In Ox-Ausgabe 137 orakelte ich herum, dass INK BOMB nach zwei guten EPs sicherlich auch auf Albumlänge gut funktionieren können. Gut 15 Monate später treten die vier Niederländer*innen den Beweis dafür an. „Fiction“ heißt das selbstproduzierte Debüt, das zwei Handvoll eingängige, aber sehr eigenständige wie eigenwillige Skatepunk-Nummern liefert. Angenehm in einem Genre, das sich trotz eines kleinen Revivals in den letzten Jahren immer schnell mit Abnutzungserscheinungen auseinanderzusetzen hat. Sänger Joost erläutert mir, was sich seiner Meinung nach hinter dem Begriff Fiktion verbirgt.
Fiktion bedeutet für mich Sehnsucht nach Veränderung. Inwiefern wolltet ihr euch als Band mit dem neuen Album verändern? Welche Veränderungen hast du in den letzten Jahren an dir selbst wahrgenommen?
Das Ganze hat verschiedene Hintergründe, der Titel kann auf unterschiedlichste Weise interpretiert werden. Die einfachste: Wir alle lesen gerne. Aber es geht auch komplexer: der Angriff auf die Wahrheit im 21. Jahrhundert, das Aufkommen gefälschter Nachrichten, die Macht des Internets, die Art und Weise sich zu informieren und zu desinformieren. „Fiction“ könnte der Kampf zwischen Meinung und Fakten, Glaube und Wissenschaft sein. Die von dir angesprochene Veränderung ist vielleicht nicht so sehr eine Sehnsucht, sondern eher eine Ungewissheit darüber, wohin uns der eingeschlagene Weg führt. Du wirst zum Beispiel auf diesem Album keine Songs finden, die vorgeben, die endgültige Antwort auf alle Probleme der Welt zu geben. Die Veränderung in mir selbst ist, dass ich vielleicht pessimistischer geworden bin, was die Art und Weise betrifft, wie sich die menschliche Rasse entwickelt. Wie können wir all diese großen Probleme der Welt bewältigen? Ich kenne keine endgültigen Antworten, aber ich hoffe, dass ich eine kleine Rolle bei dem Anstoß von Veränderungen spielen kann.
Welche dieser Veränderungen im politischen Bereich beschäftigen dich zur Zeit am meisten?
Auf jeden Fall der Aufstieg des nationalistischen Rechtspopulismus in ganz Europa und Amerika. In den Niederlanden haben wir es mit unseren eigenen rechtspopulistischen Fremdenhassern zu tun. Glücklicherweise haben sie nicht die Mehrheit in den demokratisch gewählten Gremien, aber das größere Problem ist, dass andere Parteien sich, um dem ,,Willen des Volkes“ zu entsprechen, einigen der Themen dieser neuen Populisten anpassen und sie zu ihrem eigenen machen. Darin liegt die größere Gefahr: dem Fehlen eines moralischen Rückgrats.
Wer ist in dieser Hinsicht geschichtlich für dich der größte Visionär, tot oder lebend?
Ich denke, dass der größte Visionär, wenn auch eher ein zeitgenössischer, für mich keine einzelne Person ist, sondern Verbindungen von Menschen, Bewegungen. Die Bewegung von Menschen aus allen möglichen Minderheiten – niederländische, radikale linke, politische Aktivisten, das LGBTQI-Movement, junge schwarze Frauen –, die ihr Stück vom Kuchen verlangen. Die mit dem historischen Status quo in vielen westlichen Ländern endgültig fertig sind. Die ihre Stimmen laut und deutlich hören lassen: Wir sind hier und repräsentieren eine andere Zukunft!
Fiktion kann auch Trugschluss bedeuten. Du bist Historiker. Meinst du, dass wir heute anfälliger für Fiktives sind als die Menschen in früheren Jahrhunderten? Kannst du Beispiele dafür nennen?
Ich glaube, dass ein Wesenszug der Menschheit ihre Fehlbarkeit ist. Das ist Teil der menschlichen Natur: Fehler machen und daraus lernen. Deshalb glaube ich nicht, dass wir wesentlich mehr oder weniger anfällig für Dummheiten sind als zuvor. Der Unterschied besteht in der Verbreitung von Informationen und Meinungen, zum Beispiel über das Internet. Früher haben wir unsere Informationen nur aus einer Handvoll Quellen bezogen. Seit der Druckmaschine hat die Verbreitung von Informationen einen großen Sprung gemacht. Mit der Erfindung des Internets und von Social Media hat das eine rasante Entwicklung hingelegt. Heutzutage ist die Vielzahl der Informationsströme vielleicht der Grund dafür, dass es schwieriger ist, wichtige Entscheidungen zu treffen. Wir können den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Außerdem stehen uns alle Nachrichten und Informationen binnen einer Mikrosekunde zur Verfügung. Daraus resultiert aber auch immer die Forderung nach schnellem Handeln und sofortiger Reaktion. Es geht weniger um Überlegungen und Nuancen. Auf diese Weise sind wir vielleicht dann doch anfälliger für Dummheiten als früher. Ein Beispiel dafür sind die Fehlinformationen, die über verschiedene Social-Media-Plattformen über alle vorstellbaren Themen verbreitet werden, vom Klimawandel bis zur Einwanderungsstatistik. Wenn du nur selektiv nach Beweisen für deine eigene Wahrheit suchst, kannst du sie immer finden.
Hast du eine fiktive Lieblingsfigur?
Ich selbst lese lieber Sachbücher, aber ich habe ein paar: der Big Friendly Giant aus dem Kinderbuch von Roald Dahl, Holden Caulfield aus „The Catcher in the Rye“, Superman. Was Filme betrifft, Bud Spencer und Terence Hill. Oh, und natürlich der Joker aus „Batman“, ich mag die von Cesar Romero und Jack Nicholson gespielten Versionen.
Jetzt haben wir viel über Veränderungen gesprochen. Was sollte deiner Meinung nach konstant bleiben?
Das Rezept für Kleddertjemaccheroni: Maccheroni kochen. Etwas Gemüsehackfleisch zusammen mit etwas gehackter Zwiebel mischen. Pfeffer, Salz, Paprikapulver und Currypulver hinzufügen. Mit reichlich Ketchup und geriebenem Käse servieren.
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