HYSTERESE

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Goth ist prima!

2018 kam das letzte Album der Band aus Tübingen, jetzt kommt – wieder auf This Charming Man, wieder ohne Titel – Album Nummer 4, bei dem sich doch etwas verändert hat: die Besetzung. Helen (gt, voc) und Moritz (gt, voc) erzählen, was sich getan hat.

Im Presseinfo zum neuen Album ist von einem Besetzungswechsel die Rede, ihr beide seid aber noch dabei. Was hat sich an und mit der Band verändert in der Zeit seit dem letzten Album?

Moritz: Seit dem letzten Album hat sich einiges verändert. Schon die Tour 2018 zum letzten Album lief für uns überraschend bewusst und klar ab. Jahrelang hatten wir in der Crew einen relativ kaputten Stil gepflegt. Wir haben alle begonnen, besser mit uns umzugehen, und das hat gutgetan. Unser letztes Konzert war vor etwa einem Jahr. Helen und ich haben dann das Album geschrieben und die Songs im Sommer und Herbst 2020 mit Kai und Jana arrangiert. Haug hatte erklärt, beim Album nicht mitmachen zu können. Jana ist eine sehr gute Gitarristin. Wahrscheinlich mit Abstand die beste der Band, spielt IRON MAIDEN-Songs und aufwändigen Metalcore. Sie hat sich den Bass erarbeitet, wie wir es uns besser und schneller nicht hätten wünschen können.

„Meltdown ist ein Duett im klassischen HYSTERESE-Stil (und damit das einzige auf dem Album)“, heißt es seitens des Labels über die vorab veröffentlichte Single. Was ist in der Tat mit der „Duett-Nummer“ passiert? Bei einem Song in der Art ist es mit „typisch“ ja nicht mehr weit her ...
Moritz: Bei älteren Songs fällt das den Leuten eben oft direkt als Besonderheit auf – die Kanon-Kaskaden aus unterschiedlichem, ineinander verschachteltem Text, oft mit divergierenden Melodieverläufen. Mit der Zeit wurden die Ideen in die Richtung weniger beziehungsweise uns wurden andere Elemente wichtiger. Wir haben nicht mehr versucht, dieses Stilmittel in den Vordergrund zu stellen, weil wir es für weniger notwendig halten. Und so findet sich auf dem vierten Album nur noch ein Song, der das Merkmal klar zeigt. Der jedoch macht das mit Bravour, denke ich.
Helen: Moritz ist besessen von Gitarren. Ich meine das wirklich so, wie ich es sage. Stunde um Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche denkt er an Gitarren und Amps und Effektgeräte und welche Kombination nun soundtechnisch die beste ist. Ich hingegen interessiere mich für Melodien. Sie schießen mir einfach durch den Kopf. Bisher hatte ich mir immer Gedanken darüber gemacht, wie das nun für uns beide gesanglich umsetzbar ist. Und Moritz musste dafür auf so manche Gitarrenidee verzichten. Bei diesem Album wollten wir uns mal auf das konzentrieren, was jeweils unsere besonderen Stärken sind. Entsprechend ergibt sich die Veränderung.

Leider erlebt man oft genug, dass Bands, die man gerne als langjährige Begleiter haben würde, nach ein, zwei Platten schon wieder die Segel streichen. Wie und wieso habt ihr durchgehalten? Und wie und wann ging das eigentlich los?
Moritz: Das ging los, als Helen und ich zusammen im Schulchor gesungen haben. Der Musiklehrer, Herr Hinger, war super engagiert und hat mit dem Chor jedes Jahr ein anderes Musical aufgeführt. Außerdem hat er eine Big Band geleitet und Helen hat oft die Soli gesungen. Helen hat dann bei RENT A GUN gesungen, einer Schweinerock-Band mit drei Gitarren. Ich war einer der Gitarristen und wir sind zusammengekommen. Seitdem machen wir Bands zusammen. HYSTERESE hat bisher am längsten gehalten. Ich sehe keinen Grund, warum es die Band nicht für immer geben sollte. Helen und ich, wir kennen uns sehr gut. Wenn wir Riffs, Melodiebögen und Verse bauen, läuft das immer leicht angespannt und konzentriert ab. Wir haben einen Weg gefunden, dabei sehr gut zusammenzuarbeiten, und das führt zu guten Songs, denke ich. Für dieses Album haben wir das Songwriting genau 50/50 aufgeteilt. Fünf Songs von Helen und fünf von mir. Das Ergebnis ist ein sehr rundes, ausgewogenes, fettes Album, wie ich finde. Ein weiterer Punkt, der für Langlebigkeit sorgt, könnte sein, dass wir vom Musikgeschmack her beide ziemlich breit aufgestellt sind. Wir hatten nie vor, mit HYSTERESE eine Genreband zu sein. Das hätte uns bestimmt schnell gelangweilt. Wir packen schon immer zusammen, was wir gut finden. Punkrock ist meistens das Grundgerüst. Dann habe ich vielleicht Lust, das mit einem Shoegaze-Element zu füllen, und Helen wiederum fällt eine R&B-Gesangslinie ein, die eine für Rockmusik komplett untypische Rhythmik hat, wie bei „Dead dog“ auf dem neuen Album zum Beispiel. Und am Ende wird ein prima HYSTERESE-Song draus. Wir lassen das meistens offen und orientieren uns hauptsächlich am Gefühl. So bleibt alles spannend und macht lange Spaß.
Helen: Ich hatte einfach so viele schöne Erlebnisse mit dieser Band. Wir durften in all den Jahren so viele wunderbare Menschen und Orte kennen lernen. Ich bin in dieser Zeit über mich hinausgewachsen. Es gab für mich nie einen Grund, das in den Wind zu schießen.

Als Band mit englischen Texten in einer international immer noch stark vernetzten Goth-Punk-Szene, habt ihr da auch irgendwo weit entfernt von Deutschland ein Standing entwickelt, Kontakte knüpfen können?
Moritz: Ich denke, wir sind für die Szene nicht direkt als Goth-Punk-Band erkennbar. Ich weise das Label nicht von mir, Goth finde ich prima! Ich denke nur, etwaige Goth-Affinitäten laufen, wenn überhaupt, im Privaten ab. Helen ist riesiger Beth Gibbons-Fan, soweit mir bekannt ist. Viel Düsteres in HYSTERESE kommt also aus der PORTISHEAD-Ecke, würde ich vermuten. Außerdem bin ich ein unverbesserlicher Fan von allem peinlichen, sleazy Rock und Metal, wo Kajal drunter passt. Die BACKYARD BABIES haben für immer einen Platz in meinem Herzen, die neue PARADISE LOST-Platte macht mir Gänsehaut und Blackie Lawless ist Gott. Ich muss an den Satanismus der CRUSADES oder das aktuelle Düster-Müster-Album der LILLINGTONS denken. Die beiden genannten sind Pop-Punk-Bands und als eine solche sehe ich HYSTERESE nicht. Trotzdem kommt hier ein Crossover zum Tragen, der für HYSTERESE total naheliegt: Wenn bei einer Punkrock-Band mit viel Melodie eher DEPECHE MODE-artige Gefühle aufkommen, als dass dir SCREECHING WEASEL in die Hose krabbeln, dann ist das zwar eher selten und dafür gibt es bestimmt einige soziologische Gründe, ich finde diesen Brückenschlag aber total naheliegend. Punk ist für mich düster. Ohne CHAOS Z würden HYSTERESE bestimmt anders klingen.

Apropos Goth-Punk, was ich jetzt mal so als Genre rausgehauen habe: Fühlt ihr euch da zu Hause und wie sieht eure entsprechende musikalische Sozialisation aus?
Moritz: Ich wurde durch und mit Schweinerock sozialisiert. Ich bin in der ultraknappen Bootcuthose meiner kleinen Schwester in die Schule gegangen. Cowboystiefel, riesige Gürtelschnalle und Harro-Leberkombi-Jacke. Alles, was schneller oder räudiger war, wie MOTÖRHEAD oder die STOOGES, kam mir nicht in die Tüte. So richtig DIY-Zecken-Punk habe ich erst als Zivi am Mischpult im Epplehaus kennen gelernt, dann auch viel Hardcore aller Couleur. Außerdem kriegt mich besonders melancholischer Powerpop oder besonders räudiger, garageiger Emo wie CLOUD NOTHINGS, oder ich würde auch MARKED MEN dazuzählen, eigentlich immer. Ich war mal kurz der letzte zweite Gitarrist von RIOT BRIGADE. Da habe ich viel Streetpunk mitgekriegt. Seit einigen Jahren höre ich außerdem viel Metal. Ich habe mir jetzt erst eine verdammt heiße Kutte fertiggemacht. In den letzten Jahren ist so viel irre guter Metal produziert worden. Die SUMERLANDS-Platte, überhaupt die Arthur Rizk-Bands, sind überragend. Und dann kamen da IDLE HANDS, jetzt UNTO OTHERS: Ich war als kleiner Knirps mit meinen Eltern bei HÉROES DEL SILENCIO auf dem Rock am See. „Entre dos tierras“ haut mich immer noch komplett weg. Wer hätte darauf gewettet, dass vier Jünglinge aus Portland dreißig Jahre später diesem Sound eine dermaßen geile Frischzellenkur verpassen! Aber ich höre nicht nur Rock. Auch Rap, R&B, Techno oder so Ambient-Geräusche. Eigentlich alles, was mir irgendwie intensiv, schön, glaubhaft und heftig vorkommt. Da fällt mir ein, ich habe zu spät angefangen: Vom Gefühl her war das erste mal Punk ohne E-Gitarre, nämlich bei Milena im Kinderzimmer. Sie hatte einen Rechner mit Internet und Napster. Da hat sie jede Menge Rap runtergeladen, bis eines Tages WESTBERLIN MASKULIN auftauchten. Der politisch komplett beschissene Jugendhaus-Battle-Rap und besonders die komplett verdrehte Durchheit von Rapper Taktloss hat für Lachsalven an der Bong gesorgt. Ab da war ich verdorben. Ab da war irgendwie klar: Wenn das geht, ist kaputt zu sein keine Schande, im Gegenteil, kaputt sein und Kunst, die mich interessiert, liegen nah beieinander. Mein bester Freund Stefan hatte immer Skatepunk am Start. Fand ich okay, war aber nie so ganz mein Ding. Erst mit der ersten HELLACOPTERS-CD ging’s so richtig los. TURBONEGRO waren nicht weit und damit war die Religion gefunden. Nach wie vor finde ich, die „Hot Cars“ ist die beste künstlerische Darstellung von so einem ganz besonderen, jugendlich bitteren Nihilismus. Ich finde, das schaffen auch Black-Metal-Bands nicht besser. So WIZO-Iro-Punk war mir damals maximal suspekt. Wieso sollte ich mir einen Lifestyle aneignen, den jede Bildzeitungsleserin inklusive meiner Oma als Jugendrebellion identifizieren kann? Mittlerweile kann ich das besser akzeptieren, aber als Schüler fand ich das total vorhersehbar und viel zu harmlos. Meine Mutter hätte sich gefreut, wenn ich ein kämpferischer Iro-Punki gewesen wäre. Ich wollte nicht, dass meine Mutter sich freut. Ich wollte, dass die Leute mich für einen Asi halten. Glücklicherweise ist das jetzt schon eine ganze Weile her. Im Nachhinein fällt mir auf, wie maximal anstrengend das alles war. Manche Szene-Leute Ü30 kommen mir so vor, als hätten die ihre Teenage Angst nie abwetzen können. Das tut mir dann irgendwie leid.
Helen: Es gibt von mir eine Kinderzeichnung, die habe ich, glaube ich, so mit grob sechs Jahren gemacht. Auf der stehe ich als Sängerin auf der Bühne mit meiner Band. Ich habe in meinem Zimmer gestanden und mir das vorgestellt, wie das wohl so ist, und habe stundenlang zu meinen aktuellen Lieblingsliedern mitgesungen. Mit Punk und Rock kam ich dabei bis ins Teenageralter hinein nur peripher über meinen Papa und meinen Bruder in Berührung. Musiktechnisch war ich maximal uncool geeicht, mein erstes Konzert war mit der KELLY FAMILY, ich hatte Poster von den SPICE GIRLS, EAST 17 und den BACKSTREET BOYS hängen, bis ich schließlich mit DESTINY’S CHILD, TLC und Missy Elliott ... in Richtung R&B und HipHop abgebogen bin. Dass ich mich schließlich einmal aus dem Kinderzimmer auf eine Bühne getraut habe, habe ich meinem alten Musiklehrer Herr Hinger zu verdanken. Der hat mich im Chor entdeckt und als Sängerin in die Big Band geholt. Und dann wurde ich irgendwann mal von Moritz angequatscht, ob ich nicht mal in der Band singen möchte. Und das habe ich gemacht und von da an ging es immer weiter. Obwohl ich davor nicht viel mit Punkrock zu tun hatte, war das dann urplötzlich genau richtig für mich. Da konnte man laut sein und wild und prollig und wurde dafür nicht sanktioniert. Der Einstieg war Skandi-Rock wie HELLACOPTERS, BACKYARD BABIES, GLUECIFER und TURBONEGRO. Mit der ganzen DIY-Welt bin ich erst in Tübingen im Epplehaus in Kontakt gekommen. Schon immer und bis heute höre ich querbeet, was mir reinläuft und gefällt, das muss absolut nicht einer bestimmten Szene oder einem Genre zuzuordnen sein.

Wie entstand das Album?
Moritz: Helen und ich haben den Hauptteil des Songwritings im Frühjahr und Sommer 2020, also schon während der Pandemie gemacht. Letzte Riffs sind im Urlaub in der Sächsischen Schweiz entstanden. Wir waren wieder bei Fabe Schaller im Studio. Er nimmt dabei eine eher Steve Albini-mäßige Rolle ein, das heißt er versucht, die Töne möglichst optimal einzufangen und abzumischen, während im Prinzip die komplette Produktion bei Helen und mir bleibt. Fabe ist ein super Toningenieur. Du kannst bei ihm voll Digi 5.1. Neumann-Surround aufnehmen oder komplett AAA über Studerpulte auf die Studer-24-Spur-Bandmaschine aufnehmen. Fabe ist eine Art Punkrock-Bürgermeister. Wenn du in Tübingen was mit Punkrock machst, ist es recht wahrscheinlich, über kurz oder lang etwas mit ihm zu tun zu haben. Er war früher bei TIDAL, dann war er mit Helen und mir bei EAT//READ//SLEEP. Das Master hat wieder Chris Bethge in Mannheim gemacht. Da stimmt einfach der Draht!

Wikipedia verrät mir: „Die Hysterese (von griech. Hystéresis „Fehlen, Mangel, Zurückbleiben“) bezeichnet in der Volkswirtschaftslehre die Reaktion auf externe Einflüsse, nach deren Abklingen ein System nicht mehr in seinen Ausgangszustand zurückkehrt. Dies bedeutet vereinfacht, die Ursache ist weggefallen, die Wirkung dauert dennoch weiter an. Der Begriff Hysterese ist aus der Physik und Kybernetik entlehnt und steht dort für die verzögerte Wirkungsänderung nach Änderung der Ursache.“ Sieh mal einer an!
Moritz: Haug hat den Begriff aus der Berufsschule mitgebracht. Er kam in Engelbert Strauss-Klamotten in die Probe und meinte: HYSTERESE, das ist ein geiles Wort, so müssen wir heißen. Alle haben ihm zugestimmt.

Eure Heimatstadt Tübingen war in der Corona-Krise immer wieder bundesweit in der Diskussion, zum einen wegen einer zumindest phasenweise smarten Teststrategie, zum anderen wegen eures eigenwilligen Bürgermeisters Boris Palmer.
Moritz: Zur Lokalpolitik können sich andere sicher versierter äußern. Für mich ist Tübingen ein Glückstreffer: Zwar relativ langweilig, weil provinziell und klein, aber eine super Homebase-Enklave. Den Leuten hier geht es vergleichsweise gut, wodurch eine eher harmlose Stimmung entsteht. Du kannst hier ohne Hose am Wochenende über die Neckarbrücke gehen und keiner haut dir aufs Maul. Das ist schon angenehm. Außerdem gibt es viele schöne Ecken. Wenn es um Punk in Tübingen geht, bin ich seit einigen Jahren nicht mehr so drin. Ich gehe einfach nicht mehr aus. Ich schaue mir Bands an, die ich sehen will, und gehe dann heim. Das ganze verlegene Rumgedrücke drumrum kann ich nicht brauchen. Punk kann hier ziemlich präsent sein: Ich bin Sozialarbeiter in der Südstadt. Wenn ich von einem Termin an der Steinlach entlang zurück ins Büro gehe, treffe ich nicht selten eine Gruppe Punks, wo ich jemanden kenne, mit dem ich in einer Band bin oder war oder den ich aus dem Kontext kenne. Da läuft dann französische Skinhead-Mucke und ich muss Bier ablehnen. Vielleicht fällt mir nicht so richtig auf, wie punk Tübingen ist, weil das hier eben normal ist. Allerdings: Helen und ich haben noch eine Punkband namens NØX. Synthie-Mann Martin kommt aus Ulm und Drummer Butz ist aus Ravensburg. Das ist beides nicht direkt um die Ecke. In Tübingen hätten wir uns schwergetan, Punkrock-Leute mit dem Format für die Positionen zu finden. Auf der anderen Seite habe ich recht frisch mit Kai eine Gossen-Metal-Band namens AUSGEBOMBT gemacht. Da sind Jo und Flo von BONGTHROWER dabei und das sind Tübinger. Die haben einen recht großen Punk-Freundeskreis. Wer den richtig deepen Tübinger Punk sucht, hält sich am besten an die.