Martin Schmidt

Foto© by Inka Mahr

Gitarren-Desinteresse

Martin Schmidt ist nicht nur Gitarrist in der Surf-Punk-Combo THE RAZORBLADES, sondern auch Gitarrenlehrer an seiner eigenen Guitar School und als Journalist für das Magazin Gitarre & Bass tätig, um nur einige seiner Referenzen zu nennen. Im Interview gewährt er einen Einblick in die Welt des Musikunterrichts und ordnet ein, ob das Ungleichgewicht von Frauen in Punkbands bereits bei der Wahl des Instruments beginnt.

Du bist mit der Band THE RAZORBLADES aktiv, du bist also auch in der Punk-Szene. Warum, denkst du, sind so wenige Frauen in Bands aktiv?

THE RAZORBLADES sind keine reine Punkband, von daher agieren wir im Umfeld Punk, Rock’n’Roll, Surf, Rockabilly und im weitesten Sinne Underground und Subkultur. Es ist sicher wahr, dass der größte Teil von Musikern, aber auch Technikern, Tourmanagern und so weiter, in diesem Bereich männlich ist. Warum das 2021 immer noch so ist, kann ich schwer beantworten. Ich glaube nicht, dass Frauen oder Mädchen bewusst und aktiv am Musikmachen gehindert werden und kenne auch diverse Musikerinnen, die engagiert und genauso zielstrebig wie Männer ihre Musik verfolgen. Ich glaube, dass es allgemein heute nicht mehr so angesagt ist, eigene und nicht Mainstream-artige Musik zu machen und das macht es somit auch den Frauen nicht leichter, gegen die üblichen gesellschaftlichen Klischees anzukämpfen. Gerade in der alternativen Szene finde ich die aber weniger präsent als im Rest der Gesellschaft – THE RAZORBLADES haben schon mit diversen Frauen gearbeitet, als Sängerin, Bookerin, Clubbetreiberin oder auch am Mischpult. Für mich macht das keinen Unterschied – eine Person ist nett und macht das, was sie macht, gut oder eben nicht, unabhängig vom Geschlecht. Natürlich gibt es diese stereotypen Rock’n’Roll-Klischees, die für eine Frau bestimmt doppelt so nervig sind. Ich kann mir jetzt aber nicht vorstellen, dass das allein als Grund ausreicht, um zu sagen, ich mache keine Musik. Das will man und lebt dann eben mit den Widerständen – als Mann und Frau.

Kannst du dir vorstellen, dass dieses Ungleichgewicht bereits bei der Wahl des Instruments beginnt?
Es gibt definitiv mehr Sängerinnen oder Saxofonistinnen als Gitarristinnen, Bassistinnen oder Schlagzeugerinnen in meinem Umfeld, aber auch dafür habe ich keine wirkliche Erklärung. Grundsätzlich ist die Musikpädagogik in Deutschland immer noch sehr klassisch und altmodisch geprägt, was sicherlich nicht das Gründen von Bands fördert. Im Musikunterricht in der Schule stehen immer noch Notenlehre, Klassik und klassische Komponisten im Vordergrund. Auch der Einzelunterricht läuft oft noch nach der Devise: lerne erst mal ein Instrument „richtig“, nach Noten und in ein paar Jahren kannst du dann mit anderen zusammenspielen. Das ist gerade für Teenager nicht so spannend – da will man gleich etwas machen, das Spaß macht, cool ist und mit dem zu tun hat, was einem gefällt. Ich habe 17 Jahre lang ein Bandprojekt in einer Gesamtschule geleitet und das hat in dieser Hinsicht viel besser funktioniert. Die Kinder haben direkt zusammengespielt, was sicherlich viele für das Musikmachen begeistert hat, die sich nicht vom klassischen Einzelunterricht angesprochen gefühlt haben. Das war einfach Teil des Schulunterrichts und bestimmt 50% haben nach Ende des Projekts in unterschiedlichen Formen weitergemacht – in Bands oder mit Instrumentalunterricht. Auch die Zusammensetzung war diverser – ganz viele Mädchen, mehr Kinder mit Migrationshintergrund. Von daher denke ich, dass da der Knackpunkt liegt: man muss Interesse am Musikmachen wecken, ohne gleich mit Einzelunterricht, regelmäßigem Üben und den damit verbundenen Kosten anzufangen. Diese Vorstellung, dass Eltern sagen, meine Tochter soll lieber Flöte spielen oder singen, statt Gitarre oder Schlagzeug zu spielen, ist mir so noch nicht untergekommen, aber in einem eher spießigen Umfeld mag es das noch geben.

Siehst du bei deinem Gitarrenunterricht selber, dass es ein „Ungleichgewicht“ gibt? Zum Beispiel, dass Musikschülerinnen eher an Klassik und der Akustikgitarre interessiert sind, während Musikschüler eher an Rock und E-Gitarre interessiert sind?
Definitiv nicht. Ich versuche immer das zu unterrichten, was den Schüler oder die Schülerin interessiert. Von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, interessiert sich jemand für Klassik. Fast alle wollen etwas spielen, das sie kennen und sich „cool“ anhört. Auch die Frage E- oder Akustikgitarre orientiere ich am Schüler. Es gibt da aber auch Kollegen, die das dogmatischer sehen und am Anfang auf Akustikgitarre nach Noten bestehen. Da werden dann aber auch keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gemacht, sondern es wird eben die Klassik-Gitarrenschule durchgespielt wie damals, als ich angefangen habe, was übrigens 1980 war. Das ist dann Teil des konservativen Geists, den ich in der Frage vorher schon angesprochen habe.

Denkst du, dass es zu wenige Vorbilder für Mädchen in der Rockmusik gibt, wodurch sich ein Teufelskreis bildet? Wenn ich an Frauen mit Gitarre denke, denke ich in der heutigen Zeit erst mal an Taylor Swift, die im Country unterwegs ist/war, dann vielleicht noch Avril Lavigne, die aber nur Anfang der 2000er eine E-Gitarre umhängen hatte und jetzt auch mehr mit dem Klavier zu sehen ist.
Ich denke, es gäbe schon eine Menge möglicher Vorbilder, aber die Frage ist, wie man die kennen lernt. Im Bereich Charts oder Mainstream gibt es ja sowieso kaum neue Bands oder Künstler, die ihre Musik auf echten Instrumenten oder Bandsituationen aufbauen. Und die etwas abseitigeren Musikerinnen haben es einfach schwer, wahrgenommen zu werden. Es gibt neue virtuose Gitarristinnen wie Anna Calvi oder St. Vincent, die auch kommerziell nicht unerfolgreich sind, aber das ist trotzdem kein Mainstream. Mir fallen auch Leute ein wie die Jazzgitarristin Molly Miller, die Pop-Noir-Sängerin Gemma Ray, die Surfbassistin Svetlana Zombierella Nagaeva oder Frauen wie Kim Gordon von SONIC YOUTH, Kim Deal von den PIXIES oder ihre Nachfolgerin Paz Lenchantin, aber wie viele Leute auf der Straße kennen diese Namen? Und als zehnjähriges Kind nimmt man eben das wahr, was die Eltern oder die Umgebung hören. Im kommerziellen Umfeld sind Frauen meistens als Sängerin sichtbar. Da würde dann nur ein breiter gefächertes Musikangebot weiterhelfen – im Radio, Fernsehen, im Musikunterricht, in der Presse, bei Stadtfesten, aber das ist heute wirklich alles sehr gleichförmig und formatiert und so stößt man dann eben nicht auf die genannten Musikerinnen.

Sagen dir Musikschülerinnen auch, warum sie sich für die Gitarre entschieden haben? Was sind ihre Gründe?
Die Gründe sind meist nicht so genau definiert. Oft ist es bei Kindern und Jugendlichen ein eher diffuses Interesse, Musik zu machen, das nicht direkt an eine bestimmte Band gebunden ist. Das Konzept „Das ist meine Lieblingsband, so was will ich auch machen!“ hat sich seit 15 Jahren ziemlich erledigt, GREEN DAY in der „American Idiot“-Phase und die WHITE STRIPES waren da so die letzten Anknüpfungspunkte. Von daher ist es eher ein allgemeiner Wunsch oder es kommt aus dem Umfeld – Eltern, Verwandte oder Ähnliches. Ein Papa oder eine Mama, der oder die in einer Band spielt, ist ein prima Motivator. Da gibt es aber bei meinen jugendlichen Schülern nicht so die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Bei den Erwachsenen teilt es sich dann auf in Leute, die schon spielen können und jetzt Lücken im Verständnis des Instruments schließen wollen, oder Menschen, die Musik als Ausgleich oder Hobby machen.

Was wollen Musikschüler:innen besonders gerne nachspielen, in Bezug auf Bands/Künstler:innen? Gibt es da Favorit:innen?
Meist spielt es sich zwischen Rockklassikern von den Sixties bis zu den frühen 2000ern und aktuellen Songs ab. Die RED HOT CHILI PEPPERS, METALLICA, DEEP PURPLE, Neil Young, GREEN DAY funktionieren heute genauso gut wie vor zwanzig Jahren. Ansonsten freut sich fast jeder, wenn er die Akkorde oder das Intro eines Songs spielen kann, den er gerne hört, egal ob es Max Giesinger, Ed Sheeran oder die Titelmelodie eines Videospiels ist. Das ist mittlerweile aber sehr individuell. In den Neunzigern habe ich wirklich ganze Nachmittage mit „Smells like teen spirit“ verbracht, weil das einfach jeder Schüler gut fand und spielen wollte. Heute ist das viel diverser und auch diffuser. Ich habe auch Schüler und Schülerinnen, die hören hauptsächlich HipHop oder Chartspop, spielen auch gerne Rockklassiker, hören sich aber nicht unbedingt die Bands privat an.

Was wollen im Gegensatz dazu Musikschüler:innen besonders gerne nachspielen? Gibt es da auch Favorit:innen?
Da gibt es nicht so den Unterschied zwischen den Geschlechtern. Das eben beschriebene Konzept kommt da auch meistens zum Einsatz. Erwachsene Männer zwischen 35 und 50 mögen gerne METALLICA, AC/DC und GUNS N’ROSES, weil sie das eben in ihrer Jugend gut fanden. Oft geht es aber irgendwann auch nicht mehr so um bestimmte Bands, sondern um allgemeine musikalische Probleme. Wie kann ich Akkorde variieren, improvisieren, Songs schreiben, warum passt das zu dem, wie funktioniert dieser Sound ...?

Wenn junge Mädchen ein Instrument aufgrund ihrer musikalischen Vorbilder spielen wollen, die meisten weiblichen Vorbilder aber in der Popmusik zu finden und Sängerinnen sind, wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? Wie kann die Gitarre, die Drums, der Bass interessanter für junge Mädchen werden?
Dazu müsste man einfach die Musikausbildung in der Schule ändern ... weg von der Klassik zu vielfältiger Musik und Bandunterricht, bei denen man Kindern die Instrumente vorführt und so Interesse weckt. Kaum jemand kommt von alleine auf die Idee, Bass zu spielen ... der fällt im musikalischen Zusammenhang nicht so auf und ist nicht so vordergründig. In einer Band ist er aber sehr wichtig und macht selbst mit rudimentären Fähigkeiten Spaß. Ich denke, man muss Kindern und Jugendlichen einfach viel mehr anbieten. Wenn man nie David Bowie, SIOUXSIE & THE BANSHEES, SONIC YOUTH, THE MUFFS oder eine der anderen tausend tollen Bands hört, die eben nicht im Classic-Rock-Radio oder von der Coverband beim Stadtfest gespielt werden, kann man sich auch nicht dafür begeistern. Ich finde es ziemlich traurig, dass der Musikunterricht immer noch so ähnlich funktioniert wie in meiner Schulzeit. Da hört man „Freude schöner Götterfunken“, singt BEATLES oder Kinderlieder und ansonsten lernt man Notenlesen oder irgendwelche Musiktheorie ... das war schon damals langweilig. Bei meinen Schülern ist es auch so, dass sie sich irgendwann für die Musik interessieren, die ich mache, einfach durch das direkte Vorbild. Und dann spielen eben 15-Jährige Surf-Songs ... worauf sie sonst im Leben nicht gekommen wären. Ein anderer Aspekt ist die allgemeine Nichtwertschätzung von Kunst und Musik. Musik ist immer dann bewundernswert, wenn man damit reich oder berühmt wird oder sie im medialen Rahmen einer Casting-Show stattfindet. Ansonsten lernt man lieber etwas „Anständiges“ und macht Musik als Hobby. Das wurde mir auch 1989 empfohlen, habe ich aber nicht gemacht. Wenn man in der Schule oder auch der Gesellschaft Musik und Kunst als wertvoll ansehen würde, würden sich auch mehr Menschen dafür begeistern und es ernsthaft betreiben. Denn genau dann kommt man als Musiker irgendwohin – wenn man sich lange und viel mit seinem Instrument und Musik beschäftigt und das geht eben nicht, wenn man vorher zehn Stunden in einem anderen Job gearbeitet hat. Kreativität muss als wertvoll angesehen werden, auch wenn sie nicht viel Geld abwirft oder Unmengen von Leuten erreicht. Heute wird vieles durch so eine BWL-Brille gesehen, was Geld bringt, ist gut, was nicht, kann man dann auch weglassen. Aber da könnten wir jetzt noch Tage drüber reden ...

Haben sich die Debatten der letzten Jahre, wie zum Beispiel die #MeToo-Bewegung, auch auf den Anteil der Musikschülerinnen ausgewirkt, so dass man sagen könnte, dass jetzt viel mehr junge Mädchen Interesse an der Gitarre haben als noch vor zehn oder zwanzig Jahren?
Ich glaube, dass #MeToo jetzt nicht so den Einfluss auf Musikunterricht hat, in dem Sinne: Ich will eine selbstbewusste, gleichberechtigte Frau sein, also spiele ich jetzt Bass statt Blockflöte. Das ist zu plakativ. Generell gibt es heute aber definitiv mehr Frauen und Mädchen, die zum Unterricht kommen. Früher waren das vielleicht 10%, heute eher so 25 bis 33%. Ein bisschen geht es schon voran. Viele Eltern sind auch nicht mehr so konservativ, sondern selbst mit Rockmusik aufgewachsen. Das hilft.

Kennst du Gitarrenlehrerinnen?
In meinem direkten Umfeld fällt mir da jetzt keine ein, was aber auch nichts heißen muss. Bassistinnen, Schlagzeugerinnen und Sängerinnen, die unterrichten, gibt’s aber einige. Und deutschlandweit kenne ich auch auf professioneller Ebene Gitarrenlehrerinnen, aber nicht so viele wie männliche Kollegen.