Großartige Bands sind leider nicht immer gleichzeitig auch große Bands. LES SAVY FAV aus New York könnten davon ein Lied singen, aber wie man hört, wendet sich Sänger Tim Harrington in seinen Texten lieber anderen Themen zu. Wie auch immer: 15 Jahre auf dem Buckel, mit „Root For Ruin“ gerade erst das fünfte Album veröffentlicht (oder das sechste, je nachdem, wie man zählt) – und trotzdem geht das Quintett außerhalb der amerikanischen Heimat fast noch immer als Geheimtip durch. Das mag an der sympathischen Weigerung liegen, sich Trends anzubiedern und die Musik stilistisch wie technisch aufzumotzen, oder aber an der eher unregelmäßigen Frequenz beim Veröffentlichen neuer Alben. Zwischendurch war nämlich weder der Band noch den Fans richtig klar, ob und wie es weitergeht. Aber auch hartnäckige Verweigerungshaltung und fehlender Rockstar-Status verhindern nicht, dass die Band mit den schnöden Faulheiten des modernen Internetzeitalters zu kämpfen haben. Dennoch: LES SAVY FAV haben ihre ganz eigene kreative Art, mit den Dingen umzugehen, wie im Gespräch mit Schlagzeuger Harrison Haynes deutlich wird.
Die Geschichte hinter der Bandgründung ist hinlänglich bekannt und zur Genüge ausgelutscht: Die Ursprungsmitglieder hatten sich auf einer Kunsthochschule in Rhode Island kennen gelernt. Das Image einer Künstlerband, einer Art-Punkband werden LES SAVY FAV daher wohl nie mehr los. Dabei spricht auf „Root For Ruin“ einiges dafür, dass diese Einschätzung Unsinn ist: „Das Album ist so unkompliziert“, sagt Schlagzeuger Harrison Haynes zufrieden und begründet damit auch gleich, warum er das neueste Werk für das bisher beste der Band hält. Verkopfte Arrangements sucht man hier vergebens, ebenso wie künstlerische Spielereien beim Sound. Wo andere Bands im Laufe der Jahre mehr und mehr Geld für die Produktion ausgeben und somit immer glatter, massenkompatibler oder aber über die Maßen experimentierfreudig werden, geht das Quintett aus Brooklyn ganz bewusst den umgekehrten Weg: „Root For Ruin“ klingt noch fast genau so rauh und ungeschliffen wie die frühen Aufnahmen. Nicht „back to the roots“ also, sondern vielmehr „stick to the roots“.
„Ich schätze, ‚Root‘, also ‚Wurzel‘, hat im Albumtitel eine doppelte Bedeutung, auch wenn das gar nicht beabsichtigt war“, erklärt Haynes. „Wir haben definitiv an die Attitüde und die Musik derjenigen Bands gedacht, die unsere eigene Bandgründung angetrieben haben. Bands wie SIX FINGER SATELLITE zum Beispiel haben eine komische Art von Außenseiter-Direktheit erreicht, die einem beinahe in die Eingeweide geht. An diese Reinheit denken wir die ganze Zeit.“
Eine Ausnahme vom Brooklyn’schen Reinheitsgebot hat die Band nur einmal gemacht – auf dem Vorgängeralbum „Let’s Stay Friends“. Fast 30 Gastmusiker haben sich darauf versammelt und sorgten für zusätzliche Chöre, Streich-, Blas- und Tasteninstrumente. Unter den Gästen zahlreiche illustre Gestalten und (ehemalige) Indie-Größen wie Toko Yasuta (BLONDE REDHEAD), Matt Schulz und John Schmersal (ENON), Eleanor Friedberger (FIERY FURNACES), Joe Plummer (ex-MODEST MOUSE, jetzt SHINS), Emily Haines (METRIC, BROKEN SOCIAL SCENE) und sogar fachfremdes Personal wie Haus-Produzent Chris Zane und Schauspieler Fred Armisen, die mal trommeln durften.
Ob LES SAVY FAV das Experiment für misslungen halten, verraten sie nicht, auf dem aktuellen Album jedenfalls sind sie wieder ganz unter sich. „‚Let’s Stay Friends‘ war eine Party für den feigen Löwen, die Vogelscheuche und den Blechmann. ‚Root For Ruin‘ ist der Soundtrack für den geflügelten Affen“, erklärt Haynes geheimnisvoll und bedient sich dabei der Figuren aus dem Kinderbuchklassiker „Der Zauberer von Oz“ – Metaphern-Entwirren für Fortgeschrittene. So undurchschaubar diese Worte auch sind, so besagen sie offenbar vor allem eins: Am liebsten spielen die fünf eben mit sich selbst.
Allzu eilig scheint es die Band mit den Zusammentreffen wiederum nicht zu haben. Zwischen den vorletzten regulären Alben – „Go Forth“ und „Let’s Stay Friends“ – lagen gute sechs Jahre, zwischen letztgenanntem und „Root For Ruin“ sind nun auch wieder drei Jahre vergangen. „Wir haben alle verschiedene Interessen außerhalb der Musik, um die wir uns in den letzten Jahren eher gekümmert haben“, erklärte Gitarrist Seth Jabour vor ein paar Ausgaben an dieser Stelle. Bassist Syd Butler zum Beispiel betreibt das Label French Kiss Records, das praktischerweise gleich alle Alben von LES SAVY FAV herausbringt. Jabour wiederum ist Art Director für eine deutsche Firma und hat sogar ein Gastspiel bei PRETTY GIRLS MAKE GRAVES in seinem Lebenslauf stehen. Und unser Gesprächspartner Harrison Haynes ist Künstler und hat bis ins letzte Jahr hinein noch eine eigene Galerie geleitet.
Ganz so abgelenkt, wie es scheint, war die Band jedoch auch wieder nicht. „Du vergisst, dass zwischendurch noch ‚Inches‘ rauskam. Das bestand immerhin zur Hälfte aus neuem Material: eine neue EP, gehüllt in den offensichtlich undurchdringlichen Schleier eines Archiv-Projektes“, klärt Haynes auf. „Davon abgesehen: Ja, da ist eine Methode hinter unserem Wahnsinn. Es hat ungefähr 23 Jahre bedauert, bis unser erstes Album aufgenommen war. Dann zwei Jahre bis zum zweiten, dann ein Jahr, noch mal ein Jahr, dann drei Jahre, noch mal drei, und so weiter. Siehst du das Muster? Wie du dir nun sicher schon ausgerechnet hast, wird das nächste Album im Jahr 2023 veröffentlicht – oder eben vorher im Internet auftauchen.“
Wo wir gerade von French Kiss Records sprachen: Dass zumindest hierzulande auf LES SAVY FAV-Alben mittlerweile das Logo von Wichita Records prangt, die wiederum zum Cooperative-Music-Konglomerat zählen, bedeutet nicht, dass Syd Butler die Belange der Band aus der Hand gegeben hätte: „Er macht immer noch dasselbe wie vorher, wahrscheinlich sogar mehr. Ja, wir sind noch immer eine French-Kiss-Band und werden es auch immer sein. Ich glaube, es ist für US-Bands ziemlich typisch, mit zwei Labels zu arbeiten: mit einem in der Heimat und einem in Europa“, erklärt Schlagzeuger Haynes.
Wie wir anfangs gesehen haben, ist die Herangehensweise der Band an ihre Musik durchaus klassisch und unverfälscht. An den unschönen Begleiterscheinungen des Internetzeitalters kommt die Band trotzdem nicht vorbei. Fünf Wochen vor dem eigentlichen Veröffentlichungsdatum kursierte nämlich „Root For Ruin“ schon als Download im Internet – natürlich illegal. „Das scheint heutzutage ein bedauernswerter, aber unvermeidlicher Zustand zu sein“, seufzt Harrison Haynes. „Ich wüsste im Moment nicht, wie man damit umgehen sollte. Fakt ist, es ist ein Riesenproblem für Bands und mehr noch für Labels.“ LES SAVY FAV reagierten prompt und zogen das Release um fast fünf Wochen vor, um kaufwillige Fans nicht in Versuchung zu bringen, sich das Album auf unfeine Art und Weise zu besorgen.
Für diejenigen, die der Verlockung schon erlegen waren, machte sich die Band nachträglich ein Verfahren zunutze, das zum Beispiel RADIOHEAD bei ihrem Album „In Rainbows“ angewandt hatten: „Spende uns ein bisschen Knete und sei frei von Schuld – fürs Album“, schrieben LES SAVY FAV auf ihre Website und boten kurzerhand noch mehr transzendenten Service: „Zahl noch mehr, und dir seien auch Sexsünden und so was vergeben. Und wir sagen Jesus, er soll dir Kekse schicken.“ Es heißt, dass RADIOHEAD durch die freiwilligen Spenden besser weggekommen sind als auf dem herkömmlichen Weg. Für LES SAVY FAV ist die Sache wahrscheinlich nicht so glimpflich abgelaufen.
„Wir haben schon mit Humor darauf reagiert. Auf unserem Twitter-Account gab es Geschichten von einem Geist, der alle heimsucht, die das Album illegal herunterladen und noch mehr Spökes“, erzählt Haynes. „Wir wollen aber auch wirklich keine großflächige Diskussion über Copyright-Aktivismus führen.“
Illegale Downloads sind eben unvermeidliche Begleiterscheinungen. Aber solche, die den Schlagzeuger zu allerlei spaßigen Gedanken verleitet: „Ich mag die Idee eines ‚Köderalbums‘. Wie wäre es damit, den Spaß noch einen Schritt weiter zu treiben, bis ein paar Monate nach der Veröffentlichung zu warten und dann zu enthüllen, dass es sich um ein Fake-Album handelt? Es gäbe eine Menge Reviews, Radio-Airplay und sogar nachlassende Aufmerksamkeit – für ein Fake-Album!“ Zu solchen Gelegenheiten kommt dann wohl doch die künstlerische Ader der Bandmitglieder ans Licht.
15 Jahre treibt die Band nun schon ihr Unwesen auf den Bühnen vor allem jenseits des Atlantiks, aber bisher ist sie immer eine so genannte Kritikerband geblieben: geliebt von Rezensenten und gesegnet mit treuen Fans, aber einer breiteren Öffentlichkeit, auch hierzulande, nicht bekannt. Bei der Frage nach den Gründen dafür tut Haynes so, als sei das Absicht: „Ich kann dir ja nicht all unsere Geheimnisse offenbaren.“
Ist es ein bewusstes Understatement? Der geplante Verzicht auf ein großes Publikum, mit allen Vorteilen? Soll man „Root For Ruin“ also übersetzen mit „Verwurzelt im Ruin“? Nein, der drohende persönliche Ruin ist es wohl nicht, der Harrison Haynes umtreibt, eher der kollektive, wenn man seinen Worten glauben darf: „Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber jedes Mal, wenn ich das Radio anmache, die Zeitung aufblättere oder Nachrichten schaue, sehnt sich irgendein kleiner Teil von mir nach einem kleinen Hinweis auf die Apokalypse. Ich denke, der Albumtitel beschreibt, wie man die Beklemmung überwindet, die sich aus dem Wissen ergibt, dass man sterblich ist – und wie man diesen Zustand feiert! Ganz so, als ob man mit dem Gesicht nach vorne in eine gewaltige Welle springt.“
Von derlei Todesmut wird man offenbar in den nächsten Jahren noch eine ganze Menge erwarten dürfen. Rückblickend nämlich kann Haynes der Zeit nur Positives abgewinnen: „Die bisherigen Jahre fühlen sich sehr gut an. So viele Freunde, die wir für immer haben werden, so viel Gastfreundschaft und reine Wärme. Unglaublich viel Vergnügen. Spaß zu haben ist so fucking cool.“ Na dann, weiterhin viel Spaß, bitte.
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