Im August begann eine Reportage über Hull in der „Zeit“ mit diesen Worten: „Wer den Brexit verstehen will, muss in den Norden Englands fahren. In der Hafenstadt Hull zeigt sich die gesamte Misere Großbritanniens und der Frust vieler Bürger.“ LIFE kommen aus Hull, leben und bleiben dort, werden aber, das ist absehbar, nach dem Release ihres zweiten Albums „A Picture Of Good Health“ (das Debüt „Popular Music“ kam 2017) Ende September mehr Zeit auf Tour verbringen als zuhause. Punk, Post-Punk – nenn’ es, wie du willst, sie haben den Sound zur Zeit, sind unnachahmlich britisch und haben für mich eines der packendsten Alben des Jahres veröffentlicht. Mez Green beantwortete meine Fragen.
Wie ist das Leben in Hull? Eine der Städte, aus denen man so schnell wie möglich wegziehen willst, oder einfach nur euer Zuhause?
Ohne Hull gäbe es LIFE nicht, die Stadt ist Teil unserer DNA und hat uns die Fähigkeit und den Antrieb gegeben, die Band zu werden, die wir sind. Wir alle leben, arbeiten und machen Musik in dieser Stadt. Wir werden uns immer auf diese Stadt beziehen, weil sie sehr stark in unsere Geschichte integriert ist.
Mit IDLES, SHAME, THE MURDER CAPITAL, FONTAINES D.C. und euch scheint es, als gäbe es gerade eine neue Welle junger Bands, die eine klassische britischen Musiktradition wiederbeleben. Zustimmung oder Wiederspruch?
Es ist erfrischend zu sehen, wenn Bands und Künstler mutig genug sind und Dinge nach ihren eigenen Wünschen gestalten. Ich denke, die Musikindustrie und die großen Labels haben viel Kreativität erstickt und es Menschen verleidet, in Bands zu sein. Es schien keinen Platz für die hässliche und grimmige Musik zu geben, die an den Rändern der Musiklandschaft existierte. Aber jetzt scheint sich das gerade zu ändern, jetzt kommen wir ins Spiel und machen ordentlich Krawall. Wir werden alle entweder im Feuer untergehen oder wir werden es durchqueren, bis die Realness siegt.
Was sind deine ersten musikalischen Erinnerungen und wie hängt das mit der Musik zusammen, die du mit deiner Band spielst?
Mein Vater fuhr mich und meinen Bruder und Gitarristen Mick immer in unserem abgefuckten Nissan Bluebird zur Schule und wir hörten dabei alle möglichen Punk- und Dub-Reggae-Platten. Meine ersten musikalischen Erinnerungen sind die verzerrten Tapes auf dem Schulweg. Darunter waren THE CLASH, PiL, THE POGUES, THE ADVERTS, THE FALL, FRONT LINE, CRASS und viele andere.
Was bedeutet Musik im Allgemeinen und speziell diese Band für dich?
Musik ist eine Flucht, sie ist Therapie, und sie erlaubt mir, der Mensch zu sein, für den ich mich halte. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich direkt durch die Musik von LIFE sprechen kann, da sie es mir ermöglicht, frei von all dem zu sein, wovor ich Angst habe.
Eure Platten sind auf Afghan Moon Records erschienen, eurem eigenen Label. Seid DIY, weil es eine Überzeugung oder eine Notwendigkeit ist?
DIY war eine Notwendigkeit, da der Tisch leer war und es nichts mehr zu essen gab. Wir mussten dass Ganze einfach zum Laufen bringen!
Ihr beide seid angeblich in einer „linken Hippie-Familie“ aufgewachsen. Manche behaupten, dass eine solche Erziehung einen in die entgegengesetzte Richtung treibt, wenn man ein rebellischer Geist ist. Wie lief es in eurem Fall?
Keine Chance – Mum und Dad sind Micks und meine Helden. Uns wurde nie ein Lebensstil aufgezwungen, uns wurde einfach Liebe geschenkt, und am Ende des Tages ist es die Liebe, die uns zu dem macht, was wir sind und was wir werden.
Denkst du, dass Bands einen politischen Anspruch haben sollten – oder ist alles nur Unterhaltung?
Ich denke nicht, dass Künstler eine bestimmte Agenda haben oder über bestimmte Themen reden sollten, nur um darüber zu reden. Wenn wir alle mit einer bestimmten Agenda ankommen, dann entsteht Kunst, die auf Unehrlichkeit und Gefühllosigkeit basiert. Ich denke, Künstler sollten einfach sich selbst treu bleiben und die Musik machen, die sie ausmacht. Meiner Meinung nach geht es bei Musik um Eskapismus, Gefühl und Spaß. Es geht darum, was mit dir passiert, wenn die erste Note in deinem Kopf explodiert.
Ende Oktober könnte es zum Brexit kommen. Vor kurzem hast du deinen Song „Euromillions“ aus dem Jahr 2017 nochbmal gepostet. Was sind deine Gefühle angesichts dem nächsten Versuch deines Landes, über die Klippen von Dover zu springen?
Die Politik in Großbritannien ist toxisch. Sie ist destabilisierend und zerstörerisch und baut auf Angst und Rassismus auf. Ihre einzige Funktion ist, die Reichen mehr Geld verdienen zu lassen, ohne auch nur die zunehmend abgehängten jungen wie alten Bevölkerungsschichten zu berücksichtigen. Die ganze Idee des Brexit ist eine Katastrophe, es ist die schlimmste Form von Selbstverstümmelung und Selbstmord, die ich in meinem Leben gesehen habe. Es fühlt sich an, als schwappe eine dunkle Welle um die ganze Welt, die von egoistischen Karrieristen angeheizt wird, die sich wirklich einen Dreck um die Menschen und den Planeten scheren.
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