Als KOTZREIZ 2010 mit dem Album „Du machst die Stadt kaputt“ und der Hymne „Berlin“ um die Ecke kamen, ging ein Aufatmen durch die Deutschpunk-Szene: Endlich wieder nur drei Akkorde, keine Soli und verschwurbelten Texte. KOTZREIZ haben für klare Verhältnisse gesorgt („Ob Fußball oder Golf, Nazis in den Fleischwolf“), aber dabei auch andere wichtige Dinge des Punkerlebens nicht vernachlässigt: „Wir woll’n nicht ins Arbeitsamt, wir wollen saufen die ganze Nacht!“ Ihr Label Aggropunk tat ein Übriges und veröffentlichte den ersten Aggropunk-Sampler, wodurch etwa RASTA KNAST, POPPERKLOPPER und RAWSIDE einen zweiten Frühling erlebten. Man sah vermehrt Teenies mit KOTZREIZ-Shirts- und -Jutebeuteln, Deutschpunk war wieder da, und auch SLIME und TOXOPLASMA ließen es sich nicht nehmen, neue Alben aufzunehmen. Nach der „Punk bleibt Punk“-7“ 2012 ist es aber lange ruhig um die drei Berliner geworden. Jetzt sind KOTZREIZ mit dem Album „Nüchtern unerträglich“ zurück. Sänger und Schlagzeuger Chris erzählt.
Chris, was habt ihr in der Zwischenzeit getrieben, euer letztes Album erschien ja 2012?
Ja, keine Ahnung, wie die Zeit so schnell vergehen konnte. Es ist jetzt nicht so, als hätten wir in der Zeit Familien gegründet oder einen vernünftigen Beruf erlernt. Wir hatten viel zu tun mit unseren anderen Bands und musikalischen Projekten. Jetzt sind wa wieder da!
Wie kam es, dass ihr euch nach der langen Zeit wieder zusammengetan habt?
Auf Eis gelegt oder so was war die Band ja nie. Wir haben ja auch die ganze Zeit über Konzerte gespielt und 2015 noch die „Die Stadt gehört den Ratten“-7“ rausgebracht. Zur selben Zeit kam dann auch Matt dazu und hat uns als Band mal wieder einen Arschtritt verpasst, endlich ein neues Album zu veröffentlichen. Und zack, fünf Jahre später halten wir „Nüchtern unerträglich“ in den Händen. Flott!
Was habt ihr gemacht? Du warst zum Beispiel als Schlagzeuger mit JENNIFER ROSTOCK unterwegs. Wie kam’s da zum Ende? Sind KOTZREIZ dabei auf der Strecke geblieben? Und was hat Fabi in der Zeit gemacht?
JENNIFER ROSTOCK gab es als Band jetzt genau zehn Jahre. Da wir in der Zeit wirklich sehr viele Konzerte gespielt haben, bleiben da natürlich das Privatleben und die anderen Bands etwas auf der Strecke, aber das ist vollkommen okay so. Während die anderen Bandmitglieder von JENNIFER ROSTOCK in den Urlaub gefahren sind, bin ich eben mit KOTZREIZ auf Tour gegangen. Es waren ganz wundervolle zehn Jahre! Fabi spielt ja bei ANTILOPEN GANG Gitarre und hat dasselbe „Problem“!
Ihr habt ein neues Gesicht dabei. Wer ist das, wie kam der zu euch? Wohnt der auch in eurer sagenumwobenen KOTZREIZ-WG? Angeblich schreibt ihr da eure Songs.
Matt ist dazugekommen. Mitte dreißig, netter, gut aussehender, wasserstoffblondierter, schnauzbärtiger Mann mit genug Geduld, Tourerfahrung und Durst, um bei KOTZREIZ Bass spielen zu können, dürfen, müssen. Matt hat früher mal bei SAILING ON gespielt, so female-fronted Hardcore, wie die Kids heutzutage sagen. Matt und ich spielen auch noch zusammen in einer weiteren Band namens BLOODHYPE. In der von dir angesprochenen KOTZREIZ-WG hausen nur Fabi und ich. Fabi hat sich über die Jahre ziemlich hilfreiches Wissen angeeignet, was Recording angeht. Wir nehmen schon seit der ersten Platte alles komplett alleine bei uns zu Hause auf und mischen auch selber. Und wie ich finde, hört man da einen gewaltigen Unterschied, wenn man das erste und das aktuelle Album mal nur rein soundtechnisch vergleicht.
Seit es euch gibt, stecht ihr aus der Masse an Punkbands heraus, weil ihr so einen simplen Drei-Akkorde-Schrammelpunk macht, mit Texten, die man verstehen und nachvollziehen kann. Aber wie bitte schön kommt so ein waviger Song wie „Toilettenstern“ zustande?
Haha. „Toilettenstern“ ist eigentlich eines meiner Lieblingslieder von der Platte, falls man so was von der eigenen Band überhaupt haben darf. Eine Mischung aus GANG OF FOUR und Wolfgang Petry, behaupte ich jetzt hier mal, damit ihr das groß, rot und kursiv als Zitat abdrucken könnt. In dem Lied geht es um Gleichberechtigung und freibestimmte Sexualität, verpackt in einem Berliner Siff-Keller-Techno-Stroboskop-Szenario.
Hat da die Berliner Techno-Szene „zugeschlagen“? Ich habe gerade den Eindruck, als würde die ganze Welt zum Raven und folglich Konsumieren nach Berlin kommen. Techno und Punk – geht das zusammen?
Klar geht Techno und Punk zusammen. Gerade in Berlin gibt es eine relativ große Techno-Szene, ich hoffe, das spricht sich jetzt nicht herum. Ich gehe nicht so oft zum Techno, aber wenn, dann gibt es viele linke gemütliche Soli-Technopartys für einen guten Zweck und so. Das gab’s ja beim Punk früher auch mal, glaube ich. Ob da jetzt eine Pogo tanzt oder einer zu „DJ Irgendwas“ abzappelt, ist mir doch egal. Hauptsache, im Kopf sind wir alle Punk!
Und die Surf-Nummer „Sambuca Beach“ ...?
Das war schon immer ein „Traum“, mal ein Surf-Song zu machen ... erledigt! Natürlich ist „Sambuca Beach“ ein Hallo an alle Billigtouristen, die ihren Müll am Strand liegen lassen, und an die, die den armen, wehrlosen Babyschildkröten diese Sechserträger-Plastikhalterungen um den noch wachsenden Panzer wickeln!
Und da sind Gäste auf „Nüchtern unerträglich“ zu hören. Welche sind das, wie kam es dazu?
Unser Freund Ace von ZSK hat das Gitarrensolo bei „Nüchtern unerträglich“ gespielt. Mit dem ersten Take war es genauso, wie wir uns das vorgestellt hatten. Wahnsinnstyp! Beim vorhin schon erwähnten „Toilettenstern“ singt Emilie Krawall von FRAU MANSMANN und beim „Räudigen Aal“ Andrea von den PESTPOCKEN mit. Bei „Eiskalte Ohren“ sagt Emilie auch noch einen Satz, fällt mir gerade ein. Wir hätten bestimmt auch noch 34 weitere Gäste einladen oder eine CD mit dämlichen Coversongs dazulegen können, aber das wollten wa nicht!
Wen hättet ihr noch gerne auf einer Platte von euch?
Wir sind wunschlos glücklich mit unseren Gästen, haben aber diesbezüglich noch was in Planung in absehbarer Zukunft.
Ihr habt so viele Gäste auf eurem Album, tourt ja mehr oder weniger regelmäßig. Was gibt’s aktuell für Punkrock-Geheimtipps fernab von kafkaesken Texten und Konfettikanonen?
Wir haben letztes Jahr zum ersten Mal mit FUCK0€ gespielt. Ich hatte den gesamten Auftritt über ein Lächeln im Gesicht. Und ich hasse lächeln! Die fanden wir so toll, dass wir sie auch für ein Wochenende mit auf Tour dabeihaben. Also wenn du mich nach einem Geheimtipp fragst: FUCK0€ und QUERSCHLÄGER!
Und zum Schluss will ich noch wissen: Wer und oder was ist nüchtern unerträglich?
Natürlich sind wir nüchtern unerträglich. KOTZREIZ werden immer ’ne „Saufpunk-Band“ bleiben, aber wie toll und witzig Alkohol ist, haben wir ja jetzt auch schon das eine oder andere Mal, mehr oder weniger ernst gemeint, erwähnt. Wie Menschen mit anderen Menschen, Tieren und der Natur umgehen, das ist nüchtern unerträglich. Das mag jetzt etwas abgedroschen und jammerig klingen, aber so ist es nun mal. Wir hätten die neue Platte auch „Die Welt brennt“ oder „Fuck The System“ nennen können, aber das sollen lieber ATARI TEENAGE RIOT machen.
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