NRA

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Was machen eigentlich ...

KTS in Freiburg 2003: Zum ersten und bis heute leider auch letzten Mal sehe ich NRA. Das Konzert hat sich bei mir tief ins Gedächtnis eingegraben. Vier gut gelaunte Amsterdamer ballern den Anwesenden mit viel Energie und unglaublicher Spielfreude eine Show ganz im Geiste von BLACK FLAG, HÜSKER DÜ oder den RAMONES um die Ohren und fügen diesem Cocktail noch ein ganze Stück Eigenständigkeit hinzu. Danach wurde es nach insgesamt sechs Alben bis auf wenige einzelne Konzerte sehr still um die 1989 gegründete Band. Ich fragte bei ihrem Gitarristen Jean nach.

Jean, ich habe euch 2003 in Freiburg in der KTS gesehen. Ich fand das Konzert unglaublich gut: voller Energie, unterhaltsam und spaßig.

Freut mich, dass dir die Show gefallen hat! Ich kann mich an den Ort erinnern, an das Konzert selbst aber kaum. Wenn es dir Spaß gemacht hat, ist das super, denn genau darum ging es uns mit NRA immer beim Musikmachen. Wir haben weder jemals auf eine Musikerkarriere abgezielt noch wollten wir besonders beliebt sein – wir haben mit der Band einfach aus Freude am Musikmachen angefangen. Mitte der Neunziger Jahre gab es mal eine Zeit, in der wir sehr populär waren und Konzerte in den Niederlanden ausverkauft waren. Wir hatten aber trotzdem weiterhin unsere normalen Jobs und keinerlei Intentionen, Profimusiker zu werden.

Was ist seitdem mit NRA passiert? Gibt es euch als Band noch?
Auf der von dir angesprochenen Tour haben wir unser damals neues Album „Machine“ beworben. Die Platte war nicht sehr erfolgreich, aber uns selbst hat sie sehr gefallen. Wir wollten zurück zum 1977er-Sound und wussten schon bei den Aufnahmen, dass unsere Fans sie wahrscheinlich nicht besonders mögen würden. Wir wollten so klingen wie die erste Scheibe der niederländischen Punkband IVY GREEN. Unser Produzent Menno Bakker hat sogar deren Toningenieur kontaktiert, um herauszufinden, wie die ihren Sound hinbekommen haben. 2007 hat uns unser Drummer Tjeerd verlassen und wir hatten erst mal keinen Ersatz. Außerdem waren wir mit vielen anderen Dingen beschäftigt, so dass NRA nicht mehr die Priorität besaß, die die Band seit 1994 bis dahin hatte. Um 2010 rum hatten wir noch eine einzelne Show mit Bram Swarte am Schlagzeug. Das hat Spaß gemacht und wir begannen mit der Arbeit an einer neuen EP. Die ist eigentlich auch fertig, aber wir fanden, dass wir die Live-Energie, die wir bringen wollen, ein bisschen verloren haben. So kam es, dass NRA bei uns inzwischen aus dem Fokus geraten ist.

2007 habt ihr auch noch mit den BAD BRAINS in Amsterdam gespielt.
Ja, das war so eine Sache, haha. Ich bin froh, dass ich sie in den Achtzigern schon mal gesehen habe! Das war unsere letzte Show mit Tjeerd am Schlagzeug. Am Tag vor der Show waren mein Freund Tim Kerr von den BIG BOYS und seine Frau Beth in Amsterdam und die erzählten mir die ganze Geschichte, wie die BAD BRAINS früher mal in Austin herausfanden, dass der Sänger der BIG BOYS homosexuell ist, und wie sie sich dann verhalten haben. Ich hatte davon schon gehört und mitbekommen, dass es darüber in der Hardcore-Szene eine heftige Diskussion gab. Aber als ich dann die Details dazu erzählt bekam, war es für mich schon bizarr, am nächsten Tag mit den BAD BRAINS zu spielen. Deren Show war ein Witz – Sänger H.R. war völlig neben der Kappe. Nach dem Konzert haben die Leute gebuht und Plastikbecher auf die Bühne geschmissen. Soweit ich weiß, kommt diese Szene in einer BAD BRAINS-Dokumentation vor.

Welche ist deine Lieblings-NRA-Platte? Für mich ist es ganz klar „New Recovery“, weil sie unglaublich abwechslungsreich und kreativ ist.
Ich mag auch „New Recovery“ und „Machine“ am liebsten. Ich bin sehr zufrieden mit den Songs, die ich für diese Platten geschrieben habe. Die Entstehungsgeschichte von „New Recovery“ ist in vielerlei Hinsicht besonders. Wir hatten davor bei Virgin Records unser Album „Leaded“ veröffentlicht. Das war auch erfolgreich, was die Rezensionen in der Presse angeht. Aber die Verkaufszahlen waren absolut nicht auf dem Level eines Majorlabels. Und wir waren als Band auch nicht so einfach zu vermarkten, wie das Label gehofft hatte, so dass es uns wieder fallengelassen hat. Wir waren zwar so populär wie nie, waren damit aber gar nicht so glücklich. Wir zogen plötzlich Leute an, die nur kamen, weil dieser Musikstil gerade angesagt war. Wir fühlten uns schon immer wohler mit einem Punk-Publikum. Ich erinnere mich, dass vor allem unser Sänger Aziz zunehmend unzufrieden damit war, für ein Mainstreampublikum zu spielen. Die meisten Songs auf „New Recovery“ habe ich geschrieben. Sie sind sehr beeinflusst von meiner Liebe zu MISSION OF BURMA. Unserem damaligen Drummer Pepijn gefiel unsere Arbeitsweise nicht. Er interessierte sich immer mehr für traditionellen Country, Soul und Blues. Die Aufnahmesessions liefen also überhaupt nicht reibungslos. Keiner wusste so genau, was wir am Ende für ein Ergebnis erreichen wollten. Nach den Sessions nahm unser Produzent Menno Bakker ein paar Gitarrenideen auf für zusätzliche Spuren, die er manchmal einfach über die schon bestehenden Spuren legte. Das waren eigentlich nur grobe Entwürfe. Beim Abmischen haben wir die irgendwann ausgeblendet, um dann aber zu merken, dass der Gitarrensound plötzlich an Tiefe verloren hat. Am Ende fügten wir einfach alle diese spontan entstandenen Ideen wieder hinzu – ein glücklicher Zufall, haha.

Was machen die anderen Bandmitglieder inzwischen?
Aziz betreibt mit mir das Aufnahmestudio Amsterdam Recording Company. Außerdem hat er noch seinen Laden Independent Outlet Skateboards Amsterdam. Pepijn arbeitet dort und ich habe da auch schon gearbeitet. Gwynn und Sven sind Köche. Sven lebt zeitweise in Frankreich und den Niederlanden und hat in jedem Land eine Band.

Hast du selbst aktuell neue Bands? Sind da Veröffentlichungen geplant?
Ich bin in mehreren Bands. Ich spiele Bass bei PAUPER. Das ist sehr laute und rauhe Musik. Mit dieser Band haben wir noch ein Spin-Off namens BLOEDLIP, bei dem wir einfache Dreißig-Sekunden-Songs auf Niederländisch machen. Außerdem nehme ich gerade noch mit einem RAMONES-Tribute-Projekt auf, für das ich aber noch keinen Namen habe. Gesungen wird auch hier auf Niederländisch. Dann singe ich noch bei THIRD EGO. Wir haben gerade fünf Songs aufgenommen, von denen wir sehr begeistert sind. Das geht stilistisch eher in Richtung NRA. Ansonsten spiele ich noch manchmal solo als COPYMASTER.

Wie aktiv ist in den Niederlanden zur Zeit die Punk/Hardcore-Szene? In Deutschland ist sie meinem Eindruck nach viel kleiner und vom Altersdurchschnitt her deutlich älter geworden.
Bei uns ist sie sicher auch kleiner, aber dafür auch beständiger geworden. Es gibt einige junge Acts wie NETWORK76, AZIJNPISSER, PRESSURE PACT, RAYLIN, FORBIDDEN WIZARDS, PLOEGENDIENST, PIG FRENZY, BARE HANDS, PREY und noch ein paar andere alte Bands wie uns wie OUST, PARANOID STATE, ANTILLECTUAL, RICHIE DAGGER und SEEIN RED. Das Publikum bei Konzerten ist meistens altersmäßig sehr gemischt, obwohl natürlich jede Szene mehr Nachwuchs gebrauchen könnte.

Wie ist derzeit in Amsterdam die subkulturelle Situation hinsichtlich Corona?
Schwierig. Mit PAUPER haben wir unser Merchandise verkauft, um Geld für das OCCII zu sammeln, ein unabhängiges Kulturzentrum, das für uns sehr wichtig ist. Die Konzertlocations entlassen ihr Personal, weil es kaum Einnahmen gibt seit März. Aber ich denke, dass auch neue Initiativen zustande kommen werden. Die Leute sind kreativ und werden das Beste aus dieser Situation machen. Es braucht mehr als ein Virus, um die Subkultur zu zerstören!

Wie hast du selbst die Corona-Krise bisher erlebt? Warst du in irgendeiner Form betroffen?
Glücklicherweise bin ich selbst von gesundheitlichen Problemen verschont geblieben. Wir mussten unser Tonstudio im März schließen, konnten im Juni aber wieder öffnen. Am Anfang war das zu riskant. Aber seitdem man mehr über das Virus weiß, haben wir Wege gefunden, es auf sichere Weise zu betreiben. Ich arbeite außerdem für ein Start-up, das Dienstleistungen für auftretende und aufnehmende Künstler anbietet. Das wird gerade während der Corona-Krise gebraucht, so dass wir hier als Unternehmen nicht so gelitten haben. Ich verdiene mit dem Spielen von Musik kein Geld. Es ist also in erster Linie für mich einfach nur ärgerlich, nicht auftreten zu können.