HYSTERESE

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Dreimal selbstbetitelt hält besser

Es gibt sie noch, die musikalischen Hoffnungsschimmer in Baden-Württemberg in Gestalt der Punkband HYSTERESE. Mit der dritten, selbstbetitelten LP folgte Ende März auf This Charming Man eine weitere Platte mit melodisch-aggressivem Punkrock in bester WIPERS-Manier. Ein Gespräch mit Helen (gt, voc), Moritz (gt, voc) und Haug (bs, voc) über das Ländle und selbstbetitelte Platten – Schlagzeuger Kai war leider nicht dabei.

Eine kurze Vorstellungsrunde, bitte.
Helen:
Ich singe und spiele Gitarre. Ansonsten lebe ich zusammen mit Moritz hier in Tübingen und arbeite als Sozialpädagogin, wie das als Punkerin so üblich ist.
Moritz: Ich singe und spiele Gitarre und arbeite auch noch als Sozialarbeiter hier in Tübingen.
Haug: Ich spiele Bass und wohne gerade in Mannheim. Ich studiere natürlich Soziale Arbeit. Und Kai spielt Schlagzeug, wohnt in Stuttgart und macht beruflich irgendwas mit Computern, mehr hätte er bestimmt auch nicht gesagt.

Haug, du hast mit Erste Theke Tonträger und auch noch ein Plattenlabel und den Plattenladen Hinterhof Records, richtig?
Haug:
Genau. Erste Theke Tonträger startete mit der Veröffentlichung der DERBY DOLLS-LP, da die ewig rumlag, was ich scheiße fand. Dann folgte das HYSTERESE-Demotape und dann kamen recht schnell weitere Bands, bisher circa sechzig Releases in sechs Jahren. Deutsche Bands sind da gar nicht so viele dabei, eher aus den USA, Australien und Resteuropa. In Mannheim betreibe ich zusammen mit meinem Kumpel Rene, der auch das T-Shirt-Label „Wir sind die Toten“ macht, den Plattenladen Hinterhof Records. Ich habe jetzt noch drei Semester vor mir, mal schauen ob wir Label und Laden danach hauptberuflich weitermachen.
Moritz: Haug hat früher immer die erste Thekenschicht an der Bar gemacht, da bist du früh fertig und kannst dann saufen. Daher kam der Name.

Wie kam es zu HYSTERESE?
Haug:
Ich kannte Helen und Moritz noch von den DERBY DOLLS, ich habe die mal auf einer Tour gefahren. Da haben wir dann festgestellt, dass wir einen ziemlich ähnlichen Musikgeschmack haben und gründeten in Folge recht schnell eine Band, ohne großes Ziel oder so.
Moritz: Im Sommer 2009 müsste das gewesen sein.
Haug: Das erste Demotape auf Yakuzzi Tapes haben wir dann in einem besetzten Haus in Ulm aufgenommen. Es war arschkalt, in der Küche lag Schnee und nur ein Raum war beheizt, und Mäuse haben uns fast die gerade gekochten Nudeln weggefressen. Sehr authentisch! Das Winterfest in Tübingen war 2010 dann unser erster großer Gig.

In einem älteren Interview habe ich gelesen, dass die örtliche „Mini-Luxus-Bürger-Öko-Enklave“ Tübingen einen Sog ausüben kann. Wie steht’s da heute drum?
Moritz:
In Tübingen sind nur Helen und ich übrig geblieben. Wir haben momentan Jobs, die cool und relaxt sind. Tübingen heißt für uns konkret, entspannt leben zu können.
Haug: Kai hat früher in der Schweiz gewohnt. Schade eigentlich, dass er nicht da ist, er könnte bestimmt einiges erzählen, haha. Ich bin vor zwei Jahren zwecks Studium nach Mannheim gezogen und ja, Tübingen war mir dann auch etwas klein. Wenn ich nach Tübingen fahre, dann eigentlich auch nur, um mit Helen und Moritz rumzuhängen und zu proben. Die „Mini-Luxus-Bürger-Öko-Enklave“ ist aber geblieben.

Was geht subkulturell so in Tübingen?
Moritz:
Nach wie vor gibt es hier noch die Wohnprojekte, die den Kulturbetrieb sehr bereichern. Im Schelling, in der Münze 13 und anderen finden in den Hausbars laufend Konzerte statt, von Garage über Hardcore-Punk und Metal ist alles dabei. Nach wie vor ist das Epplehaus im Stadtzentrum eine Instanz im städtischen Konzertbetrieb. Im selbstverwalteten Jugendhaus hängt das Booking stark von der Zusammensetzung des Veranstaltungsplenums ab, mal gibt’s mehr Techno, mal mehr Gitarrenmusik, bestimmt auch eine Generationsfrage. Die große Zeit der Underground-Gitarrenmusik scheint dort aber vorbei zu sein.

Und insgesamt in Baden-Württemberg? Schnell fällt da der Name Stuttgart als Wiege der Post-Punk-Renaissance ...
Helen:
Auch hier könnte Kai als Stuttgarter bestimmt wieder viel erzählen, haha. Ich bin nur gelegentlich in Stuttgart unterwegs. Eine Zeit lang ging da viel, zeitweise gab es dann wieder mehr engagierte VeranstalterInnen in Tübingen. Es gibt noch die Alte Polizeiwache in Stuttgart, eine WG, die in ihrem Keller vereinzelt Konzerte veranstaltet. Ansonsten bleiben die professionellen Läden ...
Haug: Stuttgart hat sich tot-gentrifiziert. Alles, was irgendwie subkulturelle Substanz und Potenzial hatte, wurde klein gemacht. Es bleiben „coole“ Clubs mit Türsteher*innen und hohen Preisen – für unsere Szene also recht schlechte Bedingungen. Bands wie KARIES, DIE NERVEN und HUMAN ABFALL sind auch eher in der Esslinger Szene und dem Komma verwurzelt. Darüber hinaus gibt’s noch EMPOWERMENT, aber das war’s dann auch. In Mannheim fühle ich mich besser aufgehoben.
Moritz: Der etwas „dickere“ Bollo-Hardcore ist in Stuttgart gut vertreten. Ebenso Garage und Rock’n’Roll, das spielt sich aber eher in entsprechenden Bars ab.
Helen: Interessant ist das Projekt Contain’t, ehemalige Bahnwaggons und alte Container, wo Konzerte und Kulturgeschichten stattfinden.
Moritz: Jogges von EMPOWERMENT hat im Jugendzentrum Hallschlag privat Veranstaltungen aufgezogen, zumindest ein- bis zweimal im Jahr. Das sind definitiv Lichtblicke.

Von Search For Fame über Taken By Surprise und Sabotage Records seid ihr nun auf This Charming Man gelandet ...
Haug:
Das ist einfach passiert.
Moritz: Wenn da jemand was zu sagen kann, dann Haug ...
Helen: ... denn der ist Manager und Organisator bei uns.
Haug: Es ist einfach passiert und jetzt ist es so – da gibt’s nicht viel zu erzählen.

Ihr habt bisher, einschließlich der neuen Platte, nur selbstbetitelte LPs veröffentlicht. Warum?
Moritz:
Mit HYSTERESE versuchen wir die Dinge immer relativ simpel zu halten, das hat sich einfach bewährt. Deswegen lassen wir auch die Albentitel weg – zehn Punkrock-Songs und kein Schnickschnack.
Haug: Wir machen es den Leuten beim Kauf unserer Platten auch echt nicht leicht, haha.

Warum nicht direkt auf Instrumentalstücke reduzieren?
Moritz:
Das ist nicht verkopft gemeint und auch kein künstlerischer Gedanke, der uns vorschwebt. Das beschreibt eher unser Arbeitsprinzip.

Wie sieht das in der Praxis aus, wie entsteht ein Song?
Haug:
Ich bringe immer alles fertig mit.
Moritz: Haha, Haug lügt. Meistens bringen Helen oder ich ein Riff, dann bauen wir das zusammen und gucken, welche Vocals dazu passen. Helen arrangiert die Stimmen im HYSTERESE-Stil mit den Kanon-Effekten und sagt mir, was ich singen soll.
Haug: Eigentlich ist es so, dass alles, was Moritz anbringt, komplett von Helen entschlackt wird. Dann bekomme ich meine Anweisungen oder mache auch mal, was ich will. Die Gesangsparts nehmen meist etwas mehr Zeit in Anspruch.

Also, Helen ist schon die Institution in der Entstehung eines HYSTERESE-Songs?
Helen:
Ja, stimmt.
Haug: Helen ist definitiv die letzte Hürde, die unsere Songs nehmen müssen.
Moritz: Ja, und Helen bringt auch in der Regel die komplizierten und abgefahrenen Gesangsparts. Also unser Melodieverständnis besteht schon aus 80% Helen.

Was macht dann einen Song aus?
Helen:
Kann ich gar nicht so genau sagen.
Haug: Weniger ist mehr! Eher andersrum rangehen. Eher nach Bauchgefühl entscheiden, was passt. Dann bleibt halt das übrig, was sich nach HYSTERESE anfühlt.
Moritz: Ein Ding bei uns ist definitiv diese Grunddynamik, etwas Hektisches.
Helen: Bei den Gesangsmelodien achte ich schon darauf, dass wir nicht das typische Gesangsschema „Ich spiel ’ne Akkordfolge und singe was drüber“ bedienen. Der Gesang soll sich bei uns eigenständig im Song bewegen und damit durchaus irritieren.
Moritz: Und das ist einfach super knifflig. ZuhörerInnen werden das vielleicht nicht direkt erkennen. Aber nimm zum Beispiel mal einen BAD RELIGION-Song und achte darauf, wie nah die Gesangslinie am Riff ist – die sind meist fast identisch. Das versuchen wir zu vermeiden.
Helen: Wir arbeiten auch viel mit eigenständigen Gesangslinien, die nebeneinander herlaufen – das ist auch eher ungewöhnlich und bezeichnend für unsere Songs, würde ich mal behaupten.
Haug: Manche Dinge lassen sich einfach nicht erklären. Außer vielleicht von Kai, haha.