenn man uns dieses Post-Punk-Etikett verpasst. Dafür gibt es ja gute Gründe. Die Mentalität, den Sound, das kann ich schon nachvollziehen. Es wäre großartig, in einer Welt ohne Genres und Vergleiche zu leben. Aber es ist eben einfacher, Dinge zu erklären, in dem man sie mit bekannten Sachen vergleicht. Das macht mir nichts aus.
Wie sehen eure Pläne für die nächsten Monate aus?
Es gibt einen guten russischen Witz für die heutige Zeit: Wie bringst du Gott zum Lachen? Erzähl ihm einfach von deinen Plänen. Haha. So fühle ich mich gerade. Alles, was ich momentan will, ist arbeiten und genießen, was wir geschaffen haben. Aber diese ganze Corona-Scheiße hindert uns einfach daran. Deshalb geht es gerade einfach nur ums Überleben. Glücklich und zufrieden bleiben, daran müssen wir jeden Tag arbeiten.
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