Der Mast war aus massivem Holz und bebte kurz, als ich ihn mit meiner Schulter erwischte. Das höhnisch grinsende Mondlicht klatschte seinen zitternden Schatten mit einem Schuss Orange in den aufgewühlten Sand, während die seetypische Brise die Silhouetten des Schilfes dazu tanzen ließ. Ich stieß einen stummen Fluch aus, rieb mir mit einer nichtsnutzigen Geste die abgeschürfte Haut und bekam irgendwie ein ungutes Gefühl. Unter Erwägung aller meinen Gemütszustand beeinflussenden Kriterien und unter Berücksichtigung meines berufsbedingten Hanges zur Übertreibung befand ich mich, selbst nach Abzug der alkoholbedingten Wahrnehmungstoleranz, mit meiner halbvollen Bierflasche völlig allein in einem menschenleeren Areal, das dem Begriff Natur sehr nahe kam. Die Stille in der Pampa hatte den Wellnessfaktor einer bei voller Lautstärke abgespielten Kaminfeuer-DVD und war ein weithin hörbarer Schlag in die Fresse.
Vielleicht war es das Rauschen des Meeres, das sich wie in einer Heroinspritze mit dem lasziven Gestöhne nachtaktiver Möwen vermischte, vielleicht kam der Lärm auch nur von windigen Türstehern, die muskulös durch die hohen Halme strichen – wie sollte ich als Stadtmensch das fair beurteilen? Währenddessen war meine Orientierungslosigkeit damit beschäftigt, ihren eigenen High Score zu knacken. Wo ich auch war, verlaufen habe ich mich immer. Stumpf trampelte ich durch die Wildnis und bemühte mich, wenigstens nicht abseits des Weges zu geraten, den ich angesichts der Lichtverhältnisse hellgeistig genau an den Stellen vermutete, an denen der Boden etwas lichter war. Mit jedem Schritt knirschte es. Der feinkörnige Sand, der anfangs nur in meinen Schuhen und Klamotten steckte, hatte sich in meinem Körper bereits bis zu den Gelenken durchgefressen. Ich war völlig im Arsch und besoffen genug, um in der Hütte, in der sich mein Schlafplatz befand, sofort auf die Pritsche zu fallen und meine Platte mit den Schnarchlauten abzuspielen. Der Bau müsse hier irgendwo ganz in der Nähe sein, gar nicht zu verfehlen, man könne ihn schon von weitem sehen. Mein suchender Blick zog alle elf Himmelsrichtungen bis auf die Unterwäsche aus, doch das einzige, was ich sah, waren Schatten von Gräsern. Einmal quer durch die Dünen, bis zum anderen Ende der Insel, dann einfach nur rechts runter, hatte man mir gesagt. Kann ja nicht so schwer sein, dachte ich.
Ich nahm mir eine Minz-Pastille aus der zerknautschten Verpackung, steckte sie in meinen zerknitterten Mund und setzte meine verbeulten Füße langsam wieder in Bewegung, um meinen Weg in irgendeine Richtung fortzusetzen. Die Insel war leicht hügelig. Kaum zu glauben bei der Größe. Es gab immer wieder Stellen, von denen aus man einen guten Überblick hatte und die Lichter von Helgoland-City, der bewohnten Nachbarinsel, erahnen konnte. Ein paar Minuten später spürte ich Asphalt unter meinen Füßen und musste sofort an Andi denken. Er lebte noch, als ich mich vor einer halben Stunde von ihm an der in den Sand gestampften und mit Lampions verzierten Bar aus Brettern verabschiedet hatte, aber am Tag zuvor hätte er genau an der Stelle, wo ich jetzt stand, auf eine wirklich saudumme Art fast das Zeitliche gesegnet. Erst in letzter Sekunde konnte er sich mit einem Hechtsprung auf den Boden retten. Gemessen an ihrer Leistung waren diese kleinen Sportflugzeuge wirklich erstaunlich leise. Da die Landebahn des Flughafens nicht von Zäunen gesichert war, konnte ich ungehindert übers Gelände torkeln und mich für einen Kurs entscheiden, den ich noch nicht abgewandert hatte. Nach ein paar hundert Metern hörte ich plötzlich Stimmen. Sie kamen irgendwo aus dem All und fraßen sich auf Zeche Hirni bis zur vierten Sohle vor. Sehen konnte ich nichts. Allerdings konnte ich fühlen, wie es langsam schattig wurde. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass es hier irgendwie nach Kräuterquark roch, Schnittlauch-Basilikum, um genau zu sein. Vermutlich trafen sich die Außerirdischen hier zum Brunch. Oder ich wurde allmählich einfach nur gaga. Seltsam, aber mit jedem Schritt, den ich mich zum UFO-Landeplatz vorarbeitete, gesellte sich den Stimmen noch Musik hinzu. Die Stimmen klangen fremd, die Musik kannte ich. Es war die erste Seite von „Status Quo Live“.
Alles klar. Ich war wieder genau da angekommen, wo ich weggegangen war. Wie ich das geschafft hatte, war mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Offensichtlich war ich nicht nur im Kreis gegangen, sondern in einer schönen Acht mit Zusatzzahl. Kein Wunder, dass Ralli mich navitechnisch für eine Null hielt und sich erstmal kaputtlachte, als ich plötzlich vor ihm stand wie dieser Trottel aus „Planet der Affen“. War mir egal. Ich wollte ja keinen Oscar für meine Rolle, sondern nur ein Bett. Und Ralli war Inselhopper. Der streunende Struppi hatte den ganzen Tag eigentlich nur damit verbracht, sein Revier zu markieren. Wenn einer den richtigen Weg kannte, dann er. Nach einer kurzen Verbrüderungsszene nahm er mich bei der Hand, führte mich auf einem relativ indirekten Weg durch das Tal der Irritationen und erbrachte den Beweis, dass Captain Beefheart den „Zig zag wanderer“ offensichtlich auch für ihn geschrieben hatte. Die zahlreichen, unfreiwilligen Schlenker, die Ralli in sein Showprogramm einbaute, hielten uns natürlich nicht davon ab, uns mit Hilfe von Füßen, Händen und Kniescheiben in einem Neigungswinkel von 110 Grad ergebnisorientiert fortzubewegen. Wir erreichten die Hütte zu einem Zeitpunkt, an dem ich mich bereits damit abgefunden hatte, als Verschollener bald einen Vollbart zu tragen und Ralli mit Freitag anzureden. Ich war froh, endlich pennen gehen zu können. In der Hütte trafen wir auf Ivana. Auch sie wollte eigentlich längst ihre Äuglein geschlossen haben. Das einzige, was dagegen sprach, war die Tatsache, dass sie überhaupt nicht müde war.
Gott, das arme Ding! Jemand musste ihr helfen! Nun, da ich Ivana gut leiden konnte und als Gentleman der alten Schule bereits einen boomenden Gefälligkeits-Service für Damen aufgebaut hatte, bündelte ich alle Kräfte meiner Ich-AG und bat sie, mit mir nach draußen zu kommen. Dann besorgte ich zwei Stühle, stellte sie in einem Abstand von zwei Metern auf das Pflaster und brachte die Möbel mit ein paar leichten Tritten noch in ihre richtige Position. Es war wichtig, dass wir uns genau gegenübersaßen und nicht irgendwo im Land verstreut. Nachdem wir beide endlich Platz genommen hatten, zündete ich mir erstmal eine Zigarette an und zog mir die Schuhe aus. Dann erklärte ich ihr meinen Plan. Sie brach in schallendes Gelächter aus. Ich musste ihr mehrfach versichern, dass es mir ernst war. Immerhin gab es hier ein gravierendes Problem, das es zu lösen galt. Ihr aufgekratztes Verhalten war mir schließlich nicht entgangen, auch nicht, wie unglücklich sie damit war, aber sie brauche sich keine Sorgen mehr zu machen – gegen ihre Unmüdigkeit könnte ich etwas tun. Da sich bei Ivana partout keine Schlafstimmung einstellen wollte, war meine Idee, dass ich ihr einen echten Freundschaftsdienst erweise, indem ich sie einfach bestmöglich langweile. Wir würden uns gegenüber sitzen, ich würde ohne Unterlass labern und sie müsste mir permanent zuhören. Keine Fragen, keine Zeugen – nur wir beide face to face. Ein Mann im Saturday Night Fever und eine Frau im Strudel ödester Gefühle. Wenn alles gut ging. Mir stand da ja ein gewaltiger humanitärer Akt bevor. Was es mir an Baldrian mangelte, konnte ich nur mit Rhetorik wieder rausholen. Es müsste ein bombastischer Monolog sein, wie man ihn bestenfalls den Partylöwen von der Kreissparkasse oder Botanikern im Ruhestand zutraut, getragen von Zähigkeit und geistigem Leerlauf, lebendig wie eine vollverzinkte Büroklammer, spannend wie eine dunkelbraune Bundfaltenhose, kombiniert mit der Eloquenz einer Briefmarkenpreisliste, vorgetragen mit einer monotonen Stimme ohne Betonungen und Reizwörter, eben wie vertonter Gurkensalat. Aber war das langweilig genug?
Ja. Zumal ich noch ein paar Hammerthemen anschneiden würde, bei denen man garantiert sofort einpennt. Ich dachte da an Versicherungen, Bausparverträge und weiße Wandfarbe. Obwohl ich also bestens vorbereitet war, war ich mir meines Erfolges allerdings nicht hundertprozentig sicher. Die größte Gefahr für das Gelingen meines Vorhabens sah ich in der Mentalität dieser Frau. Sie lachte nunmal sehr gerne. Schon wenn man „Apfel“ oder „Gewerbesteuerhebesatz“ sagte, lag sie gibbelnd auf dem Boden. Um die Emotionen im Keller zu halten, musste ich vermutlich noch ein Schippchen drauflegen. Ich dachte da an einen bestimmten Gesichtsausdruck, war mir aber noch nicht sicher, wie meine heraushängende Zunge auf Frauen wirkt. Im Idealfall würde sie wegnicken, ich würde das Bettzeug holen, sie damit zudecken und am nächsten Morgen müsste einer von uns beiden nur noch den Kaffee besorgen. Normalerweise nehme ich ein Stück Zucker pro Tasse, den ich dann mit einer vollverzinkten Büroklammer verrühre, ganz vorsichtig, damit mir nichts auf die dunkelbraune Bundfaltenhose tropft, wie damals auf Blau-Mauritius, aber das konnte ich in Ruhe meiner Zahnbürste erzählen, da die Nacht dann doch einen anderen Verlauf nahm.
Wir hatten gerade vis-à-vis Platz genommen, Ivana und ich, als mich ein lautes „Ey, Burschi“ in meinen mentalen Vorbereitungen empfindlich störte. Es war Freitag, der aus der Hütte geschossen kam, in der er sich mit frischem Bier verköstigt hatte. Die beiden wechselten kurz ein paar Worte, dann stand Ivana auf und machte sich mit Freitag wieder auf die Reise zu dem mystischen Ort, an dem die Außerirdischen eben noch „Status Quo Live“ gespielt hatten. Der Mast war aus massivem Holz und bebte kurz, als Ralli ihn mit seiner Schulter erwischte. Das höhnisch grinsende Mondlicht klatschte seinen zitternden Schatten mit einem Schuss Orange in den aufgewühlten Sand, während die seetypische Brise die Silhouetten des Schilfes dazu tanzen ließ. Er stieß einen lauten Fluch aus, rieb sich mit einer nichtsnutzigen Geste die abgeschürfte Haut und stellte seine Bierflasche auf den Boden, um in die Wildnis zu pissen, die dem Begriff Natur sehr nahe kam. Das zarte Plätschern seines gekrümmten Strahls hatte den Wellnessfaktor einer Dose Ravioli. Seltsamerweise ließ mich der Gedanke an gefüllte Teigtaschen schlagartig müde werden. Das Bett war aus massivem Holz und bebte kurz, als ich es mit meinem Körper befüllte. Das höhnisch grinsende Mondlicht klatschte meinen zitternden Schatten mit einem Schuss Pils an die aufgehellte Wand und hatte den Wellnessfaktor von „Status Quo Live“.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #122 Oktober/November 2015 und Tom Tonk