In Zeiten der allgemeinen Reunion-Welle, wo wirklich jede Band noch einmal Bühnenluft schnuppern möchte, oder vielleicht auch den Duft des Geldes, hat man in den letzten Jahren fast alles sehen können. Auf die Frage, welche Band man im Bereich Hardcore/Punk noch sehen möchte, waren sich alle Ü30er weitgehend einig. Die „Big 3“ sind erstens MINOR THREAT, zweitens THE MISFITS mit Glenn Danzig am Mikro und drittens JUDGE. Für mich ist das mit Nummer drei, JUDGE aus NYC, ganz besonders ärgerlich, da sie einst zum Greifen nah schienen, denn 1993 hielt ich den Flyer zu ihrer angekündigten Europatour schon in den Händen. Allerdings wurde diese abgesagt und die Auflösung folgte prompt kurz danach. Immer wieder hörte man seitdem von Anfragen bezüglich Reunion-Shows, wo von 50.000 Dollar Gage pro Show die Rede gewesen sein soll, und Sänger Mike „Judge“ Ferraro am Telefon mit den Worten „Fuck you“ den Hörer auflegte. Schweren Herzens musste man sich damit abfinden, eine der einflussreichsten NYHC Bands nie in seinem Leben live auf der Bühne zu sehen. Aber wie heißt es so schön? Unverhofft kommt oft! Und nach zwanzig Jahren des Wartens war es 2013 auf einmal soweit und sofort war ein Flug gebucht, um JUDGE am 18. Mai live at Webster Hall in New York fucking City zu sehen. Für mich ist ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen und es war jeden Cent wert. Natürlich stellten sich einige Fragen bezüglich der Wiedervereinigung, die ich mit Mike in diesem Interview klären konnte.
Mike, wie fühlt es sich an, nach all den Jahren wieder auf der Bühne zu stehen?
Es ist einfach großartig. Es ist alles total easy, denn JUDGE ist mein Herz und meine Seele. Es ist eine Ehre für mich, diese Songs wieder mit den gleichen Leuten wie damals zu spielen.
Was, denkst du, hat sich in der Hardcore/Punk Szene seit der letzten JUDGE-Show verändert?
Nun, ich kann das jetzt nur danach beurteilen, was ich auf den Shows gesehen habe, wo wir spielten. Ich habe den Eindruck, dass es viel friedlicher geworden ist. Viel weniger gewalttätig als früher. Anscheinend haben sie alle einen gesunden Respekt vor einander und ihrer Szene.
Heutzutage ist die Szene in viele kleine, unterschiedliche „Trends“ unterteilt. Ich habe das Gefühl, dass es keine „Unity“ gibt. Wie siehst du das Ganze?
Was hat man überhaupt erwartet, als es mit Hardcore losging? Hat irgendwer geglaubt, dass Hardcore einmal ein so großes Ding werden würde? Als wir anfingen, auf Konzerte zu gehen, was das alles noch nicht so exakt getrennt. Wir sind auf jede Show gegangen und haben alle Bands unterstützt. Es war irgendwie alles eins. Natürlich hatte jede Band ihre eigene spezielle Crew, die auf die Konzerte kam. Es scheint so, als ob das alles mit den Jahren auf der Strecke geblieben ist.
Was hast du nach der Auflösung von JUDGE gemacht? Hast du immer zur NYHC-Szene gehört? Hast du die Entwicklung beobachtet?
Nein, als es mit JUDGE zu Ende ging, war ich völlig ausgebrannt und depressiv. Ich konnte nicht mehr auf Konzerte gehen. Ich liebe es, Musik zu machen, und ich liebe JUDGE. Ich war verrückt, das alles aufzugeben, mich quälte, dass ich nicht stark genug war, die Probleme auf die Reihe zu bekommen. Anstatt weiter Musik zu machen, ging ich in eine total andere Richtung. Ich hatte schon immer etwas mit Motorrädern zu tun. Motorradfahren war ein Weg für mich, meinen Kopf frei zu bekommen. Dadurch kam ich natürlich in Kontakt mit Leuten von Motorradclubs. Ich war immer noch gewalttätig und somit war es beziehungsweise erschien es mir logisch, dass ich irgendwann in das Clubleben eintauchen würde. Anfangs hat es total Spaß gemacht, aber mit der Zeit entwickelte sich das zu einem 24-Stunden-Job. Es hat eine ganze Weile gedauert, aber nun bin ich da raus.
Erzähl uns doch bitte mehr über die Person Mike Ferraro. Was machst du außerhalb der Band?
Nun, als zuallererst war Ferraro ein Typ, der sich hinter der Person Mike Judge versteckte. Ich habe mich immer für total beschissen gehalten. Das war mir so von zu Hause aus und während meiner gesamten Schulzeit eingetrichtert worden. Danach redeten sie mir ein, ich solle mir professionelle Hilfe suchen. Aber alles, was ich in der Therapie tat, war mein Herz auszuschütten, mein Innerstes nach außen zu kehren und das Honorar dafür zu bezahlen, geändert hatte sich danach allerdings nichts. Ich war überzeugt, dass es mein Kreuz war, das ich zu tragen hatte, bis das mit JUDGE anfing. Über die Dinge zu schreiben, die ich tief in mir fühlte, und zu erfahren, dass ich damit nicht allein war, hat mir mein Leben gerettet.
JUDGE haben als Straight-Edge-Band begonnen. Seid ihr alle noch SxE? Was bedeutet es für dich und wie siehst du es 2013?
Ich habe JUDGE gegründet und ich war straight. Für mich bedeutet das: Don’t drink, don’t do drugs, don’t smoke. Heute gehören Vegetarismus und Veganismus genauso dazu. Allerdings kann ich für mich nicht sagen, dass es ein totales Anti-Sucht-Ding ist, da ich eine zwanghafte Persönlichkeit habe.
Eure 10“ „Chung King Can Suck It“ ist die teuerste und meist gesuchte Platte im Bereich Hardcore. Sie wird für mehrere tausend Dollar gehandelt. Bist du selbst Plattensammler, wie wichtig ist Vinyl für dich?
Ich bin kein Plattensammler und war es auch noch nie. Die meisten meiner Platten sind in einem sehr schlechten Zustand, da ich sie immer benutze, um dazu Schlagzeug zu üben. Das lässt natürlich die Nadel springen, meine Scheiben haben eine Menge Kratzer.
Einer der bekanntesten JUDGE-Songs ist allerdings ein Cover von den großartigen BLITZ aus England. Wer hatte die Idee dazu? Magst du englische Oi!-Musik?
„Warriors“ war meine Idee. Es ist einer meiner absoluten Lieblingssongs aller Zeiten. Ich habe BLITZ immer geliebt. An erster Stelle kamen immer COCKNEY REJECTS und dann BLITZ. „Voice Of A Generation“ ist ein großartige Platte und ihre 7“ „All Out Attack“ war, von SEX PISTOLS, GENERATION X oder THE CLASH mal abgesehen, die erste Scheibe, die ich mir von einer europäischen Band kaufte. Ich war total verliebt in Oi!-Musik. THE COCKNEY REJECTS waren das Riesending für mich. Das ging soweit, dass wir die Hämmer vom Cover der „The Power & The Glory“-LP für uns als JUDGE-Logo verwendeten, aus purem Respekt für die Rejects.
Wer hatte überhaupt die Idee für eine JUDGE-Reunion?
Es sind mehrere Personen auf mich zugekommen: Ezec, Taavin, Civ und Cuz Joe. Ezec wollte unseren Song „The storm“ für sein Coveralbum, deshalb wandte er sich an meinen sehr guten Freund Taavin, um mich zu kontaktieren. Die Platte war nun fertig, allerdings ungeachtet dessen, was diese Anfrage mittlerweile bewirkt hat. Danach hat Civ Kontakt mit mir aufgenommen, um mich zu der GORILLA BISCUITS-Show einzuladen, die beim Black N’ Blue Bowl in der Webster Hall auftraten. Sie haben unter anderem ein großartiges Cover von „New York Crew“ gespielt. Als ich das gesehen habe, hat es das Feuer in mir neu entfacht. Ich wollte wieder auf der Bühne stehen. Ungefähr zu der Zeit hat mich Cuz Joe auch in seine Radioshow eingeladen. Ich war nun überzeugt, dass ich es einfach brauche, wieder Musik zu machen.
Wie sieht die Zukunft für JUDGE aus? Wird es eine neue Platte geben?
Wir bringen erst einmal die gebuchten Shows zu Ende und dann werden wir uns einen Plan machen, wie es weitergehen soll. Ich habe paar Sachen geschrieben, die ich gern als neue Songs für JUDGE verwenden möchte. Alles, was ich will, ist live spielen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #112 Februar/März 2014 und Andreas Zengler
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #61 August/September 2005 und Joachim Hiller