Jonny Wickersham, Jahrgang 1968, nur auf die Rolle des im Schatten von Mike Ness stehenden zweiten Gitarristen von SOCIAL DISTORTION zu reduzieren, tut dem Mann Unrecht. Schließlich hatte der vor seinem Einstieg dort, dem Tod von Dennis Danell im Jahr 2000 geschuldet, selbst mit den CADILLAC TRAMPS eine herausragende Band, spielte bei YOUTH BRIGADE und U.S. BOMBS. Kürzlich erschien mit „Salvation Town“ sein erstes Soloalbum, das ich zum Anlass für dieses Interview nahm.
Jonny, wo habe ich dich erreicht? Mal wieder irgendwo auf Tour?
Nein, ich bin zu Hause in Los Angeles, seit zwei Monaten schon. Aber zu Hause zu sein ist für mich nicht die Normalität, haha. Aber natürlich beschäftige ich mich auch dann ständig mit Musik. Ich schreibe Songs, übe auf verschiedenen Instrumenten, treffe mich mit Freunden, meiner Familie – und habe auch mal Zeit für meine Freundin. Nicht zu vergessen all das, was am Haus so zu machen ist. Ein Leben außerhalb der Musik? Also außer meiner Freundin ist da eigentlich nur Musik in meinem Leben. Musik begeistert mich immer noch, ich höre viele neue Platten – ich kann nie genug davon bekommen.
Bedauerst du manchmal, dass du eigentlich kein Leben außerhalb der Musik hast?
Natürlich habe ich mir auch schon solche Was-wäre-wenn-Fragen gestellt: Was wäre, wenn sich mein Leben in eine ganz andere Richtung entwickelt hätte, wenn ich heute Profi-Snowboarder oder so wäre ... Obwohl, ein „richtiger“ Job ist das ja auch nicht, hahaha. Also ich habe früher wirklich die verschiedensten Jobs gehabt, bis weit nach meinem zwanzigsten Lebensjahr. Als ich längst mit Bands auf Tour ging, verdiente ich nie Geld damit, ja, es blieb eigentlich nie was übrig, um auch nur die Miete bezahlen zu können, ganz gleich, wie niedrig die war. Wir waren auf Tour, und wenn ich zurückkam, suchte ich mir irgendeinen Job auf dem Bau, Schreinerarbeiten, Reinigungsarbeiten, all so was. Mike Ness und ich arbeiteten damals schon zusammen, wir putzten Häuser. Aber diese ganzen handwerklichen Tätigkeiten machte ich nie aus Begeisterung, das konnte ich mir nie als dauerhafte Arbeit vorstellen, also wurde ich da nie richtig gut. Es war immer die Musik, die mich anzog. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich das, was ich am liebsten tue, als meinen Job bezeichnen kann. Ich bin in einer sehr glücklichen Situation und mir dessen sehr wohl bewusst. Nicht viele Menschen bekommen diese Chance. Ich kenne viele Musiker, die besser sind, als ich jemals werden kann, die gute Songwriter sind, die aber nie eine Chance bekommen haben. Stattdessen müssen sie irgendwas anderes machen, damit ihre Familie ein Auskommen hat. So was macht mich traurig, aber so ist das Leben.
Jonny, wir haben uns vor vielen Jahren mal getroffen: Shawn Stern von YOUTH BRIGADE stellte uns vor einer Show in Oberhausen vor, irgendwann Ende der Neunziger: „That’s Jonny Two Bags!“ Ich habe mich seitdem immer wieder gefragt, wie man zu so einem Künstlernamen kommt ...
Es gibt da einen Song von der alten jamaikanischen Reggae-Band THE SLICKERS namens „Johnny (too) bad“, der auch auf dem Soundtrack von „The Harder They Come“ zu hören ist, diesem Jimmy Cliff-Film. Ein Freund von mir sang eines Tages diesen Song vor sich hin, ein paar andere stimmten ein, und dann fand es irgendwer lustig, mich Jonny Two Bags zu nennen. Ich war noch sehr jung damals, aber der Spitzname ist an mir kleben geblieben, ich wurde den nie wieder los, und irgendwann habe ich mich damit abgefunden.
Dein Soloalbum bietet keinen Punkrock, sondern uramerikanische Musik. Was ist es, das in den letzten Jahren vermehrt alternde Punkrocker dazu treibt, sich jenseits ihres vierzigsten Lebensjahres solchen traditionellen Klängen zuzuwenden?
Stimmt, das machen mittlerweile einige, und ich bin ein weiterer. Wenn man einen bestimmten Punkt in seinem Leben erreicht hat, ein bestimmtes Alter, wenn man schon sein ganzes Leben in Bands spielt, ständig unterwegs, den Punkrock lebt, fragt man sich irgendwann, wie man mit dem Musikmachen so weitermachen kann, dass es weiterhin Sinn macht. Und dann entscheiden sich eben viele für die gleiche Musikrichtung wie ich auch. Ich will jetzt nicht so tun, als sei ich was Besonderes, aber die Art von Musik, die ich für meine Platte aufgenommen habe, war wirklich immer schon Teil meines Lebens. Ich wuchs mit Musik auf, in meinem Elternhaus war Musik allgegenwärtig. Mein Vater war selbst Musiker, er verdiente sein Geld, indem er in Bar-Bands Gitarre spielte. Americana, Country, Folk, Blues sind deshalb Teil meiner DNA. Meine erste Band, die CADILLAC TRAMPS – wir spielen übrigens immer noch Konzerte, wir schaffen es nur nicht zu touren oder eine neue Platte zu machen –, brachte Punkrock und Americana-Musik zusammen. Damit waren wir nichts Besonderes, denn viele der L.A.-Punkbands spielten im Grunde Americana-Roots-Musik. Man denke nur an THE BLASTERS, X oder James Intveld und THE ROCKIN’ SHADOWS. Es gab in L.A. damals auch eine starke Rockabilly-Szene, die parallel zur Punk-Szene existierte. Was nun meine Platte betrifft, so wusste ich schon lange, dass ich die irgendwann mal machen würde. Es kam bislang eben immer was dazwischen, ich kam nicht dazu. Ein wichtiger Aspekt war, die richtigen Leute zu finden, denn nicht alle Musiker sind offen genug für so ein Album. Und ganz allein bekommt man so was leider auch nicht hin.
Dann stell mir deine Mitmusiker doch mal vor. Manche Namen kennt man natürlich, etwa den von Zander Schloss.
Also ich habe die Songs einfach nach und nach in Angriff genommen, und da ergab es sich, dass ich mir dachte, der eine könnte beispielsweise gut zu Julie Miller passen. Also fragte ich sie, ob sie mit mir singen will. Die meisten Kollaborationen waren reiner Zufall. David Kalish, der das Album mit mir produzierte, konnte Kontakt zu verschiedenen dieser Musiker herstellen – er kannte etwa Julies Mann Buddy Miller und fragte einfach. Und so lief das mit all den anderen auch. Ich dachte mir, es wäre cool, Jackson Browne dabeizuhaben, der Song wäre perfekt für ihn – und eine Woche später war David bei einer Veranstaltung, bei der er Jackson traf und ihn einfach fragte. Ich ging ja davon aus, dass das eh nicht klappt ... aber es haute hin!
Mike nimmt bei SOCIAL DISTORTION eine sehr dominante Position ein. Inwiefern erlaubt dir deine Soloarbeit das zu machen, was bei SOCIAL DISTORTION keinen Platz hat?
Klar, ich habe hier einfach die Möglichkeit, all meine Ideen umzusetzen. Das Beste an der Arbeit an dem Album war, dass ich keinerlei Kompromisse eingehen musste. Mit David, meinem Produzenten, habe ich über alles diskutiert und gestritten, aber abgesehen davon habe ich bestimmt, wo es langgeht. Das war das erste Mal in meinem Leben als Musiker! Meine erste Band, die CADILLAC TRAMPS, gründete ich 1987, und danach bin ich dann immer in bereits bestehende Bands eingestiegen, eben YOUTH BRIGADE, U.S. BOMBS und Social D. Auch wenn man schon ein paar Jahre in einer Band spielt, es ist und bleibt immer die Band von jemand anderem. Das kann manchmal frustrierend sein und einen künstlerische einengen, egal, wie sehr man selbst Fan dieses Band ist: Social D waren seit meiner Jugend meine Lieblingsband! Dennoch kann es manchmal frustrierend sein, wenn man feststellt, dass man letztlich nur Helfer dabei ist, die Vision eines anderen umzusetzen. Mike hat mir aber natürlich auch schon gestattet, eigene Ideen zu Social D-Platten beizutragen. Nicht viel, aber das war schon ein Zeichen, denn lange Zeit war er der alleinige Songwriter.
Es gibt durchaus Ähnlichkeiten zwischen deinem Soloalbum und Mikes. Teilt ihr die gleichen Vorlieben, was ganz ursprüngliche amerikanische Musik betrifft?
Ja, sicher. Wir haben da viele Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch Unterschiede. Für uns gehört solche Musik eben zur musikalischen Sozialisation dazu. Sogar zu unseren heftigen Punkrock-Zeiten gehörte diese Musik auch immer dazu. Ich erinnere mich, wie ich mich mit Mike mal unterhalten habe, vor vielen Jahren, noch vor dem „Prisonbound“-Album, und er mir JASON & THE SCORCHERS vorgespielt hat, die dann auch bei mir hängengeblieben sind. Wir waren beide total begeistert von denen, und diese Band hat uns beide sehr geprägt, sowohl, was den Sound von Social D. betrifft, aber auch den der CADILLAC TRAMPS. Beide Bands klingen ja eigentlich völlig anders, aber sie verbinden die gleichen Einflüsse, von denen sie in den späten Achtzigern geprägt wurden.
Musiker scheinen oft offener für „andere“ Musik zu sein als die besonders eifrigen Fans ihrer Bands ...
Hahahahaha, oh ja! Du hast ja so recht! Fans können in musikalischer Hinsicht leider sehr intolerant sein. Klar, es gibt sehr viele echte Musikliebhaber, aber eben auch Leute, die es am liebsten haben, wenn man immer das Gleiche macht. Ich beziehe mich da lieber auf die BEATLES, eine meiner großen Lieblingsbands – eine Lieblingsband von uns allen. In den paar Jahren ihrer Existenz, sieben oder acht waren es, haben die so eine Vielfalt von Stücken geschrieben und sich so stark weiterentwickelt, wie man es heute wohl keiner Band mehr durchgehen lassen würde. Die Leute wüssten nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Bands scheinen heute viel mehr ein Markenzeichen zu sein, und das muss, das sollte für einen bestimmten Klang stehen.
Rock’n’Roll gibt es jetzt seit sechzig Jahren oder so, aber welche Musik der Rebellion gab es denn vorher? Es gab auch davor schon rebellische Kunstformen, aber eben nichts wie Rock’n’Roll, und deshalb hatte der so einen starken Einfluss auf die Jugend. Anfangs war das ein ganz neues Ding, alles war möglich, es gab keine Regeln. In den späten Sechzigern kamen dann in England die Mods und die Rocker auf, und später die Punk-Szene, und irgendwann kam man dann an den Punkt, an dem wir uns auch heute noch befinden: die Leute, die Musiker blicken zurück, nehmen Ideen aus der Vergangenheit und bringen sie in die Gegenwart. Rock’n’Roll ist in vielfacher Hinsicht eine Uniform geworden, und die Leute definieren sich durch diese Uniform, sie sind wenig tolerant gegenüber Veränderungen, gerade auch was die Bands betrifft, die sie lieben. Sie identifizieren sich sehr stark und sehr persönlich mit der Message, dem Image und der Attitüde einer Band. Sie sind eben für immer Fans der RAMONES, beispielsweise. Sie sind Hardcore-Fans, für sie existiert nur dieser Look, dieser Haarschnitt, dieser Lederjackenstil. Ich finde es interessant, Bands über einen längeren Zeitraum zu beobachten, zu sehen, wie sie sich weiterentwickeln und wie die Menschen darauf reagieren.
Bist du schon mal solo vor einem Social D-Auftritt auf die Bühne gegangen?
Einmal, vor ein paar Jahren. Die Fans von Social D haben sich mit uns weiterentwickelt, sie haben mich freundlich aufgenommen. Klar, was ich mache, ist nichts für jeden Fan von Social D, aber manche verstehen und mögen es. Und demnächst werde ich bei unserer US-Tour auch wieder den Opener machen.
Und was ist mit einer eigenen Tour zu deinem Album?
Daran arbeite ich, und vor allem will ich nach Europa kommen. Es ärgert mich, dass das alles nicht schneller geht. Ich hätte gerne schon im Sommer auf den ganzen Festivals gespielt. Eine Clubtour irgendwann im Herbst oder Winter wäre schön.
Um auf das Album zu sprechen zu kommen: Warum hast du das als Jonny Two Bags veröffentlicht und nicht unter einem Bandnamen?
Ich wollte das eigentlich tun, die Band hätte SALVATION TOWN heißen sollen – meine eigene Band, bei der ich der Boss bin, denn darum geht’s ja, hahaha. Ich habe mir das immer wieder durch den Kopf gehen lassen, während ich das Album aufnahm. Nun sind da aber so viele Musiker beteiligt, dass man einfach nicht sagen kann, das Album sei von einer Band aufgenommen worden. Als die Platte dann fertig war, war klar, dass ich sie als Soloalbum veröffentlichen muss. Und eine Tour mit diesen Musikern ist zudem unvorstellbar, denn alle Beteiligten haben andere Projekte und Bands. Sogar David Hidalgo Jr. ist beschäftigt, spielt mit Brody und Chuck Ragan. Also ist das Ganze erst mal mein Soloding, auch wenn mein Traum war und ist, eine eigene Band zu haben.
Was für eine Geschichte verbirgt sich hinter dem Titel „Salvation Town“?
Ich habe ewig nach einem Bandnamen gesucht, aber kein Glück gehabt. Leider ist ja wirklich absolut jeder coole Namen schon vergeben. Es ist wirklich unmöglich, noch einen zu finden, vor allem dann, wenn er simpel und geradeheraus sein soll. Ich mag Namen wie THE PRETENDERS oder THE CLASH – alle Namen dieser Art sind aber bereits belegt! Jede Idee, die ich hatte, konnte ich nach einmal Googlen wieder vergessen. Wahrscheinlich haben deshalb so viele Bands einen Namen, der so lang ist wie ein ganzer Satz, hahaha. „Salvation Town“ nun geht auf einen Song der Band meines Freundes Steve Soto von THE ADOLESCENTS zurück. Der hatte in den Neunzigern eine großartige Band namens JOYRIDE, mit denen ich mit den CADILLAC TRAMPS oft zusammen gespielt habe. Die hatten einen Song namens „Salvation town“, und da dachte ich mir, das wäre ein cooler Bandname. Ich fragte Steve, er hatte nichts dagegen, und so hatte ich zumindest einen Namen. Nur wie bereits erzählt, als die Platte dann fertig war, war es keine Band-, sondern eine Soloplatte, und so wurde der Bandname zum Plattentitel. Ein paar Mal wurde ich auch schon als JONNY TWO BAGS & SALVATION TOWN angekündigt, aber eigentlich will ich das nur, wenn es Auftritte mit den wichtigsten Musiker von der Platte sind, also David Hidalgo Jr., Mitchell Townsend, David Kalish und Grant.
Zum Schluss des Interviews muss ich natürlich fragen, was sich in Sachen SOCIAL DISTORTION derzeit so tut. Kannst du irgendwas verraten?
Im Herbst spielen wir ein paar Konzerte in den USA, und Mike will bald wieder ins Studio, um mit dem Songwriting für ein neues Album zu beginnen. Keine Ahnung, wann es kommen wird, 2015 oder 2016 ... oder 2020, hahaha. Wenn wir unseren Rhythmus einhalten, müsste es auf 2018 hinauslaufen. Da habe ich sicher Zeit, mich auch selbst um ein neues Album zu kümmern, „Salvation Town“ wurde ja auch schon Anfang 2013 aufgenommen.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #116 Oktober/November 2014 und Joachim Hiller
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #114 Juni/Juli 2014 und Joachim Hiller