Wer mit den drei Buchstaben NRA tatsächlich nur die gleichnamige amerikanische Waffenlobby verknüpfen sollte, hat die letzten zehn Jahre europäischer Punk/Hardcore-Geschichte wohl nicht ganz vollständig mitgekriegt. Wobei NRA aus Amsterdam trotz aller Qualität im Sachen melodischer Punkmucke tatsächlich nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die ihnen zustehen würde. Aber man kann halt nichts machen, wenn eine Band aus dem käsigen Holland kommt und nicht etwa aus dem sonnigen Kalifornien. Seit drei Monaten ist nun die neue Platte "New Recovery" draussen, die unbestritten ein ziemlicher Hammer ist - Grund genug , sich mit Gitarrist Jean über Phänomene wie stinkende Kleidung oder "Amibonus" zu unterhalten.
Zu Beginn dieses Interviews soll erstmal die übliche Nüchternheit stehen: Stell dich doch bitte kurz vor und liefere denjenigen Lesern, die NRA noch nicht kennen sollten, ein paar Fakten zur Bandhistorie.
"Mein Name ist Jean und ich spiele bei NRA die Gitarre. Daneben bin ich auch der Bassist von HUMAN ALERT, die ja auch einigen in Deutschland bekannt sein sollten. Allerdings werde ich dort nicht mehr sehr lange bleiben, weil mir einfach die Zeit fehlt, beide Bands unter einen Hut zu bringen. NRA spielen jetzt seit etwas mehr als zehn Jahren zusammen, eine sehr erfreuliche Tatsache, die wir übrigens am 1. März mit einer großen Party im Amsterdamer Paradiso feiern werden! Nach einem Jahr nahmen wir ein Demo auf, das überall sehr gute Kritiken bekommen hat. Daraufhin haben wir eine Platte für "Smash Hit Records" eingespielt, wobei uns auch Bill Stevenson und Bill Egerton von ALL/DESCENDENTS behilflich waren. Von dort an lief die Sache von alleine: Wir trafen Vic Bondi, der unsere nächste 7" und den zweiten Longplayer "Surf City Amsterdam" produzierte. Seit damals haben wir auch einen zweiten Gitarristen namens Svengus Young. Bitzcore wurde unser Label, auch ein paar größere Firmen hatten an uns Interesse. Als zu Beginn der Neunziger das Melodic Punk/HC-Ding größer wurde, waren wir in Holland die einzige Band dieser Art, obwohl wir eigentlich wenig mit Musik Marke NO FX oder GREEN DAY zu tun haben - was zu ein paar Engagements als Vorband für gewisse Acts führte: Seit dem sind wir in der hiesigen Musikszene kein unbeschriebenes Blatt mehr."
Zurück in die Gegenwart: Nach dem Release eurer neuen Platte "New Recovery" wart ihr auf großer Tour. Wo seid ihr überall gewesen und wie seid ihr vom Publikum aufgenommen worden?
"Zuerst waren wir drei Wochen mit BLUE TIP aus Washington, DC auf Tour, was wirklich klasse war! Danach sind wir alleine durch die Gegend gezogen, u.a. waren wir in der Schweiz, in Frankreich, Belgien, Spanien und Deutschland. Gerade Spanien war ein Erlebnis, denn hier waren wir als Band zum ersten Mal: In Gorliz im Baskenland spielten wir vor 200 Leuten in einem kleinen Kellerraum, alle kannten unsere Songs. Es war phantastisch! Aber Deutschland war auch nicht übel, was nicht selbstverständlich war, denn die letzten fünf Jahre haben wir uns dort etwas rar gemacht. Aber mittlerweile entwickelt sich eine wirklich konstruktive Sache zwischen unserem Booker und unserem Label Flight 13."
Wie seid ihr in Kontakt zu Flight 13 gekommen? War das eher Glück oder ein konkreter Wunsch einer von beiden Parteien?
"Jürgen von Bitzcore hat uns erzählt, dass dort jemand verschärftes Interesse hätte, unsere neue Platte auf Vinyl herauszubringen. Wir haben Tom ein Tape mit den Aufnahmen geschickt, von denen er so begeistert war, dass er sich sogar an den Studiokosten beteiligt hat! Seit wir bei "Leaded" seinerzeit die Vinylversion selbst bezahlt haben - Virgin wollte nur die CD-Version herausbringen - wissen wir einen solchen Freundschaftsdienst richtig einzuschätzen, denn das Herausbringen einer LP ist eine wirklich teure Sache!"
Zurück zu eurer Tour: Eure Bühnenshows sind ja reichlich spektakulär und athletisch, was in der Vergangenheit zu dem ein oder anderen Fauxpax geführt hat, wie z.B. damals, als Aziz auf einem Popkomm-Konzert auf einem Boot beim Stagediven Kontakt zum Deckenventilator aufnahm. Gibt es wieder ähnliche Katastrophen zu berichten?
"Klar, in Spanien habe ich mir beim Stagediven eine Rippe übel verstaucht. Allerdings hat sich das erst am nächsten Morgen bemerkbar gemacht: Tagelang durchlitt ich furchtbare Qualen und konnte nur mit Schmerztabletten auf die Bühne, wo ich dann wie ein Zombie rumstand. Aziz hingegen hat gleich nach drei Tagen seine Privat-Tasche verloren. Er hatte nur noch die Klamotten, die er am Leib trug. Er meinte zwar, es sei schön, nun von allen materiellen Zwängen befreit zu sein, nach ein paar Tagen fing er aber an fürchterlich zu stinken, weshalb wir ihn zum Kauf einer neuen Garderobe nötigten, haha. Ach ja, seit Ende unserer Tour sind wir nur noch zu dritt, denn Svengus hat sich aus Motivationsgründen von uns getrennt."
Für mich war NRA die letzten Jahre etwas unterrepräsentatiert, was du im Falle von Deutschland ja schon selbst gesagt hast. Das lag wohl an eurem Majorlabel-Ausflug. Hast du das Gefühl, mit der neuen Platte und nach eurer Tour nun wieder in den Schoß der "Szene" zurückgekehrt zu sein?
"Also, das Gefühl, außen vor zu sein, hatten wir in den letzten Jahren eigentlich nie. Nach der Majorplatte standen wir fast ein halbes Jahr lang ununterbrochen auf der Bühne, allerdings fast nur in Holland und Frankreich. Das Touren war damals genauso wie vor der Majorphase, da hatte Virgin keinerlei Einfluss drauf. Was aber fatal war, war die Tatsache, dass die Kontakte zu kleinen Mailordern und Plattenläden volkommen abgeschnitten wurden. Das hat uns nicht gerade fröhlich gestimmt, wie du dir denken kannst! So ist das halt beim Major: Du arbeitest mit Leuten zusammen, die zwar lebhaftes Interesse an dir haben, allerdings keine Ahnung von der Independent-Szene und erst recht kein Lust, daran etwas zu ändern. Deshalb ist es großartig, inzwischen wieder mit Leuten zusammenzuarbeiten, die uns sowohl persönlich mögen als auch einen echten Bezug zu ernsthaft unabhängiger Musik haben."
Was war denn nun eigentlich der Grund für eure Trennung von Virgin. Ich vermute fast, die Verkaufszahlen...
"Das Album "Leaded" hat sich tatsächlich nicht sonderlich gut verkauft, woraufhin die Virgin-Leute über ein neues Konzept nachgedacht haben. Daraufhin haben wir allerdings vorgeschlagen, gar nicht erst eine neue Platte einzuspielen, denn verbiegen lassen wollten wir uns nicht! Glücklicherweise haben die das auch eingesehen und entliessen uns aus dem Vertrag. Insgesamt war diese Majorsache eine riesengroße Enttäuschung für uns: All unser Enthusiasmus hat sich innerhalb kürzester Zeit zerschlagen. Letztlich haben wir aber gelernt, dass wir halt keine Band für ein Majorlabel sind. Wir haben nun keinen Ehrgeiz mehr, den "Durchbruch" zu schaffen und unbedingt große Massen zu erreichen. Dazu haben wir weder das Potential noch die Lust."
Wie verkauft sich denn die neue Platte? Hast du irgendwelche Zahlen auf Lager?
"Die CD liegt ähnlich wie die "Leaded", allerdings verkauft sich die Vinylversion viel viel besser: Insgesamt werden wir wohl ungefähr 5.000 Stück verkaufen, ich denke, diese Zahl ist durchaus realistisch. "New Recovery" wird auch in den Staaten veröffentlicht werden, woran wir schon ein paar Hoffnungen knüpfen. Ich denke, dass immer mehr Leute merken werden, wie großartig diese Platte eigentlich ist."
Einige Reviewer schreiben, dass sich NRA mit "New Recovery" mehr und mehr in Richtung HÜSKER DU bewegt hätten...
"Was selbstverständlich richtig ist, bloß denke ich, dass dieser Einfluss schon auf allen unserer bisherigen Platten vorherrscht. Für die neue Scheibe sehe ich MISSION OF BURMA als Hauptinspiration. Ich denke, wir haben nun mehr Tiefe in unserer Musik: Bisher sind wir vom Publikum häufig als eine Art "Funband" - "Surfpunk" eben - angesehen worden, was in totalem Kontrast zu unserem eigentlichen emotionellen Anliegen stand. Von diesem "Vorurteil" konnten wir uns lange nicht lösen, inzwischen aber bin ich davon überzeugt, dass die Leute die Gefühlslage unserer Musik richtig einschätzen. Zudem sehe ich auf "New Recovery" auch mehr und mehr Anteile eher traditionellen Rock´n´Rolls."
Ein typisches Merkmal von NRA ist es meiner Ansicht nach, dass ihr zwar qualitativ sehr hochwertige Musik macht, was ja auch durch die Prominenz an den Reglern unterstrichen wird, so etwas wie "Erfolg" sich aber nicht eingestellt hat. Ist es nicht frustrierend zu sehen, wie jede pisselige Amiband weitaus mehr Platten verkauft als ihr, obwohl sie nicht annähernd eure Güte erreicht? Ich spreche von diesem unsäglichen "Amibonus"...
"Ich finde, wir sollten uns nicht beschweren. Es war uns in den letzten zehn Jahren möglich, mehrere coole Scheiben aufzunehmen und eine Menge Shows zu spielen. Leute haben diese besucht und unsere Platten gekauft. Keine Millionen, klar, und wir haben wir eine Menge Kohle investiert, um NRA in Gang zu halten, aber trotzdem lieben wir die ganze Sache. Weil wir wirtschaftlich nicht auf die Band angewiesen sind, können wir Phänomenen wie Verkaufszahlen auch etwas entspannter begegnen. Wir sind deshalb schon stolz darauf, niemals unsere Seele verkauft zu haben und jedem in die Augen gucken zu können, ohne rot zu werden. Und was diesen "Amibonus" angeht: Daran läßt sich eh nichts ändern, weshalb ich mir auch keine Gedanken mehr darüber mache."
Was sind das denn für Jobs, die euch wirtschaftlich unabhängig machen?
"Ich bin Maschinenbauingenieur, habe aber schon lange nicht mehr in diesem Bereich gearbeitet, weil es sich mit der Band und meiner Familie nicht vereinbaren läßt. Stattdessen halte ich mich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, z.B. produziere ich ab und zu ein Album oder arbeite aushilfsweise als Toningenieur. Hauptsächlich kümmere ich mich aber um die NRA-Homebase, wie Buchhaltung, unsere Website, Labelkontakte und so weiter. Tjeerd, unser Drummer, ist ein aufstrebender Graphikdesigner, Aziz hat seinen eigenen Plattenladen - Independet Outlet in Amsterdam - und Gwynn arbeitet als Sozialarbeiter."
Ihr lebt ja im schönen Holland, das in den Achzigern und frühen Neunzigern eine recht große Hardcore-Szene besaß.. Was existiert heute noch davon? Wenn ich auf einem Konzert z.B. in Eindhoven bin, habe ich schon den Eindruck, dass sich noch eine Menge Leute für Punk/Hardcore interessieren.
"Ich denke auch, dass die holländische Szene in keinem schlechten Zustand ist. Es gibt auch heute noch genug Fanzines, Konzertveranstalter und neue Bands. Wir sind dabei eine der wenigen Punkbands, die sowohl in der traditionellen Szene akzeptiert ist, als auch im Radio gespielt wird. Aber ganz gleich: Solange es eine Band wie SEEIN´ RED gibt, ist Punk in Holland "still alive".
Was sind eure Pläne für die Zukunft? Sind irgenwelche neue Aufnahmen oder Nebenprojekte gefragt?
"Wir arbeiten schon an ein paar neuen Songs, die wirklich gut rocken! Allerdings werden wir dieses Jahr nichts mehr veröffentlichen, vielleicht Anfang 2001. Tjeerd allerdings wird mit seiner zweiten Band BEAVER FEVER dieses Jahr das Debütalbum einspielen. Und NRA werden hoffentlich in den Staaten auf Tour gehen, sobald "New Recovery" dort auf dem Markt ist. Aber auch in Deutschland und Frankreich werden wir dieses Frühjahr mehr als einmal auftauchen!"
O.k., dann wünsche ich euch viel Glück auf allen Wegen!
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #24 III 1996 und Joachim Hiller
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