Zu den frühen Hannoveraner Punkbands gehören KONDENSATORS. Als sich die Band 1980 auflöste, gründeten David Spoo und Konrad Kittner (später ABSTÜRZENDE BRIEFTAUBEN) zusammen mit Jens Frank KLISCHEE, die 1981 ihr Album „Normalzustand“ veröffentlichten – zu einer Zeit, als deutsche Punk-Platten eher noch die Ausnahme waren. Mittlerweile ist die LP ein gesuchtes Sammlerstück. Wir sprachen mit Sänger und Gitarrist David nicht nur über die Gründe für die Neuauflage der LP, sondern auch über damalige Szenestreitigkeiten und musikalische Engstirnigkeit in Hannover und darüber, was nach KLISCHEE kam.
Fast vierzig Jahre nach dem Erscheinen eurer LP „Normalzustand“ gab es 2020/21 eine Wiederveröffentlichung. Was waren die Gründe?
Höhnie und Martin Fuchs hatten mich schon vor ein paar Jahren angesprochen mit der Idee, das Album erstmals wieder auf Vinyl zu veröffentlichen. Ich fand das gut, denn „Normalzustand“ ist ohne Frage ein Meilenstein des Deutschpunk. Bis wir es dann wirklich umsetzen konnten und ich auch das Okay von Schlagzeuger Jens und Konrads Witwe Birgit eingeholt hatte, alte Kassetten wegen Bonustracks durchgewühlt, die Linernotes geschrieben hatte und es dann auch bei Höhnie passte, ist eine Menge Zeit vergangen und insofern ist es völliger Zufall, dass daraus eine Vierzig-Jahre-Jubiläumsveröffentlichung wurde. Das hat aber irgendwie Tradition, denn die CD kam 1994 genauso zufällig zehn Jahre nach der Bandauflösung raus.
Im Gegensatz zu der KLISCHEE-Compilation „Krieg in den Städten“, die 1994 auf Weser Label erschien, gibt es nun nur die LP plus drei Bonustracks. Gab es auch die Idee, alle KLISCHEE-Songs noch mal auf Vinyl zu veröffentlichen? Oder ist das noch geplant?
Die Compilation hatte einen Sticker mit dem Wort „Alles“ drauf. Das waren die LP „Normalzustand“, die Songs vom Korn-Live-Sampler, die Single „... das war der wilde Westen“ und weitere Studio- und qualitativ gute Übungsraumaufnahmen. „Alles“ stimmt aber nicht ganz, denn die letzten beiden Tracks, die wir 1984 im Studio aufgenommen hatten, sind nicht drauf. Bei der jetzigen Veröffentlichung stand „Normalzustand“ im Mittelpunkt und die Bonustracks sollten zum Sound der Platte passen. Das tun „Dalli, Dalli“ und „Das Schwein“ vom Korn-Live-Sampler. Ich wollte unbedingt einen Song von der ersten Probe dabeihaben, da blieb – als einziger nicht veröffentlichter Song – „Bundeswehr“ übrig. Die Qualität ist ziemlich grausam, aber das ist nun wirklich ein besonderes Tondokument. Generell denke ich eher, dass nicht jeder Furz, den eine Band mal gelassen hat, veröffentlicht werden muss. Da wäre es viel schöner, wenn NINAMARIE, das war ein Projekt von Thomas Götz von BEATSTEAKS und Marten Ebsen von TURBOSTAAT, ihre Version unseres Songs „Krieg in den Städten“ veröffentlichen würden. Ich habe die vor zig Jahren einmal auf ihrer MySpace-Seite gehört und fand es super, was sie daraus gemacht haben. Wenn einer der Beteiligten das liest: Bitte schickt mir den Song oder stellt ihn ins Netz!
Ihr habt 1981 auf Frostschutz veröffentlicht. Hätte es da andere Optionen gegeben?
Frostschutz war das Label von KALTWETTERFRONT-Schlagzeuger und -Sänger Micha von Eye. Ein oder zwei Singles waren darauf schon erschienen, als unser Album kam. Mit der Idee, ein Album zu machen, haben wir – kurz nach der Bandgründung und den ersten Auftritten – schon auf dicke Hose gemacht. Bis auf MALE, ROTZKOTZ oder HANS-A-PLAST hatte ja kaum einer eine LP draußen. Ulli und ich sind zu No Fun spaziert und haben dort unser Demotape zu Gehör gebracht. Hollow Skai hatte aber kein Interesse und ich denke auch, wir hätten nicht wirklich zu No Fun gepasst. Jens hatte ein bisschen Geld und dann haben wir beschlossen, das Album alleine zu machen, zunächst ohne Label, ohne Vertrieb. Jens und ich haben uns dann eine Zeitlang bei Frostschutz beteiligt und waren daher auf dem Label. Das Album wurde bei Konzerten und in linken Buchläden verkauft, als dann No Fun, David Volksmund Produktion, Trikont, Frostschutz und andere den Vertrieb EFA gegründet hatten, kamen wir auch in die Plattenläden. Am Ende soll sich das Album 3.000 Mal verkauft haben. Ich kann die Verkaufszahlen nur schätzen. Es war sicher nicht die Zeit der exakten Buchführung ...
Was war spannender – Label oder Band?
Rückblickend würde ich sagen, dass alles zusammen die Spannung ausgemacht hat. Wir haben ja mit Band, Booking, Label, Grafik etc. den DIY-Gedanken gelebt, als es den Ausdruck noch gar nicht gab, wir ihn zumindest nicht kannten. Aber das entsprach eben der damaligen Aufbruchsstimmung: Einfach machen!
Sind weitere Rereleases von Frostschutz geplant wie etwa der Sampler „Korn live – ab geht er“ vom Korn Festival 1981?
Wenn Interesse daran besteht, habe ich nichts dagegen, dass der Korn-Sampler wiederveröffentlicht wird, gerne mit Höhnie. Mit den sonstigen Frostschutz-Platten habe ich nichts zu tun. Die noch mal rauszubringen, ist Sache von KALTWETTERFRONT oder den BOSKOPS, und die haben ihr Frostschutz-Album ja schon lange wiederveröffentlicht.
Euer Beitrag auf dem Korn-Sampler Festival 1981 beginnt mit der Ansage „Ey, hört mal auf euch zu prügeln. Wenn ihr euch prügeln wollt, könnt ihr euch mit den Bullen prügeln – find ich viel sinnvoller“. Prügeleien untereinander auf Konzerten – war das der „Normalzustand“?
Ich weiß nicht, worum es bei dieser Bufferei ging. Vielleicht sind da ganz einfach zwei Typen im Suff aneinandergeraten. Es war vor allem eine typische Ulli-Agitations-Ansage und deswegen ist es gut, dass sie auf der LP verewigt ist. Zwei hauen sich aufs Maul und er findet sofort den Link gegen die Bullen. Ich habe sicher in meinem Leben keinen anderen Menschen kennen gelernt, der eine so klare Feindbildstruktur hatte. Wir anderen drei fanden diese Fokussierung manchmal richtig, manchmal amüsant und manchmal einfach nur nervig. Aber die Ansage musste einfach auf den Sampler.
Du hast vor KLISCHEE zusammen mit Konrad bei KONDENSATORS gespielt und dann KLISCHEE gegründet, um Punk zu machen ohne das enge Korsett, in dem selbst ein minimales Gitarrensolo verpönt war, wie du schreibst. Wie engstirnig war die Szene?
Nachdem Schlagzeuger Johnny die KONDENSATORS verlassen hatte, machten wir bis zur Auflösung noch ein paar Wochen mit dem ehemaligen FUCKS-Sänger Volker an den Drums weiter. Das erste, was er forderte war, den Song „Anarchie in Germany“ nun „Anarchie in Deutschland“ zu nennen – es gibt keine Gitarrensoli und englische Wörter gibt es auch nicht, völlig egal, ob der Songtitel dann noch Sinn macht oder sich singen lässt. Ich glaube, besser kann man die Engstirnigkeit und den Fanatismus, der sich in Teilen der Szene breitmachte, gar nicht beschreiben. Und dieses Korsett war Konrad und mir zu eng.
Gab es eine Art von Konkurrenz zwischen den Bands auf No Fun und euch?
1979/80 gab es letztlich zwei Szenen in Hannover: Zum einen die sogenannte Nordstadt-Szene – Bands aus dem No Fun-Umfeld, die wir als „alte Studenten“ wahrnahmen, obwohl sie das überhaupt nicht alle waren und beispielsweise die von HANS-A-PLAST praktisch das gleiche Alter hatten. Zum anderen die Kid-Punk- oder so genannte Gossen-Szene – BLITZKRIEG, KONDENSATORS, DEUTSCHLAND et cetera. Trotz dieser Bezeichnung kamen viele, vielleicht die meisten Protagonisten des Gossen-Punk eher aus dem Mittelstand. Generell war Punk in Hannover sicher nicht das Ding der Arbeiterklasse. Als der No Fun-Sampler geplant wurde, gab es ein Treffen der dafür in Frage kommenden Bands. BLITZKRIEG und die KONDENSATORS haben selbstverständlich abgelehnt, an dieser „Kommerz-Scheiße“ teilzunehmen. Wenig später wurden BLITZKRIEG von Karl Walterbach für den Eröffnungsgig im Berliner KZ36 angefragt, wo ja auch der Sampler mit den ÄTZTUSSIS und BETON COMBO aufgenommen wurde. Auch MDK sollten spielen, konnten aber irgendwie nicht und dann schlugen BLITZKRIEG vor, wir KONDENSATORS sollten doch auch nach Berlin fahren, vielleicht könnten wir ja anstelle von MDK spielen, und so sind wir dann mit unserem letzten Gig auf eine Platte gekommen, die die erste Veröffentlichung auf Aggressive Rockproduktionen und somit auf Modern Music war. Zurück zum Thema Hannover-Konkurrenz: Ich selbst war immer ziemlich offen und habe mich auch damals aus dieser ganzen Nordstadt-versus-Gossen-Fehde so gut es ging rausgehalten. Teile von HANS-A-PLAST wohnten gegenüber und ich mochte ihr erstes Album. Gerade Ende 2021 habe ich Annette, Hollow Skai und andere bei der Eröffnung einer Ausstellung unter anderem von Fotos aus der Korn 1979 getroffen. Das war sehr nett.
Zurück zu eurer LP. Ihr habt mit „Bullenpogo“ ein KONDENSATORS-Stück, das davon handelt, wie ein Punk von den Bullen festgenommen wird, obwohl er nichts gemacht hat. Wenn ich den Song höre, denke ich immer an die Punker-Kartei, die seinerzeit in Hannover angelegt wurde.
„Bullenpogo“ entstand nach einem Konzert der BOMBED BODIES in der Korn. Es hieß, dass zwei Punks von Faschos angegriffen worden sind, und dann hat ein größerer Pulk die Korn verlassen und die Schläger gesucht. Bis wir die Innenstadt erreicht hatten, ging hier und da etwas kaputt und es kam zu einer Massenverhaftung, die uns in die berüchtigte Polizeiwache Herschelstraße führte. Bei Fahrstuhlfahrten mit Beamten haben sich Punks dort manchmal auf ganz unerklärliche Weise verletzt – deswegen hat „Bullenpogo“ auf dem KLISCHEE-LP-Cover den Titel „Beamtentanz“.
Warst du selbst mal betroffen?
In dieser Zeit, ich war 15 oder 16, wurde ich einmal – völlig grundlos und rechtswidrig – von der Straße weggeschnappt und gut anderthalb Stunden in einem Revier verhört. Die kannten einige Namen und wollten auf ziemlich plumpe Art Zusammenhänge ergründen. Punk in Hannover war aber keine homogene Masse – das waren ganz einfach Musikfans und Musiker, Schreiber, Künstler, Zyniker, völlig Unpolitische. Dazu fällt mir ein, dass der Schlagzeuger einer befreundeten Band mir einmal sagte, dass er CDU wählen werde, weil sein Vater das möchte. Es gab Anarchos, Idioten, die mit rechts geflirtet haben – das meiner Erinnerung nach aber erst später –, Linke, Stadtindianer, Ökos, Drogisten, Alkis. Die Staatsgewalt hat diese provokante Szene überhaupt nicht verstanden und sie kriminalisiert. Das war von Anfang an so und gipfelte in der Einführung der Punker-Kartei.
Und wie hast du die daraus resultierenden Chaostage wahrgenommen?
1982/83 gingen der Punk in Hannover und ich zunehmend getrennte Wege. Gemeinsame Chaostage von Punks und Skins fand ich einfach nur zum Kotzen, schließlich waren es ja eben Nazi-Skins, die die Korn mehrfach überfallen hatten. KLISCHEE waren ganz bewusst an diesem Wochenende 1983 nicht in Hannover, sondern im Music-Lab in Berlin, um mit Harris Johns an den Reglern „... das war der wilde Westen“ aufzunehmen. Was mich auch zunehmend störte, war die fortschreitende Uniformierung. Es gab einen Abend, an dem ich in die Korn kam und alle dort Anwesenden außer mir einen Iro hatten. Ich war nicht Punk geworden, damit alle alles gleichmachten und sich Dogmen unterwarfen – außerdem entpuppte sich so mancher Punk inzwischen als verkappter Spießer.
Ihr hattet politische Texte und habt auf Solidaritätsveranstaltungen wie der TuWat-Knastdemo in Berlin oder anlässlich des Hungerstreiks von RAF-Häftlingen gespielt. Ein Grund für die Trennung von eurem Gitarristen Ulli war, wie du im Beiheft zum Rerelease schreibst, die Frage, ob ihr euch als Musiker oder als Teil des antiimperialistischen Kampfes verstehen würdet. Wie hast du das gesehen?
Alle KLISCHEE-Mitglieder waren politische Menschen mit durchaus unterschiedlichen Ansichten. Wir haben immer wieder auf Soli-Festivals gespielt. Auch später in der zweiten Besetzung waren wir bei dem großen Festival gegen die Waffen-Messe IDEE in Hannover dabei. Das war geradezu logisch. Wenn sich aber ein Bandmitglied zunehmend radikalisiert, und wenn du dann in einer Kritik liest „KLISCHEE machen vertonte RAF-Parolen“ und denkst „Mist, das stimmt ja irgendwie“, dann musst du auch mal über das eigene Selbstverständnis nachdenken. Ulli, der ja vorher Songs wie „In der Nacht“ oder „Im Übungsraum“ beigesteuert hatte, wollte nun mit jedem Song Straßenkampf-Propaganda machen, und als klar wurde, dass wir da nicht uneingeschränkt dabei waren, brachte er schließlich zwei „Wachhunde“ mit in den Übungsraum, die uns klarmachen sollten, dass dem antiimperialistischen Kampf alles unterzuordnen sei. Das war schon ziemlich absurd und so ging es dann einfach nicht weiter. Der andere Punkt war Ullis Drogenabhängigkeit, das machte die Sache nicht einfacher.
Für Ulli kam Pedder von BLITZKRIEG zu euch. Der Sound hat sich dann bei eurer EP „... das war der wilde Westen“ doch verändert. Lag das auch an Pedder?
Jein. Auf dem Korn-Sampler hatten wir mit „Im Übungsraum“ oder „Hinterland“ schon unseren Punk-Reggae-Sound erweitert. Ich spielte bei ein paar Stücken Saxophon, und der letzte Song, den wir mit Ulli gemacht hatten, „Sommerzeit“, war ein wenig jazzig. Insofern hatten wir schon einen neuen Weg eingeschlagen, als Pedder kam. Er brachte einen Synthesizer mit und das hat den Sound dann natürlich zusätzlich verändert. In dieser Besetzung ging der musikalische rote Faden immer mehr verloren. Das Einzige, worauf wir uns noch einigen konnten, waren THE CLASH, wie sich ja am „Wilden Westen“ und dem Artwork der Single zeigt. Mit den letzten beiden – nicht veröffentlichten – Songs „Es ist Zeit“ und „Abschied“ waren wir schließlich bei Funk und Wave mit Drumcomputer angekommen. Ich mag die beiden Songs und sie waren in diesem Moment richtig. Aber uns selbst war gar nicht mehr klar, wo wir hinwollten, die Musikgeschmäcker gingen inzwischen weit auseinander. Genauso stand die Frage im Raum, welchen Stellenwert die Band noch in unserem Leben einnimmt.
Was hast du nach der Auflösung von KLISCHEE gemacht? Konrad gründete ja ABSTÜRZENDE BRIEFTAUBEN ...
Bei KLISCHEE war schließlich die Luft raus. In dieser Zeit bekam ich das Angebot, bei den TRASHBIRDS einzusteigen, die als das kommende große Ding gehandelt wurden. Ich konnte einen Plattenvertrag über drei LPs unterschreiben und bin bei KLISCHEE ausgestiegen, woraufhin sich die Band auflöste. Leider haben die TRASHBIRDS die ersten Studiosessions nicht überlebt und ich bin dann erst mal kein Rockstar geworden ... Konrad hatte die Brieftauben schon vorher, parallel zu KLISCHEE gegründet – letztlich eben auch, weil er sich musikalisch nicht mehr wohl fühlte und sicher auch nicht konfliktfähig genug war, um deutlich zu machen, was er eigentlich will. Wir anderen haben uns über die Brieftauben eher amüsiert. Wie das dann aber immer so ist, habe ich sie später häufig im Studio unterstützt, hier und da mal eine Gitarre eingespielt, nehme im Video zu „Fett und hässlich“, das für eine ZDF-Jugendsendung produziert wurde, eine tragende Rolle ein und war zum Album „Krieg und Spiele“ bei den letzten dreißig bis vierzig Konzerten vor der Auflösung 1996 als Gastmusiker dabei. Von 1987 bis 1997 war ich Gitarrist bei den GAY CITY ROLLERS – die leider viel zu selten auch als REZILLOS aufgetreten sind –, und dann habe ich noch in ein paar Coverbands gespielt. Mit einer – G-POINT GENERATION, die Punk-Songs aus aller Herren Länder coverten – habe ich dann noch ein Album auf Lost & Found Records veröffentlicht. Das war so ein Allstar-Project, initiiert von Tilo von BIONIC, gesungen haben Gagu und Dragan von NOT AVAILABLE. Was die Brieftauben angeht, schließt sich der Kreis: Auf ihrem 2016er Album „Doofgesagte leben länger“ haben sie „Das Schwein“ gecovert, und so war am Ende ein KLISCHEE-Song tatsächlich weit vorn in den deutschen Charts ...
Hast du damit gerechnet, dass auch heute noch Interesse an den Songs von KLISCHEE besteht? Und sind das deiner Meinung nach eher die „alten Knöpfe“?
Dass ein Interesse an den Songs besteht, sehe ich seit Jahren. Nicht wenige Leute hören sie sich bei YouTube an und das Album wird teuer gehandelt. Ich kann nur vermuten, wer KLISCHEE heute hört. Sicher sind es teils alte Haudegen, teils Jüngere, die sich für alten Punk interessieren, und es gibt ja auch in Ostdeutschland noch immer Bedarf an Musik aus dieser Zeit. Das Interesse an authentischem Punk kann ich aber gut nachvollziehen, und einen Song wie „Nazis raus“ hätten Konrad und ich auch heute, 42 Jahre später, schreiben können, an dem ist nichts irgendwie falsch geworden.
Wo wir gerade noch mal in der Vergangenheit sind – wie männlich oder emanzipatorisch hast du die damalige Szene wahrgenommen?
Dafür, dass auch wir Punks in den muffigen Sechzigern und Siebzigern sozialisiert wurden, habe ich mein Umfeld als sehr offen erlebt. Ich erinnere mich vor allem an einige ziemlich selbstbewusste Frauen. Zumindest in Hannover war es nichts Besonderes, dass sie in Bands spielten – bei HANS-A-PLAST, KALTWETTERFRONT, BLITZKRIEG, BÄRCHEN UND DIE MILCHBUBIS, UNTERROCK oder den FUCKS –, das war normal. In der Korn sah ich Bands, denen Frauen angehörten, TNT, ÖSTRO 430 oder die MIMMI’S, und in meinem Plattenregal standen Scheiben von ADVERTS, Nina Hagen, Patty Smith, REZILLOS, SLITS oder X-RAY SPEX. Wenn ich nun Dossiers über „Punk und Sexismus“ lese, in denen unter anderem beklagt wird, dass Männer völlig talentfrei Bands gründen könnten, Frauen aber nicht, da ihnen die Vorbilder fehlten, dann muss ich mich fragen, ob ich die vielen im Punk enorm wichtigen Bands mit Frauen nur geträumt habe. Wahrscheinlich wurde vor vierzig Jahren weniger gedacht und geredet und stattdessen einfach gemacht.
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Punker-Kartei und erster Chaostag
Am 28. Februar 1982 erließ der damalige Hannoveraner Polizeipräsident Gottfried Walzer aus Sorge, dass Hannover zum Punk-Zentrum Norddeutschlands werden könnte, folgende – rechtswidrige – Verfügung: „Um einen Überblick über die Punk-Szene in Hannover zu gewinnen, haben sämtliche Dienststellen alle Erkenntnisse über sog. Punks unverzüglich der zentralen Nachrichten- und Auswertungsstelle der K7 mitzuteilen.“ Die Begründung für diese Kartei, die beim Staatsschutz geführt werden sollte, war, dass „Punks oft bei Demonstrationen auffielen, gegen das Versammlungsgesetz verstießen“. Erst im November 1982 wurde die Existenz dieser Kartei öffentlich, nachdem ein Polizeibeamter anonym eine Kopie der Verfügung an die tageszeitung (taz) schickte und diese darüber berichtete. Nachdem drei Punks gegen die Kartei Klage eingereicht hatten, kam die Idee zu einem Punktreffen in Anlehnung an die Treffen in Wuppertal auf, mit dem Ziel, die Datensammlung durch möglichst viele Einträge zu sprengen. Dafür wurde eine Demo durch die Hannoveraner Innenstadt angemeldet. Der erste Chaostag wurde im Vorfeld nicht nur durch Flugblätter, sondern auch auf der Tour der DEAD KENNEDYS massiv beworben. Zum Treffen am 18.12.1982 in der Hannoveraner Innenstadt kamen circa 800 Punks. Die angemeldete Demonstration wurde noch in der City von den Bullen zerschlagen. Die Punks verteilten sich über die gesamte Innenstadt, Schaufensterscheiben gingen zu Bruch. Am Steintor kam es zu einer heftigen Straßenschlacht, wobei die Steine einer Baustelle als willkommene Wurfgeschosse genutzt wurden. Danach zogen die Punks in die Nordstadt, wo in der UJZ Kornstraße an dem Abend ein Punk-Konzert stattfand.
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