Es ist der 23. Dezember und ich darf fürs Ox mit Craig Finn das erste Interview überhaupt über das neue THE HOLD STEADY-Album „Open Door Policy“ führen. Wir sind auf Zoom verabredet, Craig sitzt in seinem Apartment in New York und hat seinen dritten Pott Kaffee in der Hand. Normalerweise wäre er um diese Jahreszeit schon längst bei seiner Familie in Minneapolis. Doch auch diese Pläne hat Corona zerschlagen. Immerhin, die Freude, über ein neues Album zu sprechen, ist ihm anzusehen, seine Augen leuchten bei einigen Fragen, er grinst, gestikuliert und ist auskunftsfreudig, oftmals muss ich gar keine Frage stellen, sondern ein Stichwort reicht und Craigs Gedanken sprudeln aus ihm raus.
Religion spielt eine große Rolle in deinen Texten, auch auf „Open Door Policy“ kommt diese Thematik vor. Aber wie wichtig ist dir in diesem Zusammenhang Weihnachten?
Weihnachten ist mir nicht so wichtig. Ich erzähle dir mal, was ich daran mag, ich liebe nämlich New York im Dezember, die Menschen, die Dekorationen, es ist eine sehr romantische Zeit. Aber Geschenke kaufen stresst mich und meistens fällt mir sowieso nichts ein. Womit ich Weihnachten allerdings am meisten verbinde, sind die „Massive Nights“-Konzerte, die wir jedes Jahr im Brooklyn Bowl spielen. Das ist für mich der schönste Teil der Vorweihnachtszeit, mit Freunden rumhängen, trinken, Musik und so weiter. An Weihnachten selber geht es dann nur noch ums Schenken und Kommerz. Da gefällt mir Thanksgiving schon besser, einfach nur essen und trinken. Das entspricht meinem Naturell.
Du hast gerade die „Massive Nights“ erwähnt, die dieses Jahr Corona-bedingt etwas anders aussahen als üblich. Wie habt ihr es geschafft, mit der Band auf der Bühne zu stehen und Live-Energie zu erzeugen, ohne ein Publikum vor euch zu haben?
Dazu muss ich zwei Sachen sagen. Zunächst einmal fand ich es wirklich toll, wieder Musik mit den Jungs von der Band zu machen. Wir leben zwar fast alle nahe beieinander, aber trotzdem hatte ich sie seit Wochen nicht gesehen. Als wir die Amps in den Club brachten, die Gitarren einstöpselten und ein lautes Schlagzeug hörten, verselbstständigte sich eigentlich schon fast alles. Außerdem hatten wir Monitore im Club angebracht und wir konnten die Fans in ihrem Zuhause sehen. Das fühlte sich sehr gut an. Die Community machte schon immer einen großen Teil von THE HOLD STEADY aus. Menschen ausflippen, trinken oder Schilder hochhalten zu sehen, von überall auf der Welt. Ein Typ hielt ein Schild, auf dem „Italy 4am“ stand. Da steht jemand um vier Uhr morgens auf, um uns spielen zu sehen. Das hat bei uns auch in einem eigentlich leeren Raum Energie freigesetzt.
Anfangs fühlte es sich auch komisch an, gegen einen Fernseher zu brüllen, aber nach ein paar Bieren ging es. Aber das Wichtigste ist, am nächsten Tag fühlte es sich an, als ob ich auf einer richtigen Show gewesen wäre, mit dieser tiefen inneren Zufriedenheit.
Das ist toll. Wir wollten, dass Menschen sich selbst in diesem Jahr daran festhalten konnten, dass am ersten Dezemberwochenende „Massive Nights“ stattfindet. Etwas Stabilität erzeugen. Ich denke, das war wichtig und ist uns gelungen.
Ich fand’s jedenfalls toll. Aber lass uns über das neue Album sprechen. Mein erster Eindruck war, es ist das HOLD STEADY-Album, das am dichtesten an dein Solowerk herankommt. Wie siehst du das?
Das will ich nicht bestreiten, wahrscheinlich stimmt das. Josh Kaufman, der Produzent, und ich haben meine letzten drei Alben zusammen gemacht. Die Texte auf einem HOLD STEADY-Album sind immer noch etwas breiter angelegt. Die Themen auf meinen Soloalben sind meistens sehr fokussiert und behandeln individuelle Probleme, Charakterstudien, wenn du so willst. Das ist bei HOLD STEADY anders.
Es gibt auch mehr musikalische Experimente und Sounds, die vielleicht nicht sofort mit THE HOLD STEADY in Verbindung gebracht werden.
Ja, es gibt viele Kleinigkeiten auf „Open Door Policy“ und wahrscheinlich ist es das abwechslungsreichste HOLD STEADY-Album bislang.
Habt ihr deswegen den sehr ruhigen Song „The feelers“ als Opener ausgesucht?
Darüber habe ich tatsächlich lange nachgedacht. Ich fand, wir sollten uns dieses Mal mit einem ruhigen Intro langsam anschleichen. Aber wenn die Gitarre einsteigt, fühlt es sich für mich immer an, als ob sich ein Vorhang hebt, irgendwie cineastisch. Als wir das Album gemacht haben, wusste ich allerdings noch nicht, dass dieses Lied der Opener wird. Das Stück ist sehr dramatisch, wie die Eröffnungsszene eines Films. Ein Film erschlägt dich ja nicht sofort, sondern fängt normalerweise langsam an und zieht dich in seinen Bann. Das war die Idee dahinter.
Mein erster Gedanke war, wenn die Gitarren reinkommen, ändert sich die Szenerie oder die Geschichte wird aus einer anderen Sicht erzählt.
Das ist eine gute Beschreibung dafür, ja.
Außerdem spielt das Klavier eine wichtige Rolle, nicht nur bei „The feelers“, sondern auf dem ganzen Album. Jedenfalls eine wichtigere als auf dem letzten Album „Thrashing Thru The Passion“.
Bei „The feelers“ war es so, dass Franz die Musik geschrieben hat und ich den Text dazu verfasst habe. Er und Josh Kaufman haben sich wirklich gut verstanden. Wir spielen nun schon eine Weile als sechsköpfige Band zusammen und haben so langsam den Dreh raus, wie wir klingen wollen. Jeder hat seinen Platz gefunden. Auch die Bläser. Es fühlt sich damit immer wie eine Party an.
Lass uns noch einen Moment bei „The feelers“ bleiben. Ich bin immer fasziniert davon, wie du Texte schreibst. Einerseits versuchst du, Gefühle mit Wörtern wie „kind of“ oder „sort of“ zu relativieren. Andererseits beschreibst du Gegenstände oder Orte sehr präzise, gehst allerdings auch nicht zu sehr ins Detail.
Da sind wir wieder bei Filmen. Manches muss einfach unklar und verschwommen bleiben, dann zoomt die Kamera rein und anderes wird deutlich. Ich mag es, Geschichten so zu erzählen. Indem kleine Details ausgesucht und beschrieben werden, werden die Hörer in die Geschichte reingezogen und verstehen, wo sie sich gerade befinden.
Und das ist dein Ziel, etwas im Unklaren zu lassen?
Ja, ich meine, klar, unklar, wieder klar und dann noch mal unklar. Erst verschwommen und dann fokussiert.
Dabei behandelst du in den Texten sehr düstere Themen, Depressionen, Psychosen, Selbstmordversuche. Andererseits sind THE HOLD STEADY aber eine sehr euphorische Band, auch stellenweise auf „Open Door Policy“ – wie passt das für dich zusammen?
Wir haben das Album überwiegend 2019 geschrieben und aufgenommen. Für mich war es ein hartes Jahr, politisch. Die Frage war, wie beeinflusst das die geistige Gesundheit von Menschen, wenn sie jeden Tag ums Überleben kämpfen. Anfang 2020 waren wir eigentlich mit allem fertig. Und dann stellten wir fest, dass dieses Jahr noch schlimmer wird. Nun kommt das Album ein Jahr später im Februar 2021 raus. Ein bisschen haben wir die Befürchtung, dass niemand mehr etwas über unsere Themen hören möchte. Aber ich finde es wichtig, über diese Dinge zu reden. Wenn du zusammen mit anderen Menschen auf einem Konzert einen traurigen Song singst, wirst du feststellen, dass jeder von uns irgendwann in seinem Leben mal traurig ist oder sich depressiv fühlt. Wenn wir das zusammen machen, stellen wir vielleicht fest, dass es menschlich und okay ist, sich schwach zu fühlen. Es ist ein düsteres Album, darum wollte ich unbedingt „Open Door Policy“ als Titel verwenden, als positiven Aspekt. Als Zeichen dafür, gegen die Dunkelheit anzukämpfen. So ist es immer bei THE HOLD STEADY: düstere Texte, aber erhellende oder aufbauende Musik.
Ein sehr schöner Gedanke. Ich hatte leider nur eine Woche, um das Album vor diesem Termin zu hören. Manchmal denke ich, es wäre besser, Interviews zu einer neuen Platte erst nach sechs Monaten oder so zu führen. Wie siehst du das?
Ja und nein. Es gibt Sachen, die sind einfach nach einer gewissen Zeit gesagt und wiederholen sich dann. Manchmal hilft Distanz aber tatsächlich. Ich habe ein paar Interviews zu der Wiederveröffentlichung von „Heaven Is Whenever“ geführt. Ich hatte mir die Songs in den letzten zehn Jahren kaum angehört. Darum war es interessant, noch mal zurückzublicken. Manche Dinge in den Songs hatte ich bereits vergessen. Bei „Boys And Girls In America“ von 2006 wäre das was anderes, wir spielen fast alle Songs noch immer live, die Lieder sind präsent, da gibt es nicht mehr so viel zu entdecken. Zeit spielt aber eine wichtige Rolle bei Musik. Alle meine Lieblingsalben sind mit mir gewachsen. Emotionen und Erinnerungen sind ein Teil, den Musik ausmacht. Mit den Platten, die uns am meisten bedeuten, verbinden wir etwas, Freundschaften, einen Urlaub oder sonst was. So ist es jedenfalls bei mir. Ich liebe noch immer die BEASTIE BOYS, weil ich die mit Freunden auf Partys gehört habe, als wir auf dem College waren. Es ist praktisch unmöglich, dieselbe Beziehung zu einem neuen Album aufzubauen. Darüber zu reden ist nicht besser oder schlechter, sondern einfach etwas ganz anderes.
Für „Open Door Policy“ habe ich die Theorie aufgestellt, dass die Lieder zumindest teilweise untereinander verbunden sind.
Jedenfalls war es unser Ziel, ein richtiges Album zu machen. Bei „Trashing Thru The Passion“ haben wir Songs geschrieben und dann ein Album daraus gemacht. Dieses Mal hatten wir eine andere Vorstellung. Ich würde nicht sagen, es gibt unbedingt eine durchgehende Geschichte, aber die Lieder gehören zusammen, sprechen zueinander und unterstützen sich. Sie existieren in einer eigenen Welt, die vielleicht an frühere Alben erinnert. Aber wie kommst du zu deiner Theorie?
Es geht eigentlich schon mit „The feelers“ los, da schreibst du „Each daybreak there is a new parade“. Und im nächsten Song „Spices“ greifst du das wieder auf: „In the morning we watch the parade.“ So fing es an und dann ist mir noch mehr aufgefallen, es kommen viele Ärzte und eine Krankenschwester auf dem Album vor, Computer werden mehrmals erwähnt und Kameralinsen. Ist es komisch oder lachst du gar darüber, wenn du mit solchen Interpretationen konfrontierst wirst?
Nein, lachen tue ich darüber nicht. Ich bin selber Musikfan. Als ich jünger war, ging es mir ja genauso. Kennst du von der Band THE VAPORS den Song „Turning Japanese“? Sie hatten zwei Alben, klangen ein wenig wie THE JAM. Ich liebte ihre Alben, aber es gab da ein paar englische Begriffe und Beschreibungen darauf, die ich überhaupt nicht kannte. Es gab noch kein Internet. Ich wusste einfach, es gibt in der Musik etwas, das es rauszufinden gilt. Es war zum Verrücktwerden, welcher Song verbindet sich mit dem nächsten, all solche Sachen. Als ich anfing, eigene Songs zu schreiben, wollte ich das auch so machen. Die Leute sollen in die Lieder eintauchen, als ob sie ein Buch lesen. Für mich ist es sehr schmeichelhaft, dass du dir Notizen machst und dem so viel Aufmerksamkeit widmest.
Es macht Spaß, aber es ist verdammt harte Arbeit, da Englisch nicht meine Muttersprache ist. Ich brauche Google und ein Wörterbuch, um alles zu verstehen. Aber wie hinderlich sind deine Texte dabei, mehr Menschen außerhalb von englischsprachigen Ländern zu erreichen?
Nun ja, wir haben nicht gerade großen Erfolg in diesen Ländern. Das scheint also wirklich eine Barriere für viele zu sein. Was mir aber auffällt, wer sich mit uns auseinandersetzt, der mag uns meistens sehr gerne. Das scheint der Deal zu sein. Wir werden niemals eine Top-40-Band werden. Aus verschiedenen Gründen, immerhin sind wir fast fünfzig Jahre alt und spielen Rockmusik. Aber die Menschen, die uns mögen, sind sehr leidenschaftlich bei der Sache. Das ist toll für uns.
Noch eine letzte Frage: Was war dein Lieblingsalbum 2020?
Puh. Ich versuche mich zu erinnern, was ich am meisten mochte. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht und wahrscheinlich werde ich meine Antwort bereuen, sobald ich aufgelegt habe. Kennst du DEHD? Das Album heißt „Flower Of Devotion“. Ich habe sicherlich etwas vergessen, aber das mochte ich wirklich sehr.
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