POISON IDEA

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Never say never!

Eine letzte Tour von POISON IDEA? Haben wir schon mehrfach gehört. Jetzt scheinbar wirklich. Die selbsternannten „Kings Of Punk“ aus Portland geben das Zepter weiter. Knapp vierzig Jahre Bandgeschichte, Nihilismus, Exzesse, Tode und Platten, die zu Genreklassikern des Hardcore-Punk wurden. POISON IDEA gehören fest zum Soundtrack der dunkelsten Tage meiner Jugend. Wahrscheinlich nicht nur meiner. Wut und Verzweiflung kann man nicht besser ausdrücken. Aber sie hatten nach ihrer frühen Phase auch immer einen Hang zu klassischem Rock’n’ Roll und beherrschten ihre Instrumente. Sänger Jerry war über die Jahre die einzige feste Konstante der Band und verwaltet nach vielen Querelen mit Labels und Vertrieben die frühen Platten von POISON IDEA über sein Label American Leather Records. Die späteren Alben erschienen neu auf Southern Lord. Vor ihrem Auftritt auf dem Ruhrpott Rodeo habe ich Gelegenheit, Jerry nach seinem Fazit des Kapitels POISON IDEA und seinen weiteren Plänen zu befragen.

Jerry, die letzte POISON IDEA-Tour? Schwer zu glauben! Bist du sicher?


Ja, auf jeden Fall. Vor ungefähr 18 Monaten haben wir schon einmal unsere vermeintlich letzte Show in einem kleinen Laden in Portland gespielt. Chris und Dean, die auf „Pick Your King“ und „Record Collectors Are Pretentious Assholes“ mitgespielt haben, waren dabei. Myrtle Tickner und Thee Slayer Hippie kamen auch und spielten einige Songs. Es wurde eine lange und intensive Show. Auf unserer letzten DVD wird sie auch als Schlusspunkt genannt. Aber – du investierst in eine Sache und dann bekommst du auch etwas zurück. Nicht finanziell gesehen. Es geht um die Energie, den Kick, wenn du so willst. Und dann wurde „Feel The Darkness“ neu aufgelegt und wir bekamen Lust, das Album in seiner Gesamtheit live zu spielen. Gesagt, getan. Die Leute kamen teilweise aus Europa, um das zu sehen. Aus Deutschland, Frankreich und Spanien. Viele sprachen uns an und fragten, ob wir nicht noch ein letztes Mal nach Europa kommen wollen. Den Leuten bedeutete es etwas. Darum beschlossen wir, uns noch einmal aufzuraffen, um danke zu sagen und uns richtig zu verabschieden. Wir sind nicht traurig darüber oder sentimental. Es macht Spaß und es fühlt sich richtig an. Ein bisschen wie eine irische Beerdigung. Vor der „Feel The Darkness“-Show war ich mir eigentlich sicher, nicht mehr touren zu wollen. Aber so ist das im Leben. Never say never! Ich kann heute sagen, dass ich etwas nie wieder machen werde, und dann verwerfe ich es morgen wieder. Ich kenne die Umstände von morgen doch heute noch nicht.

Mir ist aufgefallen, dass du in den letzten Jahren sehr viel gereist bist, auch durch Europa.

Ja, ich möchte viel herumkommen. Was bringt es, zu Hause die Wand anzustarren, bis ich sterbe? Reisen ist ein kreativer Prozess. Außerdem nehme ich jetzt weniger Drogen und brauchte einfach einen Ersatz. Etwas, das mich beschäftigt und weiterbringt.

Du teilst auch sehr viel Privates online. Warum ist dir das wichtig?

Es hat wirklich lange gedauert, bis ich privat so etwas wie Glück empfinden konnte. Und weißt du, was verrückt ist? Viele Menschen ärgert es, andere glücklich zu sehen. Sie gönnen ihnen keinen Erfolg. Du gewinnst in der Lotterie? Wer freut sich denn wirklich darüber? Die Leute mögen es, wenn du verletzt wirst, krank bist und verlierst. Als ob das die sadistische Ader in uns wäre. Du bist als Obdachloser ein größeres Gesprächsthema als ein glücklich Verheirateter. Warst du schon einmal bei einer Hochzeit, bei der nicht darauf gewettet wurde, wie lange die Beziehung hält?

Vielleicht bewegen die Leute einfach die traurigen Geschichten mehr als die glücklichen?

Kann sein. Ein Mythos wie der von Lady Diana wäre ansonsten nicht möglich. Nicht Königin zu werden ist so ziemlich das Tragischste, das einem passieren kann, haha.

Du wirkst körperlich gesünder und fitter. Als ich dich vor ungefähr sieben Jahren zuletzt gesehen habe, war das komplett anders. Da bin ich heute richtig erleichtert.

Danke! Ich achte mehr auf mich. Ich hatte eine doppelte Hernie, also Leistenbruch, im Bauchraum. Da waren mehrere schwere Operationen nötig. Aber solange ich die Schmerzen mit Kühlen oder Wärmen eindämmen kann, ist es okay. Ich bin kein junger Mann mehr, der einfach auf der Bühne herumspringt. Das akzeptiere ich. Von außen betrachtet sehe ich gut aus, innerlich verrotte ich quasi, haha.

Ist es seltsam für dich, die nihilistischen und negativen Texte von früher zu singen, wenn du heute in einer stabileren Verfassung bist?

Nein. Vor sechs Monaten habe ich geheiratet und davor haben wir eine Menge Scheiße mit unseren Ex-Partnern durchgemacht. Der Ex-Mann meiner Frau hat mich mit einer Waffe bedroht, die Cops mussten kommen. Es war eine regelrechte Belagerung und hätte leicht eskalieren können. Der Typ ist unberechenbar. Es gab Gewalt und Misshandlungen in ihrer Beziehung. Natürlich weiß man, dass solche Leute existieren, aber wenn sie tatsächlich real vor dir stehen und du dich mit ihnen auseinandersetzen musst, das ist hart. Eine düsterer Aspekt des Lebens, die ich so noch nicht erlebt habe. Ein kompletter Mindfuck. Dieser Schmerz, diese Tragödie einer Misshandlung ist etwas anderes als die „Teenage-Angst“, die viele in unserer Szene durchmachen, oder Suchtprobleme wie Alkoholismus. Das ist ein anderes Level. Schmerz, Angst und Wut sind neben all dem Guten, das mir in letzter Zeit passiert ist, also immer noch reichlich da. Wir versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Persönliches Glück ist die reinste Sisyphusarbeit.

Wie sehen deine Pläne für die Zeit nach POISON IDEA aus?

Keine Ahnung. Vor einem Monat habe ich zum Beispiel etwas zusammen mit ANTISEEN gemacht. Ich mag auch simple Musik mit akustischer Gitarre, kein Witz. Du musst nicht Bob Dylan sein, um das zu machen. Es kann ruhig ein bisschen rauher sein. Vielleicht tummele ich mich ein bisschen im Akustik-Punk-Genre.

Dave Smalley macht das mit DAG NASTY- und DOWN BY LAW-Songs auch ziemlich gut.

DOWN BY LAW haben sehr gute Uptempo-Sachen, die ich mir gut akustisch vorstellen kann. Es gibt so viele gute ältere Musik, die man so verarbeiten kann. Die YARDBIRDS und die ANIMALS haben das vorweggenommen. Warum nicht dahin zurückkehren?

Und wie sieht es mit American Leather Records aus, betreibst du das Label weiterhin?

Ja, klar. Als Tom aka Pig Champion gestorben ist, war das Label eine Art Huldigung an ihn. So ein Label ist ein Vollzeitjob. Sich mit Vertrieben herumschlagen, die dich nicht bezahlen, das kann hart sein. Andererseits gibt es keinen vergleichbaren Job für mich. Du machst dir Gedanken über das Artwork und die Musik, die du liebst und am Schluss gibt es dank dir ein fertiges Produkt. Du riechst und fühlst das Vinyl. Das ist super! Es ist vergleichbar damit, ein Kind aufwachsen zu sehen.

Sind Plattensammler also heute keine angeberischen Arschlöcher mehr? Eines eurer Alben heißt so, „Record collectors are pretentious assholes“ behauptet der Titel. Du bedienst uns ja mit limitierten und aufwendigen Veröffentlichungen ganz gut.

Haha! Der Satz stammt von Tom, nicht von mir. Man muss einen Mittelweg finden. Sammeln, ohne zu übertreiben. Nimm die ganzen Dangerhouse-Singles zum Beispiel. Ich mag die Musik sehr, die BAGS zum Beispiel. Einmal habe ich ziemlich betrunken bei mir im Keller meinen Podcast gemacht und meine Lieblingsplatten gespielt. Dabei habe ich meine ganzen STRANGLERS-Singles und die erste von PINK FLOYD herausgefummelt. Und dann habe ich mich aus Versehen über die Cover erbrochen. Am nächsten Morgen klebten sämtliche Picture Sleeves der STRANGLERS-Singles zusammen. Ich habe versucht, sie mit einem Messer wieder zu trennen, und dabei die Cover noch mehr eingerissen. Zuerst war ich völlig angepisst, aber dann dachte ich mir, es ist doch die Musik, um die es geht. Und die bleibt schließlich. Jetzt habe ich diese völlig verhunzten Singles und sie erzählen eine Geschichte. Nicht nur über Rock’n’Roll, sondern auch über mich.

Stichpunkt Radio: Wie hat das eigentlich mit dir und dem Radio angefangen? Du hast eine regelmäßige Show.

Mein erster Versuch beim Radio in Portland lief nicht so gut. Es gab Vorgaben für den Ablauf der Sendung und ich durfte nicht fluchen. Schwierig, wenn man eine Vorliebe für das Wort „Fuck“ hat. Ich komme aus einer typischen White-Trash-Familie und der Umstand hat mein Vokabular nachhaltig geprägt. Ich sollte also einen Pieper benutzen, um die Schimpfwörter zu killen. Außerdem hätte ich mein eigenes Label nicht promoten und Songs befreundeter Bands nicht spielen dürfen. Das war nichts für mich. Zum Glück gibt es in Portland einen Sender namens „House Of Sound“, der nichts zensiert und keine Vorgaben macht. Du hast die absolute inhaltliche Freiheit und Kontrolle über deine Sendung. John Peel hat in seiner Show zweimal hintereinander das gleiche Stück der UNDERTONES gespielt. Keine Regeln ermöglichen deine eigenen Regeln.

Wie relevant ist das Medium Radio im Internetzeitalter denn noch?

Es ist relevant, vor allem durch das Podcasting. Es nimmt den Grundgedanken des Radios und passt es an den heutigen technischen Standard an. Leute sprechen über ihre Plattensammlungen, spielen ihre Lieblingslieder. Die Inhalte sind ähnlich wie früher. Little Steven von Bruce Springsteens Band macht einen guten Podcast mit dem Schwerpunkt Garage-Rock. Allerdings hat er nicht die volle künstlerische Freiheit, weil er von Sponsoren abhängig ist. Da spielt er die HIVES und die MUMMIES, aber nichts wirklich Unerwartetes. Der kann nicht einfach die Single einer Band spielen, die er am Abend zuvor live in einer Bar gesehen hat. Wichtig ist, dass du unabhängig bleibst. Ich möchte die Freiheit haben, eine Blues-Single zu spielen und danach etwas völlig anderes.

Wenn die Medien überleben, wie sieht es mit dem Erbe der frühen Hardcore-Bands wie euch aus? Was bleibt nach vierzig Jahren Hardcore und Punk?

Du meinst, wenn die Protagonisten sterben oder aufhören? Du musst doch sterben, um unsterblich zu werden. Nimm GG Allin zum Beispiel. Als er starb, wurde er zur Berühmtheit. Und man fragte sich, wie das passieren konnte. Vorher war er einfach ein Freak. Oder nimm NAKED RAYGUN. Die haben sich aufgelöst, weil es nicht weiterging. Heute höre ich Sätze wie „Oh, die waren so gut wie die BUZZCOCKS!“ Dann frage ich mich, wo die Leute waren, um die Band zu unterstützen, als sie noch aktiv war. Es gibt einen schönen Song dazu von der holländischen Band URBAN DANCE SQUAD, „You’re only famous when you die“. Und was nach vierzig Jahren bleibt? Der Drang, Neues zu schaffen. Weitermachen, nicht stehenbleiben. Das ist eine gesunde Einstellung. Dadurch verändert sich Punkrock auch stetig. Der Punk der Siebziger ist nicht mehr der Punk der Achtziger und der hat wenig zu tun mit dem der Neunziger. Wenn ich heute Leuten außerhalb der Szene erzähle, dass ich in einer Punkband singe, dann denken sie an Iros, Sicherheitsnadeln und aggressives Verhalten. Auf der anderen Seite hast du mit Mascara geschminkte Leute wie MY CHEMICAL ROMANCE, die auch als Punk bezeichnet werden. Durchgesetzt als Erbe hat sich der DIY-Gedanke. Er wird auf jeden Fall bleiben. Andere werden kommen und den Punk des neuen Jahrzehnts prägen. Wir werden das aber nicht mehr sein.

Daniel Schubert