RAI KO RIS

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Anarcho Punx Nepal

Kathmandu, Nepal und die Berge des Himalajas sind nicht zu sehen, denn der Himmel ist vollständig mit Wolken verhangen. Es ist August und das Ende der Regenzeit naht, doch es regnet sowieso nicht viel. Nur nachts manchmal. Ich sitze in einem der völlig überfüllten Kleinbusse und fahre nach Budhanilkantha etwas außerhalb im Norden der grotesken Stadt Kathmandu. Hier wird eine heilige Vishnu-Figur verehrt, doch der Götzenkult ist heute nicht mein Ziel. Ich steige endlich aus dem beengten Martyrium des Busses aus, versuche den vorgeschlagenen Touristenpreis des Fahrkartenjungen etwas herunterzuhandeln und laufe die Straße weiter in die nahen grünen Hügel.

Hier lebt das anarchistische Pärchen Sareena und Olivier in ihrem kleinen selbst gebauten Lehmhaus, das sie nach traditioneller nepalesischer Art errichtet haben. Im Sommer ist es im Lehmhaus sehr angenehm kühl und im Winter mit Kamin schön warm. Sareena ist eine Angehörige des Ris-Volkes, welches im Osten des Landes lebt. Ihr Mann Olivier wurde in Frankreich geboren und lebt seit vielen Jahren in Nepal. Heute spielen sie eines ihrer berühmten Hauskonzerte zu Ehren eines Freundes, der im Ausland für ein paar Jahre studieren wird. Ich bin eingeladen und stehe mittlerweile in dem dunklen Lehmhaus mit Holzbalken, die die Decke stützen. Es sind knapp 30 Leute da und Sareena hat ein großes Buffet mit Pakoras (frittierte Teigtaschen mit Gemüsefüllung), Linsen-Daal und anderen Köstlichkeiten gemacht. In dem Raum stehen neben der Küche noch ein Sofa, ein paar Regale und an dem einen Ende des Raumes haben sie Schlagzeug und Verstärker aufgebaut. Das Konzert dauert recht lange, RAI KO RIS spielen angenehmen Punk mit folkigen Klängen, der jedoch seine eigene Richtung bereits gefunden hat. Sareena singt ihre Lieder teilweise in Nepali.

Ihr Sohn Tin Tin spielt mit einer Freundin im Nebenzimmer. Sareena und Olivier haben insgesamt drei Kinder, alles Straßenkinder, die sie bei sich aufgenommen haben. Dazu kommen noch ein Hund und neuerdings auch zwei Katzen. Der ungefähr sechsjährige Tin Tin stammt aus dem Westen Nepals und hatte seine Eltern verloren. Lange Zeit wurde er von einer Europäerin finanziell unterstützt, die ihre Hilfe für ihn jedoch irgendwann einstellte. Sareena hörte seine Geschichte und kidnappte kurzerhand den völlig fertigen Jungen aus einem schrecklichen Kinderheim. Derzeit versuchen sie das Sorgerecht für den Jungen zu bekommen.

Das Konzert ist sehr gut und die Besucher haben ihren Spaß. Nach größerem Alkoholkonsum fangen die sonst eher schüchternen Nepalis auch an zu tanzen. RAI KO RIS besteht aus drei Leuten: Sareena an der Gitarre, ihr Mann Olivier am Schlagzeug und an der zweiten Gitarre spielt Kharga. Kharga ist ein Nepali, der vorher in einer bekannten lokalen Metal-Band gespielt hat, jedoch bald vom Mainstream zu viel bekam und sich dem Untergrund um RAI KO RIS anschloss.

Einige Tage nach dem Konzert treffe ich die drei in einem chinesischen Restaurant, um ein Interview mit ihnen zu machen. Wir sitzen auf einer Art Dachterasse und irgendwann ist der Tisch angefüllt mit Reis, Nudeln, Fleisch und Suppen. Ich als Vegetarier kann wenig Freude an chinesischem Essen finden, da es meistens ähnlich schmeckt, und ich behalte wieder einmal mit meinem Vorurteil recht. Selbst in Kathmandu schmeckt das Gemüse mit Reis wie bei dem Chinesen in meiner Heimatstadt Essen im Ruhrpott.

RAI KO RIS bedeutet übersetzt die „Rache der Ris“. An und für sich sind die Ris als ein friedliches Volk bekannt, doch wenn man sie ärgert oder sie schlecht behandelt werden, dann sei ihre Rache gewaltig, erklärt mir Sareena: „Wir haben uns 1999 bis 2000 gegründet, doch davor hatten Olivier und ich schon andere Bands wie KNIFE, JUSTICE NOWHERE und PLASTIC PEOPLE mit politischen Texten. Das muss so 1996/97 gewesen sein. Damals gab es hier noch keine Szene“, erzählt sie weiter.

Es gibt in ganz Nepal nur eine wirkliche Punkband, eben RAI KO RIS. Sie sind bekennende Anarchisten und haben ihre beiden Platten alle D.I.Y. hergestellt und vertrieben. Das deutsche Label Punkdeluxe arbeitet momentan sogar an einer Vinylversion der Platte ihrer Schwesterband TANK GIRL. Früher hatten sie auch einen anarchistischen Infoladen innerhalb der Stadt Kathmandu. „Wir hatten den zweiten Stock eines Hauses gemietet, doch irgendwann wurde die Miete zu teuer und wir wollten den Laden auf eigene Weise weiterführen. Mit den steigenden Mieten kamen auch eine Menge Probleme in die Innenstadt von Kathmandu, das Rotlichtviertel und die Faschisten. Also zogen wir auf den Hügel nach Budhanilkantha, heraus aus der Stadt. Nun wollen wir den Laden in unserem Haus betreiben“, so Sareena. „Doch die Kids haben in dem Infoladen nur abgehangen und über Fußball geredet. Sie haben nichts gelesen. Wir konnten sie zu nichts animieren. Auf der anderen Seite gab es aber auch keinen anderen Ort in der Stadt, wo die Kinder hätten hingehen können.“

Ich frage sie, wie sie zum Anarchismus gekommen sind, und Olivier antwortet: „Als wir um 1997 herum anfingen, uns politisch zu engagieren und unsere eigenen Projekte zu machen, passierte das zu der Zeit, als die Maoisten ihren Bürgerkrieg begannen. Vieles in Nepal begann mit der Revolution der Maoisten gegen den hinduistischen König. Wir sahen, was da passierte, und nahmen Kontakt mit den Maoisten auf. Sie sagten uns, wenn wir unsere politische Arbeit machen wollten, müssten wir eine Position einnehmen, Stellung beziehen. Wir wollten keine Maoisten sein, also kamen wir vom Kommunismus zum Anarchismus. Wir haben die anarchistische Gemeinschaft hier in Kathmandu stark unterstützt, Sareena hat einen Artikel über die nepalesische Revolution geschrieben und wir nahmen selbst an den Demonstrationen teil. Irgendwann mussten wir feststellen, dass es nur noch uns beide gab. Ich weiß nicht, ob es in anderen Teilen von Nepal noch Anarchisten gibt, aber ich kann sonst nur für uns beide sprechen.“

Nepal war bis vor wenigen Jahren das einzige hinduistisch regierte Königreich in der Welt. 1990 gab es eine große politische Protestbewegung gegen die Feudalherrschaft, die blutig niedergeschlagen wurde. Um 1996 herum gingen maoistische Gruppen in den Untergrund, solidarisierten sich mit den unterdrückten ethnischen Minderheiten und begannen einen bewaffneten Kampf für Selbstbestimmung und gegen das repressive Hindu-Regime. Die Revolution der Maoisten ist 2006 erfolgreich beendet worden und der König hat seine Macht an ein demokratisches Parlament abgegeben. Doch die politische Unruhe in Nepal dauert weiter an, der ehemalige Revolutionsführer Prachanda wurde als Maoist der erste Premierminister Nepals und hat sein Amt mittlerweile wieder aufgrund des turbulenten Parlamentes niedergelegt. Im Süden Nepals kämpfen ebenfalls wieder bewaffnete ethnische Gruppen für Autonomie. Die jahrhundertealten hinduistischen Traditionen leben in Nepal weiter fort und Probleme zwischen den unterschiedlichen Kasten und den verschiedenen Volksgruppen dauern immer noch an.

Sareena fährt fort: „Hier in Nepal gibt es nur eine kleine Punk-Szene und so gut wie keine Underground-Kultur. Viele Bands wollen keine politischen Inhalte in ihre Lieder bringen, denn sie sehen es als eine Sünde an. Die Musik soll Spaß machen. Die Punks hier verstehen unter Punk, dass man Nieten tragen muss und Musik von Avril Lavigne hört. Dabei wohnen sie dann noch zu Hause, singen Lieder von den DEAD KENNEDYS und bekommen in ihrem Leben nichts organisiert, sondern vertrauen immer auf die Unterstützung von anderen.“ Sie macht eine Pause. „Viele kritisieren RAI KO RIS, wir würden zu viel predigen und wir wären zu ernst bei der Sache. Wir wären zu cool. Sie kritisieren uns dafür, dass wir unsere Auftritte selbst organisieren und geben selber Geld den Bullen, um irgendwo spielen zu dürfen.“

Nach einer weiteren Pause fährt sie fort: „Es gibt hier in Nepal nur zwei Seiten: entweder machst du Musik für Geld oder nicht. Wir fühlen uns hier manchmal sehr alleine, denn niemand interessiert sich für Politik oder den sich einschleichenden Kapitalismus in Nepal. Es gibt keine Kommunikation untereinander und keine Auseinandersetzung. Eine offene Diskussion oder Konfrontation wird hier als Beleidigung angesehen. Wir haben ein großes Klassenproblem in Nepal. Selbst auf unseren Konzerten gibt es oft Probleme zwischen den reichen Kindern und den armen. Dabei spielt die hinduistische Kaste, in die ein Mensch hineingeboren wird und nicht wieder herauskommt, eine große Rolle. Aber in Nepal sind die Klassenunterschiede nicht zwischen den Kasten sondern zwischen den Ethnien, in Kathmandu ist es dagegen ein klarer Klassenunterschied zwischen Reich und Arm.“

„Ich hatte vorher nie etwas mit Underground zu tun. Ich hatte in einer Metal-Band gespielt und bin erst durch Sareena und Olivier zum Punk gekommen. Davor habe ich mir nie Gedanken über so etwas gemacht“, erzählt Kharga. Nun steht Kharga auch an einer Weggabelung in seinem Leben, er wird demnächst nach London ziehen, um wie viele Nepalis sein Glück mit einem Studium im Ausland zu versuchen. Auf die Frage, wer sie in ihrer Musik und ihrem Aktivismus beeinflusst hat, antwortet Sareena: „Ich habe früher als Teenager einige Zeit in Singapur gelebt und kam dort zum ersten Mal mit dem Punk und Hardcore der Achtziger Jahre in Kontakt. Ich kam vor allem durch Freunde mit anarchistischem Einfluss in die Bewegung.“

Olivier entgegnet: „Ich komme nicht direkt aus dem Punk und bin erst durch Sareena dazu gekommen. Ich habe immer Menschen bewundert, die eine Menge Dinge tun, ohne dafür Geld zu verlangen. Sie haben die Sachen einfach gemacht, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Wir haben viele andere Projekte neben der Band. Wir unterstützen Kinder und organisieren Geld von Hilfsorganisationen. Wir helfen auch vielen Leute direkt, indem wir ihnen unter die Arme greifen. Ich fahre seit vielen Jahren nach Bhutan, um dort mit einer Hilfsorganisation religiöse Gefangene und ihre Familien zu betreuen. Erst viel später wurde meine Musik von Bands wie Frank Zappa oder Coltrane inspiriert.“

Sareena erzählt weiter: „Neben RAI KO RIS haben wir noch einige andere Projekte. Wir haben die Band TANK GIRL mit der befreundeten Gitarristin Sampreety. Sie lebt momentan in den USA, also macht TANK GIRL gerade Pause. Wir haben auch noch THE FABULOUS MAXI PADS mit einem befreundeten Musiker, mit der wir alte Punk-Kassiker von X-RAY SPEX oder CRASS covern. Seit Neuestem haben wir sogar noch eine Reggae/Ska-Band mit dem Namen THE GENARATAZ. Wir jammen auch oft mit Touristen, die uns besuchen oder mit Freunden, die wieder in Nepal sind.“

Für die kommende Zeit haben sie ebenfalls viele Ideen, wie Olivier berichtet: „Wir haben gerade unsere neue Platte mit RAI KO RIS gemacht und Kharga wird ja nun bald verschwinden, da müssen wir uns wieder einen neuen Gitarristen suchen.“ Olivier zieht Kharga permanent auf, wie unsinnig er es findet, mit einem ausländischen Pass ein neues Leben beginnen zu wollen. Ich kann Khargas Wunsch ein wenig nachvollziehen, da er mit seinem nepalesischen Ausweis kaum das Land verlassen darf und nur eine schlechte Ausbildung bekommt. Viele Menschen Nepals und unzähliger anderer Staaten sehen in dem Besitz eines europäischen oder amerikanischen Ausweises die Chance, dem kargen und schwierigen Leben in ihrer Heimat zu entkommen. Dass aber viele neue Probleme und vor allem eine andere Kultur auf sie warten, wird dabei oft vergessen oder verdrängt.

Sareena führt weiter aus: „Momentan geben wir nur Konzerte zu Hause. Hauskonzerte. Das macht uns Spaß und wir bekommen eine recht private Atmosphäre auf den Konzerten. Doch auf Dauer ist das auch anstrengend, weil immer viele Leute bei uns zu Hause sind. In Zukunft wollen wir wieder Konzerte woanders organisieren und vielleicht mal wieder auf Tournee gehen. Wir haben bisher nur 2002 eine Tour in Singapur und Malaysia gemacht und eine in Frankreich 2001. Wir würden gerne wieder einmal nach Frankreich fahren und in Europa touren.“ Das Kollektiv ist ebenfalls gerade dabei, einen alternativen Club mit Konzerten und Kneipe in Kathmandu aufzubauen.

Es ist dunkel geworden und die Teller sind mittlerweile schon abgeräumt. RAI KO RIS ist der freie anarchistische Fels, der auf den Hügeln oberhalb Kathmandus thront. Wirkliche Punks eben. Die einzig wahre Punkband Nepals. Demnächst wird ihre neue CD erscheinen, in meinen Augen ihr gelungenstes und persönlichstes Album. Neben der Platte erscheint auch ihre erste DVD.

Wer sich also einmal in den Bergen des Himalajas verirren sollte, kann Sareena und Olivier gerne über deren Internetseite kontaktieren. Die beiden freuen sich immer über Besuche und Inspirationen von außerhalb Nepals.