Die Electropunk-Pioniere DAF skandierten einst in ihrem Song „Nachtarbeit“: „Erotik ist vorbei. Maschinen machen Spaß. Sex ist verkrüppelt. Normales Leben in der neuen Zeit. Schnelle Produktion für die schnelle Republik. Wer täglich stirbt, lebt für den Augenblick.“ Erotik ist definitiv nicht vorbei, sondern vielmehr signifikanter Bestandteil der als NOBLESSE OBLIGE bekannten künstlerischen Kooperation von Valerie Renay und Sebastian Lee Phillips. Gleichwohl spielen eine geschärfte deutsche Sprachästhetik und geradlinige elektronische Beats, im Geiste Robert Görls und Gabi Delgado-López’ (die im Januar wieder als DAF live zu sehen sind), eine gewichtige Rolle für das Duo. Und die Nacht brauchen NOBLESSE OBLIGE für die Umsetzung ihrer künstlerischen Ideen unbedingt. Auch „In Exile“, das gerade veröffentlichte, zweite Album der Neu-Berliner, ist ein gekonnter Mix aus Discopunk, französischem Chanson, Sixties-Flair, militärischen Beats (mit Einflüssen bis hin zu African Tribal Tunes), schräger Folklore und reduzierten Akustikballaden. Die Texte sind einem etwas bizarren Humor geschuldet, voller dunkler Obsessionen und destruktiver Fantasien.
Die ersten Clubnächte, die von NOBLESSE OBLIGE bereits 2004 in London als DJ-Set beschallt wurden, trugen den viel versprechenden Titel „Caligula“, und ein Songtitel wie „Tanz, Mephisto!“ vom aktuellen Album mag Präjudiz dafür sein, wohin die Reise geht. Allerdings ist ihr neues Album deutlich ruhiger und gefasster als ihr Debüt „Privilege Entails Responsibility“ (2006), bei dem Electronic Riot sehr viel stärker Pate für das Konzept von NOBLESSE OBLIGE gestanden hat und lässt Raum für fast romantisch anmutende Songs („East of Eden“) im Stile der COCTEAU TWINS. Dennoch, „In Exile“ beschert Leidenschaftliches im Bermudadreieck aus Charme, Exzentrik und der glamourösen Ästhetik der in Gesang und Schauspielerei geschulten Frontdiva Valerie Renay, die mir einige Fragen beantwortete.
Ich finde die Beschreibung eurer Auftrittsorte – „NOBLESSE OBLIGE playing liveshows from hipster nightclubs in Paris to S&M dungeons in Rome, back to warehouse raves and art galleries of East London“ – sehr treffsicher und bezeichnend für das Bandkonzept, weil offenbar wird, dass eure Einflüsse nicht nur aus der Musik, sondern auch aus verschiedenen Facetten von Kunst, Theater und Underground-Kultur stammen. Was würdest du als die zentralen Inspirationsquellen im Hinblick auf Musik, Kunst und Mode in eurem Gesamtkonzept sehen?
Die wichtigste Inspiration für mich ist das Leben an sich: alles, was das Leben bereichert und erfüllt, Menschen, die du triffst, der Geschmack von Kaffee am Morgen, ein guter Song, den du zufällig im Radio hörst. Die Schönheit des Lebens, aber auch Ängste und Schmerzen, mit denen du täglich konfrontiert bist, bestimmen dich. Alle deine Sinne nehmen diese Einflüsse auf und führen dich zu einem kreativen Prozess. Du transformierst den Geruch von Regen und den Moment, wenn die Dunkelheit hereinbricht, in einen Mix aus elektronischen Versatzstücken und Licht und verbindest es mit dem Gesang oder einer Basslinie. Natürlich gibt es generelle Einflüsse, die daraus resultieren, dass Sebastian und ich große Filmfans sind und besonders Filme von Ingmar Bergman, Alejandro Jodorowsky, David Lynch, Claire Denis und Stanley Kubrick sowie Terry Gilliam zu unseren Favoriten zählen. Auch Literatur spielt eine wichtige Rolle in diesem Kontext: Stefan Zweig, Sarah Kane, Dostojewski, Jean-Paul Sartre sowie Françoise Sagan und Haruki Murakami. Mode hingegen interessiert mich überhaupt nicht. Ich mag klassische und zeitlose Schönheit, verabscheue aber den konsumtiven Aspekt von Mode. Kleidung sollte eine gewisse Stimmung ausdrücken, für einen bestimmten Abschnitt im Leben stehen, eben wie Musik oder ein guter Film. Ich mag den Vintage-Stil, weil er eine Vergangenheit hat, eine tiefere Geschichte, und nicht an der Oberfläche verbleibt.
Es ist offensichtlich, dass ihr eine ausgeprägte Neigung zur deutschen Sprache habt, und teilweise verwendet ihr ja deutschsprachige Versatzstücke in euren Texten. Ich denke, DAF ist musikalisch sowie vom Wortfluss her ein wichtiger Einfluss. War das auch ein Grund, von London nach Berlin überzusiedeln, in diese von Steve Morell geprägte „Berlin Insane“-Electroszene, weil dort euer Konzept besser passt?
Obwohl ich jetzt seit zwei Jahren in Berlin lebe, spreche ich noch kein Wort Deutsch. Die Stadt ist sehr kosmopolitisch, was es mir ermöglicht, auch mit Englisch zu überleben. Das Konzept und die Idee hinter NOBLESSE OBLIGE würden aber eigentlich überall funktionieren, da sie von spezifischen Wertschätzungen bestimmt sind, Respekt, gegenseitigem Verständnis, sowie zeit- und grenzenlosen Idealen. Natürlich, wir schätzen DAF sehr, denn sie waren wichtige Pioniere in ihrer Zeit, und was sie machten, ist für uns immer noch von Bedeutung. Diese „Berlin Insane“-Geschichte und die dazugehörige Compilation sind im Wesentlichen das Ding von Steve Morell. Steve war der Erste, der uns nach Berlin eingeladen, uns perfekt in die Stadt mit all ihren vernetzten Underground-Aktivitäten eingeführt und uns mit den richtigen Leuten vernetzt hat. Steve ist immer noch ein guter Freund von uns.
Der bekannte deutsche Pop- und Underground-Fotograf Wolfgang Tillmanns, der jetzt in London lebt, wird als einer eurer Fans zitiert. Wie ist es dazu gekommen? Plant ihr etwas im Kontext von Fotografie?
Wir haben Wolfgang das erste Mal in Kopenhagen auf einem unserer Konzerte getroffen. Er war so begeistert von unserem Auftritt, dass er sogar eines unserer T-Shirts mitgehen ließ. Ich habe eine sehr starke Affinität zur Fotografie. Fotos sind wie ein Moment gefrorener Zeit, eine Art deformierte Erinnerung: flach und still. Ich habe einmal ein Theaterstück in London über Fotografie inszeniert. Inhalt war die Obsession der Welt in Bezug auf Fotos und Bilder und wie sie die öffentliche Wahrnehmung bestimmen. Das Stück basierte auf dem Buch „The Adventure Of A Photographer“ des italienischen Schriftstellers Italo Calvino. Darüber hinaus bin ich großer Fan der amerikanischen Underground-Fotografin Cindy Sherman.
Einerseits wurden eure Songs remixed, beispielsweise von En Esch, ex-KMFDM, und andererseits habt ihr auch Remixes von Songs anderer Künstler gemacht. Aber wie sieht es mit einer direkten Kollaboration mit anderen Musikern aus? Ich denke da zum Beispiel an Amanda Palmer von den DRESDEN DOLLS.
Wir waren sehr glücklich, vor ungefähr einem Jahr mit den DRESDEN DOLLS in Großbritannien auf Tour gewesen zu sein. Ich bin ein wenig traurig, dass Amanda ihre Soloaktivitäten forciert. Ich bin sehr fasziniert von der Kombination und Chemie zwischen ihr und Brian. Dieses Mann/Frau-Bandformat entwickelt bei Konzerten eine ungemeine Spannung. Sebastian und ich haben allerdings innerhalb unseres Formats noch so viel auszuloten und zu erkunden und so viele Ideen, zum Beispiel denken wir gerade daran, ein drittes Album aufzunehmen, dass Kollaborationen nicht wirklich einen Platz finden würden. Es ist immer noch ein reiner NOBLESSE OBLIGE-Film. Um ehrlich zu sein, habe ich gegenwärtig nicht das Bedürfnis, mit jemand anderem als Sebastian zusammenzuarbeiten.
Welcher Natur sind deine Einflüsse als Sängerin?
Meine erste Gesangslehrerin war halb Italienerin, halb Französin und Opernsängerin. Ich habe eine sehr klassische Gesangsausbildung genossen. Als ich allerdings feststellte, dass sich meine Stimme so derart veränderte, wurde ich etwas panisch. Denn obwohl ich Sängerinnen wie Billie Holiday und Ella Fitzgerald sehr verehre, berührten mich beispielsweise Nico und Elie Medeiros sehr viel mehr. Meine Mutter sagte einmal, dass meine Stimme Ähnlichkeit mit der von Françoise Hardy hat. „Was für ein Kompliment“, habe ich mir gedacht. Ich mag Sängerinnen wie Alison Mosshart von THE KILLS, Beth Gibbons von PORTISHEAD und Alice Glass von CRYSTLE CASTLE. Allerdings sind es nicht nur ihre Stimmen, sondern eher die gesamte Aura, die sie umgibt, und ihre Charaktere, die mich faszinieren. Das alles hat aber eher einen indirekten Einfluss auf meinen Gesang.
Du bist auch Schauspielerin und hast bereits mit Philippe Gaullier in London gearbeitet und bist nun unter deinem Alter Ego „Femme Façade“ aktiv. Gibt es hier spezielle Pläne, beispielsweise an der Volksbühne in Berlin?
Das könnte sicherlich sehr interessant sein. Aber um ehrlich zu sein, in dieser Phase meines Lebens ist es nicht die Art von Schauspielerei, die mir als „Femme Façade“ vorschwebt. Ich entwickle meine eigenen Shows, schreibe selbst, bin verantwortlich für die Choreografie, das Design der Kostüme und schreibe die Musik gemeinsam mit Sebastian. Es ist sehr aufregend und eine sehr persönliche und intime Arbeit, auf diese Weise zu produzieren. Ich habe eine Vision in meinem Kopf und die kann ich auf der Bühne genauso präsentieren. Es ist eine sehr dankbare Arbeit, besonders wenn Zuschauer nach der Performance zu mir kommen und sich immer noch an bestimmte Textpassagen erinnern können. Das bedeutet mir sehr viel.
Ihr habt bereits mit dem Underground-Regisseur Edwin Brienen für seinen Film „L’amour Toujour“ zusammengearbeitet. Wie ist der Kontakt zustande gekommen? Gibt es für NOBLESSE OBLIGE weitere Pläne an Filmprojekten zu partizipieren?
Edwin hat uns zunächst um Erlaubnis gebeten, einen unserer Songs in einem Film zu verwenden. Anschließend hat er uns nach Berlin eingeladen und hat für unser Stück „Quel genre de garçon“ das Video gedreht. Als wird dann ganz nach Berlin gezogen sind, hat uns Edwin erneut angesprochen, ob wir in seinem Film „L’amour Toujour“ mitwirken wollen, in dem auch der Schauspieler Erwin Leder mitspielt, der auch bekannt ist als der Maschinist aus „Das Boot“. Es war sehr interessant, mit Erwin Leder zusammenzuarbeiten. Filmprojekte sind natürlich sehr faszinierend, aber daran mitzuwirken ist äußerst zeitintensiv und die Mitwirkung von sehr vielen Beteiligten in einem großen Team kann manchmal auch etwas frustrierend sein.
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